Else Ury
Lotte Naseweis und andere Schulmädelgeschichten
Else Ury

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Fräulein Professor

In das stille Zimmer mit den blitzblanken altväterischen Mahagonimöbeln flirrte die Mittagssonne. Sie huschte über den großen Schreibtisch und malte wie ein unnützer Junge goldene Schnörkel auf die gelehrten Folianten und Schriften, die dort aufgestapelt lagen. Schließlich tanzte der Übermut sogar dem alten Herrn Professor Niman ohne jegliche Rücksichtnahme auf der Nase herum. Der hob den weißhaarigen Kopf von seinem griechischen Buche und machte: »Hatschi – hatschi.« Dann holte er umständlich seine silberne Tabaksdose hervor und nahm zierlich zwischen Daumen und Zeigefinger ein Prischen.

Mit einem Male schien es noch heller und sonniger in dem alten Gelehrtenstübchen zu werden. Eine frische jugendliche Stimme klang vom Korridor herein: »Großväterchen, ich habe den besten Aufsatz – eine glatte eins – und im heutigen französischen Extemporale weiß ich bis jetzt noch keinen halben Fehler!«

Da wurde auch schon die Tür aufgestoßen, und ein blondes Mädel, die schwarze Büchermappe unter dem Arm, den Hut schief auf dem Kopf, trat herein, ließ aber die Tür hinter sich weit offen.

Großvaters runzliges Gesicht wetteiferte jetzt mit der lieben Sonne draußen. Ja, seiner jungen Enkelin schien es, als ob ein noch viel wärmeres Leuchten von den lieben alten Zügen ausginge.

Gerade wollte sich Ruth einen der geschweiften hochbeinigen Stühle heranziehen, und wie alltäglich die Schulerlebnisse mit ihrem besten Freunde durchsprechen, da rief aus der Küche die Mutter: »Ruth, decke doch flink mal den Tisch, Kind! Dann kannst du auch mir hier draußen noch etwas helfen; Marie ist bei der Wäsche.«

Richtig, heute war ja Waschtag! Daran hatte Ruth gar nicht mehr gedacht, sonst hätte sie sich mehr beeilt, nach Hause zu kommen. Sie warf Hut und Mappe irgendwo hin, mitten hinein in die peinliche Ordnung des Stübchens und eilte mit einem vertröstenden »nachher, Großväterchen!« zur Mutter hinaus.

Die stand am Herd und legte die letzte Hand an das Mittagessen.

»Hast du auch den Zimt zum Milchreis nicht mitzubringen vergessen, Ruth?« wandte sie sich zu der geschäftig Teller und Gläser aufstellenden Tochter.

»Bewahre, Mutter! Heute liefere ich dir den Beweis, daß mein Gedächtnis kein Sieb ist, wie du immer sagst. Na, wo habe ich denn die Tüte hingesteckt?«

Sie begann alles mögliche aus ihrer Kleidertasche hervorzuziehen; ein Paar Handschuhe, drei Taschentücher, einen Radiergummi, einen Fingerhut, einen Bindfaden und ein Badepüppchen der kleinen Schwester. Die Zimttüte war nicht dabei.

»Ich werde sie in die Mappe getan haben.«

Spornstreichs ging es zu Großvaters Stube zurück, und hier begann jetzt ein wüstes Auskramen und Umherstreuen der Schulbücher. Kopfschüttelnd sah der alte Herr zu.

»Ruth, weißt du, was Wandalismus ist?«

»Jawohl, Wandalismus ist die Zerstörungswut, mit der das Volk der Wandalen unter König Geiserich im Jahre 455 in Rom gehaust hat«, kam die Antwort glatt heruntergeschnurrt. »Großväterchen, ich räume nachher alles wieder auf«, setzte sie aber schnell hinzu, als sie den sprechenden Blick gewahrte, mit dem der Großvater sein zerstörtes Ordnungsreich überflog.

Was wollte sie denn eigentlich? Was suchte sie denn überhaupt hier? Hing es irgendwie mit den Wandalen zusammen? Nein – – –

»Ruth, wo bleibt der Zimt?« ertönte es aus der Küche in die Überlegungen des zerstreuten Fräuleins hinein.

Ach ja, der Zimt! Den mußte sie doch wohl beim Kaufmann drüben haben liegen lassen; anders konnte es nicht sein. Geschwind den Hut aufgestülpt und die drei Treppen hinunter! Das gab wieder eine Strafpredigt wegen ihrer zerfahrenen Gedanken!

In der Materialwarenhandlung war keine Tüte gefunden worden. Ruth mußte sich dazu bequemen, den Einkauf noch einmal zu machen, diesmal natürlich aus eigenen Mitteln.

»Mädel, es ist nur gut, daß dein Kopf angewachsen ist, sonst würdest du auch den sicher eines schönen Tages verlegen«, empfing die Mutter sie vorwurfsvoll. »Schau, was da oben auf dem Bratofen liegt!«

Eine kleine weiße Tüte prangte dort, eine Zwillingsschwester von der, die Ruth in der Hand hielt. Aber wie sie da hingekommen war, das blieb dem jungen Mädchen ein Rätsel.

»Wahrscheinlich hast du sie in Gedanken dort abgelegt. Den Schaden mußt du selber tragen. Du wirst nicht eher von deinem Fehler geheilt, als bis du vielleicht einmal ein teures Lehrgeld gezahlt hast.«

»Mütterchen, nicht böse sein! Ich kann doch nicht dafür, daß ich Professorenblut in mir habe.« Ruth machte ein drollig zerknirschtes Gesicht.

»Was, jetzt soll gar unser Großvater schuld an deiner Zerstreutheit sein? Na, nun mach aber, daß du weiterkommst, Mädel! Und daß nichts auf dem Tisch fehlt, hörst du . . .«

Der Milchreis dampfte auf dem Familientisch. Um ihn hatten sich die Hungrigen eingefunden. Teilweise waren es sogar sehr hungrige, denn Knabenmagen zwischen zwölf und siebzehn Jahren zeigen um Mittag stets eine geradezu bewunderungswürdige Leere.

Obenan saß Großväterchen, ihm zur Seite seine Tochter, die frühverwitwete Frau Doktor Klein. Großpapa zur Linken hatte natürlich Ruth, der erklärte Liebling, ihren Platz. Ihr schloß sich Nesthäkchen, die achtjährige Marianne, an, während Bruder Edmund, der lange Primaner, am anderen Tischende unter den vier Pensionären der Mutter den Vorsitz führte.

»Ruth, soll ich den Reis etwa mit der Suppenkelle auffüllen?« Halb neckend, halb ernsthaft fragte es die Mutter.

Unter allgemeinem Lachen sprang das gedankenlose Töchterchen auf, vertauschte die Suppenkelle mit dem Vorlegelöffel und sammelte die sorgsam zu jedem Besteck gelegten Suppenlöffel ein.

»Fräulein Professor,« neckte Edmund, als sie zu seinem Platz kam, und »Fräulein Professor«, echote es von den Lippen der frechdachsigen Tertianer und Quartaner, die eifrig bemüht waren, sich den langen Edmund in allem zum Muster zu nehmen.

Ruth drohte ihnen nur. Sie hatte ein fröhliches Gemüt, und wenn die anderen sich über die in ihrer Zerstreutheit vollführten Stückchen freuten, lachte sie als erste mit.

»Großvater, weißt du, was das Mädel heute gesagt hat?« wandte sich Frau Doktor Klein an den Vater. »Das Professorenblut in ihr sei schuld an all der Zerstreutheit! Na, diesmal hältst du ihr hoffentlich nicht die Stange. Ich habe auch Professorenblut in mir und weiß meine Gedanken trotzdem zu ordnen. Und du, Väterchen?« – – –

»Führe den Großvater nicht als Beispiel an, Mutter! Großvater hat gestern fast eine halbe Stunde lang seine Brille gesucht, und schließlich – hatte er sie auf«, rief Edmund ausgelassen.

Großvater stimmte in das allgemeine Gelächter ein.

»Wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen, was, Ruth?« Der greise Herr schob seinen Arm unter den seiner jungen Enkelin.

»Du bist ein Siebziger, Väterchen, der Kiekindiewelt aber ist noch nicht mal vierzehnjährig. Was bei dir ohne weiteres entschuldbar ist, darf noch lange nicht für das junge Ding maßgebend sein«, ereiferte sich die Mutter.

»Ruth hat heute den besten Aufsatz in der Schule geschrieben«, lenkte der gütige alte Herr ab, der sah, daß die mütterlichen Vorwürfe seinem Herzblatt doch nahegingen.

»Ja, warum kann sie denn in der Schule ihre Gedanken zusammenhalten? Da vergißt sie nichts; da klagt niemand über sie. Aber was sie in der Klasse vermag, muß ich auch für das Haus verlangen!«

Die Mutter sagte es immer noch ernst. Ruths liebem Wesen gegenüber aber hielt die mütterliche Strenge nicht lange stand. Nach Beendigung des Essens rückte das junge Mädchen ihr den Korbstuhl auf dem windenumrankten Balkon zurecht, der in die bescheidenen Hintergärten der Großstadthäuser hineinschaute, und drückte die von der Vormittagsarbeit Ermüdete in die Kissen mit zärtlichem: »Ruh dich jetzt ein bißchen aus; ich werde nach Mariannes Schularbeiten sehen.« Da schlang die Mutter den Arm um ihr Mädel. Ruths strahlende blaue Augen bettelten auch gar zu sehr, wieder gut zu sein, trotzdem der Mund kein Wort davon verlauten ließ.

»Sieh, Kind,« begann Frau Doktor Klein in liebevollem Ton, der stets in Ruths junger Seele die richtige Saite mitschwingen ließ, »du bist doch alt genug, um einzusehen, daß es niemand so gut mit dir meint, wie deine Mutter – gerade weil sie am meisten an dir tadelt! Ich will dich davor bewahren, daß das Leben dich erst von deinem Fehler heilt; denn das faßt härter zu als Mutterhände. Und dann, Ruth, du bist meine Große; du weißt es selbst schon, wie wir uns quälen und einschränken müssen, um durchzukommen. Du hast auch den besten Willen, mich zu unterstützen; aber damit allein ist es nicht getan. Durch dein zerfahrenes Wesen verursachst du mir mehr Arbeit, als daß du mir eine Hilfe bist, und Sorge machst du mir obendrein. Wie soll das erst werden, wenn du mal auf eigenen Füßen stehen mußt? Welche Pflichten kannst du wohl erfüllen, wenn du deine Gedanken nicht beherrschest?«

Ruth lehnte den Blondkopf gegen der Mutter frühgebleichtes Haar, damit sie es nicht sehen sollte, daß ihr die Augen voll Wasser standen.

»In der Schule bin ich immer die Erste. Wenn ich einen wissenschaftlichen Beruf ergreifen dürfte, wäre ich bestimmt mit allen meinen Gedanken dabei.«

»Für Luxusberufe haben wir kein Geld«, erwiderte die Mutter leise. »Du wirst darauf sehen müssen, möglichst bald etwas zum Hauswesen beisteuern zu können. Doch nun geh, Kind, und denke an das, was ich dir gesagt habe.«

Ruth küßte die Mutter auf die versorgte Stirn. Wirklich, sie hatte die besten Vorsätze, sich zu ändern. Marianne saß schon bei ihren Rechenexempeln. Als die große Schwester in das gemeinsame Zimmer trat, atmete die Kleine erleichtert auf. Niemand verstand es so gut, ihr etwas klarzumachen als Ruth. Dabei wurde diese nie unwirsch, wenn die Kleine irgend etwas schwer begriff, während Edmund immer gleich brummte: »Wie kann der Mensch nur so vernagelt sein!«

Als die Schwester das Rechenbuch mit dem Schreibheft vertauscht hatte, konnte auch Ruth sich an ihre Aufgaben setzen. Sie wollte früh fertig sein, um nach dem Kaffee mit Marianne spazieren zu gehen. Mutter war heute sicherlich durch den Waschtag ans Haus gefesselt.

Himmel, ihre Schulbücher! Die lagen ja noch in größter Unordnung in Großvaters Stübchen ausgestreut! Und jetzt hielt der alte Herr seinen Nachmittagsschlaf, da durfte er nicht gestört werden! Hätte sie nur eher daran gedacht! Sie war nun selbst ärgerlich auf ihre Gedankenlosigkeit.

Halt! Die englischen Verben konnte sie inzwischen lernen. Dieses Buch hatte sie heute nicht in der Schule gebraucht.

Gerade, als sie mit halblauter Stimme begann, wurde an die Tür geklopft. Ein dreizehnjähriger Knabe steckte bescheiden den braunen Kopf zur Tür herein.

»Na, Klaus, was hast du denn auf dem Herzen?« Die ungewohnte Bescheidenheit des ausgelassenen Tertianers machte einen verfänglichen Eindruck.

Klaus ließ seine sehnige Jungengestalt dem bereits im Zimmer befindlichen Kopf folgen.

»Du, Ruth,« sagte er und kratzte sich verlegen mit seinen Tintenfingern den Kopf, »Müller und ich haben vorhin ein bißchen geboxt – nur so aus Scherz – aber meine Schuljacke hat es für Ernst genommen; der Ärmel ist aufgeplatzt.«

»Na, und?« Ruth, die Helferin der Jungen in allen Nöten, wußte natürlich, was nun kommen sollte.

Klaus machte ein spitzbübisches Gesicht. »Ich möchte Frau Doktor nicht erst damit belästigen.«

»Und nicht erst eine Standrede anhören, weil ich schon wieder nicht Frieden gehalten habe«, vollendete das junge Mädchen lachend.

»Nicht wahr, Ruth, du machst es mir?« Der Junge zog hinter dem Rücken die verwundete Jacke hervor, deren Ärmel melancholisch herniederhing.

»Gib her, du Raufbold!« Ruth hatte den übermütigen Klaus von all den Jungen besonders gern.

Während er, die Hände in den Hosentaschen und ein Lied pfeifend, in das über dem Flur gelegene Arbeitszimmer zurücktrabte, holte Ruth Nadel und Zwirn hervor. Den Fingerhut fand sie natürlich nicht; der hatte die merkwürdige Eigenschaft, sich stets unsichtbar zu machen, wenn man ihn brauchte. Daß sie ihn vormittags aus dem Wirrwarr der Kleidertasche mit hervorgekramt hatte, war natürlich längst vergessen.

Ruth saß und stichelte. Dabei lernte sie ihre Verben, das ging ausgezeichnet, nur – daß eins dabei notgedrungen zu kurz kommen mußte. Konnte man es ihr verdenken, daß sie ihr Schulbuch mehr fesselte als Klaus' zerrissene Jacke? Sie lernte und lernte, nähte und nähte; kein Löchelchen ließ sie frei, weder in ihrem Gedächtnis, noch an dem ausgeplatzten Ärmel. Als das letzte unregelmäßige Verb verklungen war, hing Klaus' Schuljacke in geheiltem Zustande draußen am Riegel. Das Backfischchen aber teilte den Gummizucker, den der Junge ihm dankbar als Gegenleistung in die Hand drückte, getreulich mit dem Schwesterchen.

»Ruth« – der Professor, der sein Schläfchen beendet hatte, faßte die mit der umfangreichen Kaffeekanne an ihm vorbeilaufende Enkelin am Ohrläppchen – »ist die von mir ererbte Zerstreutheit etwa auch schuld an der greulichen Unordnung, die du in meinem Zimmer vollführt hast?«

»Ach, Großväterchen, das mit dem Professorenblut war doch nur ein Scherz von mir; aber die Bücher krame ich jetzt gleich zusammen.«

Beinahe wäre die Kaffeedecke in Gefahr gekommen, denn damit die Mutter nur ja nicht vor ihr des Großvaters Zimmer betreten sollte, hatte Ruth es beim Eingießen so eilig, daß sie nicht mehr genau unterscheiden konnte, was Ober- und Untertasse war. Erst Edmunds wohlgemeinte Warnung: »Achtung – Überschwemmung!« ließ sie behutsamer sein.

Aus dem Spaziergang mit Marianne konnte nun nichts werden. Ruth hatte noch viel zu arbeiten. Großväterchen – das Mädchen für alles, wie er sich lächelnd selbst nannte – mußte wieder mal einspringen und sich der Kleinen annehmen.

Ruth hatte einen offenen Kopf. Es war eine Freude, sie beim Arbeiten zu beobachten. Sie lernte mit soviel Eifer, daß die Schulaufgaben bald erledigt waren.

Aber das junge Mädchen machte noch nicht Schluß mit dem Lernen. Aus dem untersten Fach des Schrankes zog sie ein ziemlich zerlesenes Buch hervor. Es war eine vom Bruder abgelegte lateinische Grammatik, die Ruth nun öffnete.

Edmund war mit den vier Jungen schwimmen gegangen, die Mutter in der Wirtschaft beschäftigt; Ruth blieb ganz ungestört. Denn das lateinische Buch war ihr großes Geheimnis.

Das einzige, was sie vor ihrer Mutter hatte! Kein Mensch wußte darum; nur Großväterchen war eingeweiht. Der hatte sie eigentlich auf den Gedanken gebracht, sich die Anfangsgründe der lateinischen Sprache anzueignen, und dann selbst ihre ersten unsicheren Schritte auf dem unbekannten Sprachgebiet geleitet und gestützt.

Großvater galt als ein erfahrener Schulmann. Bis zu seiner Pensionierung vor drei Jahren war er einer der tüchtigsten Gymnasialprofessoren gewesen. Auch jetzt überwachte er noch die Arbeiten seines Enkels und der im Hause befindlichen Pensionäre. Dabei hatte der bewährte Lehrer nun die Entdeckung gemacht, daß kein einziger von all den Jungen, Edmund mit eingerechnet, solch leichtes Auffassungsvermögen besaß wie Ruth. Wie sie dem Großvater äußerlich glich – sie hatte dieselben strahlenden Blauaugen, die gleiche vorspringende Nase – so war sie ihm auch innerlich am ähnlichsten, was ihre Begabung für Sprachen anbelangte. Großväterchen hatte so seine Gedanken und Pläne mit seinem blonden Liebling.

Wenn die Mutter davon sprach, Ruth nach Ablauf der Schulzeit in ein kaufmännisches Institut zu geben, um sie Buchführung, Schreibmaschine und Stenographie erlernen zu lassen, dann schmunzelte er nur stillvergnügt in sich hinein. Aber er sagte kein Wort. Kommt Zeit, kommt Rat!

Jede Woche gab es eine Prüfung. Da stellte der Professor fest, was für Fortschritte Ruth in den verflossenen acht Tagen gemacht hatte. Fast immer übertraf sie seine Erwartungen.

Auch heute lernte und übersetzte das junge Mädchen mit brennenden Wangen. Morgen war wieder Examenstag bei Großväterchen; da durfte sie nicht schlecht abschneiden!

Schritte klangen vor der Tür. Gleich darauf betrat die Mutter das Zimmer. Ruth hatte gerade noch Zeit, ihr Buch in der Mappe verschwinden zu lassen, denn es sollte eine Überraschung für die Mutter werden.

»Fertig, Ruth?« Frau Doktor Klein trat dabei näher.

»Ja, Mutter! Kann ich dir noch etwas helfen?« Dienstbeflissen stand das Töchterchen auf.

»Freilich, es wäre mir lieb, wenn du mir Aufschnitt zum Abendbrot besorgen würdest. Nimm auch diesen Brief mit hinunter, und mach recht schnell, daß du mir beim Anrichten der Butterbrote noch zur Hand gehen kannst.«

Ruth bürstete sich das Haar, wusch die Hände und eilte davon. Das Fleischgeschäft war nicht weit; bald hatte sie ihren Einkauf erledigt. Als sie gerade wieder ins Haus wollte, bemerkte sie zum Glück, daß sie neben dem Päckchen, das den Aufschnitt enthielt, auch noch den Brief in der Hand trug. Sie machte hastig einen Schritt zurück und trat dabei jemand auf den Fuß. Der Betreffende ließ einen Wehlaut hören.

»Ach, entschuldigen Sie vielmals!« über und über errötend, wandte sich das Backfischchen zu dem Getretenen um.

Es war aber nur ein niedlicher goldbrauner Teckel, der seine Vorderpfote anklagend emporhielt und Ruth ungeachtet ihrer höflichen Entschuldigung feindselig anblaffte. In das Bellen mischte sich fünfstimmiges frisches Knabenlachen.

Mußte Edmund mit seinem Quartett auch gerade jetzt heimkehren! Das gab wieder eine endlose Neckerei wegen ihrer Zerstreutheit. Ruth machte, daß sie mit ihrem Brief davonkam.

Die letzten lateinischen Sätze, die sie vorhin gelesen hatte, spukten ihr noch im Kopfe herum. Ob sie den einen Satz richtig aufgefaßt hatte?

Klapp – der Briefkastendeckel schnappte.

Das gab Ruth einen Stich durchs Herz; es schlug plötzlich bis in den Hals hinauf. Das junge Mädchen aber stand mit entsetzten Augen vor dem leuchtend-blauen Postkasten und preßte angstvoll die rechte Hand in den schmalen Durchwurf. In der Linken hielt sie noch immer den Brief, der Aufschnitt – lag im Kasten. Fräulein Professor hatte über ihre lateinischen Gedanken beides miteinander verwechselt.

Himmlischer Vater, was machte sie denn nun bloß? Den Aufschnitt konnte sie schließlich neu erstehen, obgleich das immerhin einen tüchtigen Riß für ihre schmal zugemessene Barschaft bedeutete. Aber wenn sie vielleicht Strafe dafür bezahlen mußte, daß sie ungehörige Dinge in den Briefkasten geworfen hatte? Wenn man sie am Ende zur Rechenschaft zog, weil wichtige Schreiben durch das fette Päckchen verdorben waren?

Ruth riß und zerrte an dem Spalt des Briefkastens. Aber der gab das einmal Verschluckte nicht wieder heraus.

Abholung erst in einer halben Stunde! So lange konnte sie doch unmöglich hier stehen und auf den Briefträger warten. Der schleppte sie auch am Ende gleich mit zur Oberpostbehörde, wo man sie dann in Strafe nahm! Und daheim wartete die Mutter auf den Aufschnitt und auf die Hilfe der Tochter! Nein, sie konnte nicht länger hier stehen; sie mußte nach Haus, wurde daraus, was wollte.

Der Aufschnitt war bald wieder ersetzt und der Mutter Brief dann richtig einem anderen blauen Ungetüm in den Rachen geworfen. An den ersten Kasten traute sie sich nicht wieder heran.

Sie blieb noch einen Augenblick am Haus beobachtend stehen. Sie hatte die Empfindung, daß sich unbedingt dort drüben an der Ecke, von wo der Kasten höhnisch herübergrinste, etwas ereignen müßte. Aber da war nichts Auffälliges zu bemerken. Leute kamen, warfen ihre Postsachen in den Spalt und gingen weiter.

Oben wartete die Mutter schon. Ruth wagte nicht, von ihrem Erlebnis zu sprechen; sie fürchtete die berechtigten Vorwürfe. Sie machte also die Schinkenbrote zurecht, aber jede Scheibe, die sie auflegte, erinnerte sie wieder an ihr Vergehen.

Ob sie Großväterchen einweihen sollte? An dessen gütiges Herz würde sie sich wohl sowieso später wenden müssen, wenn es galt, das gesetzliche Strafgeld zu zahlen. Leider war Großvater noch nicht wieder zu Hause, und die Zeit drängte. Jeden Augenblick konnte der Briefträger den Kasten leeren.

Sie mußte Edmund zum Mitwisser machen. Die Besorgnis drückte sie sonst zu schwer. Er war ihr immer ein guter Kamerad, wenn er sie auch oft mit ihrer Zerstreutheit aufzog. Er würde seinen Mund halten und ihr überdies vielleicht noch einen guten Rat geben.

Beim Tischdecken gelang es ihr, des älteren Bruders allein habhaft zu werden. Mit gepreßter Stimme teilte sie ihm das Geschehene mit, nachdem sie vorher sein Ehrenwort über strengstes Stillschweigen eingeholt hatte.

Edmund lachte aus vollem Halse.

»Himmel, sage mir doch lieber, was ich tun soll!« Sie zerrte aufgeregt an seinen Jackenknöpfen.

»Was du tun sollst?« Er überlegte. »Ich würde einfach eine Besuchskarte nehmen, nichts weiter als ›Guten Appetit!‹ draufschreiben und sie hinterher senden.«

Er lachte wieder. Aber als er der Schwester angstvolle Miene gewahrte, streichelte er ihr beruhigend das heiße Gesicht.

»Keine Bange, Fräulein Professor! Da kommt sicher nichts nach. Wer den inhaltsreichen Brief findet, wird ihn sich gutschmecken lassen und dankbar des gütigen Gebers gedenken.« Er begann aufs neue zu lachen; die Sache kam ihm zu drollig vor.

»Meinst du wirklich?« Ruth fiel ein Stein vom Herzen. »Ach, Edmund, tu mir doch den Gefallen und stelle dich in den Erker! Von dort aus kannst du den Briefkasten im Auge behalten, bis der Postbote kommt. Vielleicht findet er das Paket gleich.« Ihr Herz begann bei diesem Gedanken wieder im Sechsachteltakt zu hämmern.

Der gute Bruder tat, wie ihm geheißen.

»Feind in Sicht«, telegraphierte er plötzlich ins Nebenzimmer, wo Ruth ab und zu ging. Mit einem Satz war sie neben ihm.

Harmlos näherte sich der Blaubemützte dem blauen Kasten. Harmlos schob er seinen Ledersack unter; Ruths merkwürdiger Brief versank in die Tiefen der schwarzen Tasche. Edmund hatte recht, kein Hahn krähte danach.

So schnell gab sich freilich das Backfischchen noch nicht zufrieden. Tagelang zitterte es, daß die Geschichte doch noch ein Nachspiel haben könnte. Sowie ein Briefträger klingelte, glaubte Ruth, nun gehe es ihr bestimmt an den Kragen. Woran man die Urheberin erkennen sollte, war ihr selbst unklar. Aber als Woche um Woche verstrich, ohne daß ihr Frevel geahndet wurde, mußte sie sich endlich zu der erleichternden Auffassung bekennen, daß die Postbehörde sich den Fund habe gutschmecken lassen.

Jedenfalls schützte die gemachte Erfahrung sie eine Zeitlang vor weiteren Zerstreutheiten. Fräulein Professor war eifrig bemüht, ihre Gedanken auch außerhalb des Schulkreises zusammenzuhalten und über dem Lernen nicht die häuslichen Obliegenheiten zu vergessen.

Allerdings, der Morgen nach der Briefkastengeschichte brachte noch eine unliebsame Überraschung. Klaus, der Langschläfer, wollte geschwind in die von Ruth freundlich geflickte Schuljacke schlüpfen; da konnte sein rechter Arm durchaus den Eingang nicht finden. Ruth hatte ihre Sache so gut gemacht, daß für Klaus' Arm kein Plätzchen offen geblieben war.

»Hättest du mich doch bloß in der Patsche stecken lassen, jetzt sitze ich noch viel ekliger drin«, zankte der Junge.

Mutter mußte das zugenähte Armloch wieder auftrennen, Klaus kam zu spät in die Schule, und das zerstreute Fräulein Professor erhielt eine neue Auflage der gestrigen Strafrede.

Das blieb aber für geraume Weile die letzte. Selbst die Mutter erkannte freudig an, wie sehr Ruth sich zusammennahm.

Kleine Entgleisungen kamen freilich noch manchmal vor. Als man an einem schönen Sonntag mit der Stadtbahn ins Grüne hinausfuhr und Ruth die Fahrkarten aus dem Automaten ziehen sollte, machte sie ihm zum Schluß eine kleine Verbeugung und sagte wohlerzogen: »Besten Dank!« Natürlich ertönte allgemeines Gelächter der Umstehenden über das verbindliche Mädchen.

»Du wirst noch einmal hart anlaufen, Mädel, mit deiner ewigen Zerstreutheit«, sagte die Mutter zwischen Ernst und Scherz; sie hatte kaum ausgesprochen, da ging ihr Wort auch schon in Erfüllung.

Ruth war bereits hart angelaufen, und zwar mit der Nase gegen einen Laternenpfahl, den sie in ihrer Verwirrung über die allgemeine Heiterkeit nicht gesehen hatte.

»So wörtlich habe ich es nicht gemeint«, rief nun lachend auch die Mutter; Ruth aber nahm von ihrem Ausflug eine tagelange Erinnerung in Gestalt einer geschwollenen Nase mit heim.

Die großen Ferien rückten ins Land, die Stadt leerte sich. Auch im Pensionat der Frau Doktor Klein wurde es still. Die Zöglinge kehrten für die Ferienzeit ins Vaterhaus zurück oder gingen mit den Eltern auf Reisen.

Jetzt begann die Erholungszeit für Frau Doktor Klein. An Reisen freilich war nicht zu denken; das kostete zu viel. Aber wer es versteht, kann sich auch in der Heimat die Ferien genußreich gestalten, ja, oftmal sogar noch viel mehr, als in der mit Mühen und mancherlei Unbequemlichkeiten verbundenen Fremde.

Jeden Tag, wenn die liebe Sonne lockte, zog der alte Herr Professor mit seiner Familie hinaus in die schöne wald- und wasserreiche Umgebung der Stadt. Da rötete sich auch der Mutter blasses Gesicht. Sie vergaß die Sorgen, die ihr seit dem frühzeitigen Tode ihres Gatten getreulich das Geleit gaben. Da draußen auf der blumenübersäten Wiese, an den stillen Waldseen war sie mit ihren Kindern selbst wieder ein frohes Kind. Ruth freute sich von einem Jahr zum andern auf die Verwandlung, die der Feriensonnenschein ihrem abgearbeiteten Mütterlein brachte. Sie hoffte, wenn sie und Bruder Edmund erst in der Lage sein würden, die Arbeitsbürde von den Schultern der Mutter auf die eigenen jungen und kräftigen zu laden, daß jener Sonnenschein ihrem Mütterchen das ganze Leben hindurch leuchten würde.

In diesem Jahre hatte sich Edmund aus dem kleinen gemütlichen Kreise gelöst. Dem alten Herrn Professor, der seine früheren Schulverbindungen noch aufrechterhielt, war für seinen fleißigen, strebsamen Enkel ein vorteilhaftes Angebot gemacht worden. Auf einem Gute suchte man für die Ferienzeit einen Primaner, der sich der beiden Söhne freundschaftlich annahm und ihnen gleichzeitig einige Nachhilfestunden erteilte. Edmund, der gewöhnt war, sich um der Mutter Pensionäre zu kümmern, schien dazu besonders geeignet. Glückstrahlend war er davongedampft; nicht nur der Landaufenthalt und das Neue lockten, sondern auch ein nettes Sümmchen als Honorar. Edmund dachte ein Königreich damit zu kaufen.

Niemand war froher über Edmunds Reise, als Marianne. Fünf Wochen lang blieb sie nun von den Hänseleien des großen Bruders verschont, und überdies hatte sie ihre Ruth ganz für sich! Die Kleine hing mit rührender Liebe an der großen Schwester, die diese Zuneigung aufs zärtlichste erwiderte.

Wenn die beiden Schwestern wie Schmetterlinge im Grünen herumjagten, dann lachte dem alten, weißhaarigen Professor das Herz im Leibe.

»Es ist doch was Schönes um die Jugend«, pflegte er mit warmem Blicke auf die Gestalten der anmutigen Enkelinnen zu sagen.

Nur eins verstand Marianne nicht, daß nämlich in den Ferien auch gearbeitet werden sollte. Sie selbst brauchte ja nur an Regentagen mal das Lese- und Rechenbuch vorzunehmen. Die große Schwester aber ließ keinen Tag vorübergehen, ohne mindestens zwei oder drei Stunden bei den »dummen« Büchern zu hocken.

Ruth war doch schon so riesig klug; selbst Marie, das langjährige Dienstmädchen, nannte sie scherzhaft »unser Fräulein Professor«, nicht wie die anderen ihrer Zerstreutheit wegen, sondern weil sie immer und ewig über den Büchern saß. Da brauchte die große Schwester nun doch wirklich nichts mehr zu lernen!

Nur der Großvater wußte, wie die Ferienzeit seine junge Enkelin in ihren Bestrebungen förderte. Mit eiserner Ausdauer und unermüdlichem Fleiß arbeitete sie darauf hin, in Latein das Pensum der Obertertia zu erreichen.

Eines Tages, als das wöchentliche Examen bei Großväterchen wieder besonders zufriedenstellend ausgefallen war, ließ sich der alte Herr seinen guten, schwarzen Rock abbürsten und den Zylinderhut, der nur bei feierlichen Gelegenheiten das Tageslicht erblickte.

»Ich habe einen Weg«, war die ausweichende Antwort auf alle Fragen der Seinen; selbst Frau Doktor Klein erfuhr nicht mehr.

Aber als er wiederkam, schmunzelte er so stillvergnügt, daß es jedem auffiel.

Nach Tisch rief er Ruth in sein Zimmer.

»Kind, wir schreiben heute den 3. August; bis zum Oktoberschulschluß sind nur noch zwei Monate. Hast du dir schon mal überlegt, was dann werden soll?«

»Dann werde ich in die zweite Klasse versetzt.«

Das Blut kam und ging in Ruths zartem Gesicht. Man sah ihr deutlich die Aufregung an. »Du weißt ja, Großväterchen, daß ich später einen kaufmännischen Beruf ergreifen muß, um möglichst bald etwas zu verdienen«, erwiderte sie sehr leise.

»Und dazu lernst du jeden Tag dein Pensum Latein, was?« Der alte Herr polterte ein wenig.

»Großvater« – Ruths Stimme schwankte bedenklich – »daß ich ganz andere Wünsche für meine Zukunft habe, wie brennend gern ich aufs Gymnasium möchte, weißt du ja am besten. Aber was nützt das alles? Ich darf die Mutter doch nicht betrüben und ihr mit solchen Plänen eine neue Enttäuschung bereiten.«

»Du bist unser gutes Kind –« er sprach wieder weich und zärtlich wie stets – »aber komm mal her und sieh mich an! Weißt du, was dein Großvater werden sollte, ehe er den Lehrberuf ergriff?«

Ruth schüttelte den Kopf. Sie hatte wohl gehört, daß der Großvater aus bescheidenen Verhältnissen es durch eigene Tüchtigkeit zu seiner geachteten Stellung gebracht hatte, aber weiter wußte sie nichts.

»Schuster – ja, Schuster«, wiederholte der alte Herr noch einmal, als er die weitaufgerissenen Augen seiner Enkelin sah, und trat bekräftigend mit seinem Stiefel auf den Boden. »In die Lehre sollte ich und Pechdraht ziehen. Aber meine Lehrer fanden, daß ich wohl noch zu etwas anderem zu gebrauchen sei; ich selbst, von klein auf ein Bücherwurm, war der gleichen Meinung. Da habe ich denn eines schönen Tages Mut gefaßt und meinem Vater gesagt, ich wollte mich dem Lehrfach zuwenden. Na, das gab ein Hallo! ›Stiefel sollst du versohlen, aber nicht anderer Leute Kinder‹, rief mein Vater aufgebracht. Schließlich jedoch, als ich ohne jeden Zuschuß von Hause fertig werden wollte, mich lediglich mit den Stipendien, die meine Lehrer mir erwirkten, und mit Stundengeben durchzubringen gedachte, gab mein Vater nach. Er hatte es nicht zu bereuen. Besitzt nun meine Enkelin, die mir so ähnlich sein soll, weniger Mut, um der Wissenschaft willen den Kampf mit dem Dasein aufzunehmen?«

»Ich, Großväterchen?« Ruths Blauaugen blitzten. »Ich wollte mich gern einschränken und bescheiden, wenn ich nur aufs Gymnasium dürfte und später studieren, ach – –«

Sie fiel dem alten Herrn plötzlich um den Hals, und ein Tränenstrom zeigte, wie schwer ihr das Entsagen auf alle Wünsche wurde.

»Na, also« – der Großvater räusperte sich; er war selbst gerührt. »Ich war heute vormittag beim Direktor des Mädchengymnasiums. Er ist ein Studiengenosse von mir und hat mir versprochen, falls die Aufnahmeprüfung günstig ausfällt, dir bis zum Abiturium eine Freistelle zu verschaffen. Auch für nachher wäre gesorgt. Aus der Stiftung für studierende unbemittelte Mädchen, meint er, würden dir, da Vater und Großvater dem Lehrberuf bereits angehörten, sicherlich die Studiengelder zur Verfügung gestellt werden. Freilich, für Kleidung und Sonstiges müßtest du durch Stundengeben sorgen. Also steht nichts mehr im Wege – Fräulein Professor«, setzte er vergnügt schmunzelnd hinzu, als er den Glücksschimmer in den jungen Augen aufleuchten sah.

Aber da war der auch schon wieder erloschen.

»Die Mutter«, sagte Ruth und schüttelte den Kopf.

»Mit deiner Mutter spreche ich – gleich jetzt; komm!«

Lebhaft, wie ein Junger, stand der weißhaarige Herr auf und zog den Arm der Enkelin unter den seinen.

»Na, was habt ihr denn für Geheimnisse miteinander?« fragte die Mutter lächelnd, als sie die beiden eintreten sah.

Zu der Enkelin Entsetzen zerhieb der Großvater auf einen Schlag den gordischen Knoten.

»Ich habe Ruth eine Freistelle im Mädchengymnasium erwirkt«, sagte er ohne Umschweife.

»Wa – as?« Das Gesicht der Mutter sah nicht weniger erschreckt aus, wie das der Tochter.

Ruth schlug den Arm um die zarte Gestalt der Mutter. »Wenn es dir nicht recht ist, will ich mich ja nach deinen Wünschen richten.«

Frau Doktor Klein schwieg. Die Mitteilung betäubte sie förmlich. Indessen setzte der Professor seiner Tochter auseinander, daß niemand zum Studium mehr geeignet sei als Ruth; daß sie sich in erstaunlich kurzer Zeit lateinische Kenntnisse angeeignet habe, und daß man dem Glück des Kindes nichts in den Weg legen dürfe.

Die Mutter saß starr. Latein hatte Ruth getrieben, ohne daß sie etwas davon wußte?

»Mütterchen, ich wollte dich damit überraschen; aber wenn du dagegen bist, will ich kein lateinisches Buch mehr anrühren. Nur sprich ein Wort – sieh nicht so traurig aus!«

»Ich bin nicht traurig, Kind« – sie machte sich aus den sie umfangenden jungen Armen frei – »ich überlege nur, ob es wirklich zu deinem Glücke ist, wenn du aufs Gymnasium gehst und studierst. Ich fürchte, daß du dann für das alltägliche Leben überhaupt nicht mehr zu gebrauchen sein wirst – daß du dann völlig in deinen Büchern lebst, und deine Zerstreutheit noch viel schlimmer wird.«

»Wir können es ja mal versuchen,« fiel der Professor ein, während Ruth aufgeregt ihren Blondzopf auf- und zuflocht, »etwa bis Ostern. Sehen wir dann, daß unser Fräulein Professor allzusehr die von mir übernommene Erbeigentümlichkeit zeigt, so ist es immer noch Zeit, Schluß zu machen. Vorläufig will ich gleich einen tüchtigen Mathematiker ausfindig machen, der ihr bis Oktober noch das notwendige Pensum für die Obertertia eintrichtert. Du hast ja manche Vorkenntnisse, Ruth. Diese Privatstunde ist mein nächstes Geburtstagsgeschenk für dich«, fügte er noch hinzu, da er sah, daß seine Tochter bereits wieder mit dem Rechnen begann.

»Großväterchen, ich danke dir tausendmal!«

Ruth flog voll Seligkeit ihrem besten Freunde an den Hals. Der blinzelte über den Blondkopf hinweg seiner Tochter zu. Hatte er nicht recht, daß man dem Glück des Kindes nicht im Wege stehen dürfe? Auch Frau Doktor Klein machte sich allmählich mit dem Gedanken vertrauter. Als verständige Frau sagte sie sich, daß man einen jungen Menschen im Leben auf den Platz stellen mußte, wo er seiner Veranlagung nach etwas Tüchtiges zu leisten imstande war. Ruth war nun einmal zum Fräulein Professor geboren; gut, so mochte sie es auch werden! An sich selbst denkt eine Mutter ja nicht . . .

Das letzte Schulquartal hatte begonnen. In der Pension von Frau Doktor Klein waren die Jungen braungebrannt, mit noch kräftigeren Lungen als vorher, wieder eingerückt. Frisches, überschäumendes Leben durchpulste die gemütlichen Räume. Nur in dem Stübchen mit den alten blitzblanken Mahagonimöbeln war es wie stets still und feiertäglich. Bis zu des Großvaters Gelehrtenstube wagte sich das laute Jungenlachen nicht; auch die unbändigsten Fäuste verhielten sich dort in der Nähe friedfertig.

Großvater hatte eine Studiengenossin bekommen. An der einen Seite des alten Schreibtisches saß der Herr Professor, an der anderen das Fräulein Professor. Ruth mußte jetzt ungestörte Muße für ihre Arbeit haben. Sie durfte nicht durch der Schwester Puppen, durch die übermütigen Streiche der Jungen oder durch Edmunds Erzählungen, seine Weltreise betreffend, abgezogen werden.

Edmund hatte tatsächlich von seinem vierwöchigen Aufenthalt auf dem Gute soviel zu berichten, wie ein anderer von einer Afrikareise. Seine Familie mußte nachträglich die Bekanntschaft eines jeden Schweines machen, das dort gemästet wurde, eines jeden Kälbchens, das im Gutshof das Licht der Welt erblickte.

Aber auch Ruth hatte zu erzählen. Edmund sperrte Mund und Augen auf, als er hörte, daß aus seiner Schwester nun wirklich ein Fräulein Professor werden sollte.

»Hurra, dann gehen wir mal beide als flotte Studenten in den Hörsaal! Das soll ein Leben werden!«

Junges Volk lebt gerne in der Zukunft; aber so sehr wie augenblicklich hatte die lachend aus Rosenwolken spähende Göttin noch nie alle Gedanken in Anspruch genommen. Selbst vor dem Ernst der Schule scheute sie nicht zurück. In irgendeinem Winkel des Klassenzimmers hockte sie, lächelte und lockte, bis alle Gedanken der blonden und dunklen Mädchenköpfe zu ihr hinflatterten.

Als Ruth ihren Kränzchenschwestern die Freudenbotschaft überbrachte: »Kinder, ich darf aufs Gymnasium, ich darf studieren«, da hatte sie ungefähr dieselbe Empfindung, als solle sie Kaiserin eines Weltreiches werden. Denn die ganze Welt gehörte ihr ja augenblicklich, in ihrem jungen freudigen Hoffen.

»Na, die Hauptbedingung ist schon erfüllt, Fräulein Professor«, neckte die schlanke Elfriede; Edmund, der Bösewicht, hatte dafür gesorgt, daß die Freundinnen Ruths Titel kannten.

»Wieso?« fragte Ruth, trotzdem sie eigentlich die Antwort im voraus wußte.

»Du fragst noch, und da willst du das Abiturium machen, wenn du so wenig Grips hast? Natürlich doch deiner Zerstreutheit wegen«, fiel die braunzöpfige Gretel lachend ein.

»Ich bitte, mir eine Ehrenerklärung auszustellen« – Ruth versuchte, ein beleidigtes Gesicht zu machen, was ihr aber nicht gelang, denn es lachte ganz von selbst – »hört und staunt! Ganze vierzehn Tage lang hatte ich meine Gedanken am Bändel; kein Versehen, kein Vergessen, kein Verlegen von Gegenständen! Geradezu mustergültig habe ich mich benommen.«

»Na, erlaube, liebe Taube« – Gretel machte ein pfiffiges Gesicht – »wer ist denn vor einigen Tagen mit einer Bestellung wegen der Schneiderin zu meiner Mutter geschickt worden und hat vor lauter Schwatzen mit einer gewissen Kränzchenschwester die Bestellung vergessen?«

»Die Ausnahme bestätigt die Regel,« erwiderte Ruth lachend in salbungsvollem Ton, »aber sonst –«

»Na, morgen ist ja Kränzchen bei dir; da werden wir sehen, wieviel Teelöffel fehlen, und ob der Zucker nicht im Milchtopf liegt und die Sahne in der Zuckerdose«, neckte Elfriede ausgelassen.

Ruths »Beste« aber, die hellblonde Maria, schlang zärtlich den Arm um die Freundin. »Laßt meine Ruth in Frieden! Freut euch lieber mit ihr, daß sie ihr Ziel nun doch erreichen soll, nachdem sie so fleißig von früh bis spät gearbeitet hat.«

»Ja, erreichen soll, Maria! Denn vorläufig fehlt noch eine kleine, aber wichtige Notwendigkeit, die Aufnahmeprüfung!« Ruth versuchte die Stirn in sorgenvolle Falten zu legen.

»Davor ist mir nicht bange«, tröstete Maria zärtlich. »Wen sollen sie denn aufnehmen, wenn sie dich Fleißige und Kluge zurückweisen?«

Am anderen Tage war Kränzchen bei Ruth. Das junge Mädchen war morgens schon eine Stunde früher aufgestanden, um sein tägliches Pensum nicht zu versäumen. Auch mittags saß es gleich wieder über den Büchern. Dann aber gehörte die Zeit dem Kränzchen, denn es war Vorschrift, daß alle Zubereitungen, selbst das Kaffeekochen, eigenhändig von den Kränzchenschwestern ausgeführt werden mußten.

Marianne hatte allerdings das Vorrecht, beim Tischdecken zur Hand gehen zu dürfen. Sie war ein richtiges kleines Haustöchterchen, umsichtig und schnell. Sie entdeckte, daß das Kuchenmesser und die Servietten fehlten, und daß die Kaffeedecke verkehrt auflag. Ruth war der Schwester heute besonders dankbar, denn nach dem gestrigen Gespräch mit dem Kränzchenschwestern wollte sie sich diesmal durchaus keine Blöße geben.

Nun hatte sie noch den Mokka zu brauen; dann konnten die Freundinnen kommen.

Himmel, der Kaffee reichte ja nicht! Sie hatte vergessen, beizeiten nachzusehen.

»Ja, Kind, da mußt du selbst hinunter; Marie kann von ihrem Aufwaschtisch nicht fort«, sagte Frau Doktor Klein. »Bringe gleich gemahlenen Kaffee; dann geht es nachher schneller.«

Ruth wollte bereits, den Hut vom Ständer nehmend, zur Treppe stürmen, denn im Kränzchen war man pünktlich. Da trat der Großvater aus seinem Zimmer.

»Gehst du fort, Ruth? Ach, dann könntest du mir einen Gefallen tun. Mein Schnupftabak ist zu Ende. Bringe mir doch für zwanzig Pfennig Nessing mit herauf!«

Ruth war zwar sehr eilig, aber für Großväterchen hatte sie immer Zeit.

So nickte sie ein bereitwilliges »Gern«, und fort war sie.

Nun mußte es aber mit »Extrapost« gehen! In Hast schüttete Ruth nach ihrer Rückkehr den gemahlenen Kaffee in den Trichter und goß fleißig das siedende Wasser auf. Langsam zu brühen, wie sie es bei der Mutter gelernt hatte, dazu blieb keine Zeit. Die Kränzchenschwestern würden es wohl nicht allzusehr übelnehmen, wenn sie mal etwas dünneren Kaffee vorgesetzt bekamen.

Auch dem Großvater brachte sie noch geschwind die gewünschte Tüte mit Schnupftabak hinein. Als dann die kleine Kaminuhr mit silberheller Stimme die vierte Stunde meldete, stand Ruth in der Tat mit einer weißen Stickereischürze empfangsbereit da.

Die jugendlichen Gäste ließen nicht auf sich warten. Bald saßen sie zu vieren in frohem Beisammensein.

»Potztausend – alle Achtung, Ruth; es fehlt nichts!« Elfriede überflog mit Feldherrnblick den wirklich tadellos gedeckten Tisch.

»Ja, heute sollt ihr mir Abbitte leisten; heute werde ich euch zeigen, daß auch ein Fräulein Professor auf jedem Gebiet tüchtig sein kann«, frohlockte Ruth.

»Dann gib uns vor allen Dingen erst was zu trinken; ich verschmachte vor Durst«, rief Gretel.

Die junge Wirtin erschien mit der Nickelkanne. Sie war fest überzeugt, daß der Kaffee nicht besonders stark sein konnte. Aber als sie ihn eingoß, war sie aufs freudigste überrascht. Er sah durchaus nicht wässerig aus, sondern im Gegenteil, tief schwarzbraun. Nur einen merkwürdigen Duft hatte er an sich. Das war ihr schon vorhin beim Kochen aufgefallen. Ob am Ende eine ölige Bohne darunter gewesen war? Denn den Topf hatte sie ja vorher gründlich gesäubert. Na, vielleicht merkten es die anderen gar nicht.

Aber das schien doch der Fall. Die drei Näschen schnupperten möglichst unauffällig; trotz der Schlagsahne wagte sich keine an den seltsam riechenden Kaffee heran, nicht einmal die verschmachtende Gretel.

»Trinkt doch, Kinder«, ermunterte die junge Wirtin.

Aber ehe man noch ihrer Aufforderung nachkommen konnte, wurde die Tür geöffnet, und der Professor trat herein.

»Hör' mal, Ruth,« sagte er schmunzelnd, nachdem er die von ihren Sitzen springenden »jungen Damen« begrüßt hatte, »ich habe zwar schon so manches Prischen in meinem Leben geschnupft, aber gemahlenen Kaffee denn doch noch nicht!« Er hielt ihr die silberne Dose mit dem bräunlichen Zeug hin.

»Kaffee – – –?« Ruth blieb der frische Mund vor Schreck offen. Ein würziger Mokkaduft entströmte der Dose.

»Dann – dann trinken wir hier ja Schnupftabakbrühe«, brachte sie schließlich auf die fragenden Blicke der Freundinnen ganz fassungslos heraus.

»Brrrr!« Die Mädel schüttelten sich und brachen dann wie auf Befehl in ein schallendes Gelächter aus. Auch der Großvater lachte so herzlich, daß der jungen »perfekten Köchin« nichts weiter übrig blieb, als einzustimmen.

Aus allen Zimmern kam es herbei. Das nicht endende Lachen lockte alle: die Mutter, Marianne, Edmund und die Jungen. Das gab ein Juchhei, als man den Sachverhalt vernahm! Das Fräulein Professor wurde weidlich geneckt. Marie war die einzige, die sich ihrer erbarmte und den jungen Fräulein zur Entschädigung einen extrafeinen Kaffee braute.

Lange Zeit mußte Ruth es sich gefallen lassen, sowohl zu Hause als auch in der Schule mit ihrer Kochkunst aufgezogen zu werden. Sogar Großväterchen pflegte lächelnd manchmal zu sagen: »Ich weiß nicht, was mir besser schmeckt, mein Kaffee oder mein Prischen.«

Edmund dagegen erhob allen Ernstes Einspruch, daß Ruth fürderhin die Frühstücksbrote vorrichte. Er fürchtete, daß sie ihm eines schönen Tages statt Butter Stiefelwichse aufstreichen könnte.

Währenddessen rückte die Zeit vorwärts. Die Versetzung stand vor der Tür, und dahinter drohte als Schreckgespenst die Aufnahmeprüfung, von der so viel abhing. Alle Gedanken Ruths weilten schon vorher bei dem wichtigen Tage.

Am 1. Oktober war es. Der Großvater hatte der Enkelin das Honorar für den Mathematiklehrer eingehändigt. In aller Eile mußte sie, bevor sie zur Stunde ging, noch einen Geburtstagsbrief an ihre Freundin Elfriede schreiben, die schon vor Schulschluß mit ihrer kränklichen Mutter nach Italien gefahren war. Sie schob das Glückwunschschreiben eiligst in einen Umschlag und dann das Stundengeld, vier Zehnmarkscheine, in einen anderen. Nach der Mathematikstunde legte sie letzteren dem Lehrer mit bestem Dank für seine Mühewaltung auf den Tisch.

Am nächsten Tage erhielt Ruth einen Brief. Man las es zwischen den Zeilen, daß er dem Schreiber nicht leicht geworden war; er stammte von ihrem Mathematiklehrer und lautete:

»Es ist mir sehr peinlich, liebe Ruth, Dir mitteilen zu müssen, daß der Briefumschlag, der das Stundenhonorar enthalten sollte, leer war. Ich habe ihn gleich nach Deinem Fortgang geöffnet; ein Fremder war inzwischen nicht im Zimmer, so daß das Geld hier nicht fortgekommen sein kann. Vielleicht siehst Du noch einmal genau in Deinem Handtäschchen nach. Der Umschlag war schlecht geschlossen; das Geld wird also wohl herausgerutscht sein. Ich hoffe, daß die mir sehr unangenehme Angelegenheit sich bald aufklären wird.«

Ruth erbleichte bis in die Lippen als sie das Schreiben mit entsetzten Augen durchflog.

Das Geld, das Großväterchen sich abgespart hatte, war weg – volle vierzig Mark! Die Summe erschien Ruth ungeheuerlich. Außerdem wußte sie doch genau, daß sie die Scheine in den Umschlag hineingeschoben hatte!

Sie durchsuchte ihr Täschchen wohl ein dutzendmal, auch ihre Kleider und ihre Bücher. Aber das Geld war und blieb verschwunden. Es war rätselhaft.

Der Gedanke, ob die vierzig Mark nicht doch im Hause des Lehrers von irgendeinem Dienstboten oder einem Fremden veruntreut worden seien, wollte sie nicht loslassen. Sie war im Grunde ihres Herzens sogar fest davon überzeugt. Aber was half das alles? Das Geld mußte beschafft werden. Woher bloß?

Sie selbst hatte gar keine Ersparnisse. An die Mutter durfte sie sich nicht wenden. Sie mußte ja bestrebt sein, die Sorgenlast ihres Mütterchens zu vermindern und nicht noch zu vermehren. Außerdem traute sie sich auch nicht, die Mutter überhaupt von dem Geschehenen in Kenntnis zu setzen; sie wußte genau, daß sie ihrer Gedankenlosigkeit schuld an der ganzen Sache geben würde. Ja, am Ende entzog sie ihr daraufhin die mühsam erhaltene Erlaubnis fürs Mädchengymnasium, und sie fühlte sich doch diesmal schuldlos!

Großväterchen? Nein, noch einmal durfte er sich ihrethalben keine Entbehrungen auferlegen.

Aber wer denn? Wer sollte ihr diese große Summe geben, die sie doch unbedingt zahlen mußte? Sie zerbrach sich den Kopf, der ohnehin schon mit den zur Prüfung aufgespeicherten Kenntnissen genügend vollgepfropft war.

Halt – ein Gedanke! Edmund hatte Geld. Aber sollte sie dem Bruder das erste Selbstverdiente abborgen? Und dann selbst gleich mit Schulden ihren neuen Lebensweg beschreiten? Es widerstrebte ihr.

Doch da gab es weiter keinen Ausweg. Morgen war die nächste Mathematikstunde; da mußte sie das Geld mitbringen.

Sie vertraute sich dem großen Bruder an. Der sagte gleich aus freien Stücken: »Ich gebe dir das Geld gern, Ruth«, obwohl er hinzufügte, solche Bummelei dürfe eigentlich nicht vorkommen; denn er war fest überzeugt, das Fräulein Professor habe die Scheine auf irgendeine Weise verloren.

Am anderen Morgen kam ein Brief aus Rom, der Dankbrief von Elfriede. Ruth wunderte sich im stillen, daß die Freundin, deren Schreibfaulheit im Kränzchen sprichwörtlich war, es diesmal so eilig mit der Beantwortung hatte.

Als sie den rosa Bogen herauszog, flatterte etwas zur Erde. Das junge Mädchen bückte sich danach – vier Zehnmarkscheine.

Eine jähe Ahnung durchzuckte Ruth. Sie konnte kaum lesen; die Buchstaben tanzten ihr förmlich vor den Augen.

»Besonders danke ich Dir noch für Dein großartiges Geschenk«, schrieb Elfriede. »Aber da wir zu Geburtstagen uns niemals so fürstlich zu beschenken pflegen, nehme ich an, daß unserem Fräulein Professor die vier Scheine bloß gegen den Willen in meinen Brief geschlüpft sind. Ich bin also ehrlich genug, sie Dir wiederzugeben.«

Ruth konnte nicht weiterlesen. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Daß ihr so etwas widerfahren konnte, hätte sie niemals für möglich gehalten. Sie wagte kaum, es Edmund mitzuteilen, so sehr schämte sie sich.

Nein, das mußte anders werden, wirklich! Es durfte nicht in dem alten Fahrwasser fortgehen. Sie war groß genug, um sich selbst zu sagen, daß sie niemals im Leben etwas erreichen konnte, wenn sie ihrer Zerstreutheit nicht mit aller Kraft entgegenarbeitete.

So ernstlich hatte sie sich selbst noch nie Besserung gelobt. Auch die Entschuldigung bei dem Mathematiklehrer, die stumme Abbitte, die sie dem öffnenden Dienstmädchen zuteil werden lassen mußte, war äußerst peinlich. Das war eine harte Lehre für das Fräulein Professor.

Aber die Medizin war trotz alledem noch immer nicht stark genug, um Ruth von ihrem alteingewurzelten Leiden vollkommen zu heilen. Das Tränklein mußte noch bitterer schmecken.

Das neue Semester begann, und die Zeit für die Gymnasialaufnahmeprüfung war festgesetzt. Den Tag zuvor erlaubte Großvater nicht mehr, daß Ruth noch lernte.

»Was bis heute nicht festsitzt, wird der letzte Tag auch nicht wettmachen«, sagte er. »Ich bin davon überzeugt, du kannst deine Sache. Zieh dich an! Wir wollen ins Freie fahren, damit du morgen frisch und klar für deine Aufgaben bist.«

Zum erstenmal im Leben war Ruth mit dem Großvater nicht recht einverstanden. Sie wäre viel lieber daheim bei ihren Büchern geblieben. Ja, sie kam sich geradezu fahnenflüchtig vor, daß sie auf und davon ging.

Aber draußen in dem buntfarbigen Herbstwald fühlte sie, wie ihr Kopf, den sie in den letzten Tagen mit Regeln, Vokabeln und Zahlen besonders geplagt hatte, freier wurde und die Angst vor der Prüfung im traulichen Gespräch mit Großväterchen allmählich schwand.

Als Edmund sie am Abend wohlwollend fragte: »Na, hast du 'nen Bammel vor morgen?« da konnte sie mit gutem Gewissen antworten: »Nicht die Bohne!«

Die Mutter schien sich um so mehr zu sorgen. Schließlich hing doch für ihre Ruth von dem morgigen Tage die ganze Zukunft ab. Wenn sie die Freistelle nicht erhielt, aus eigenen Mitteln war an ein Studium nicht zu denken.

Sorgsam, bei jedem Buch überlegend, hatte das junge Mädchen am Abend die Mappe gepackt. Daß nur nichts fehlte, daß sie bloß nichts vergaß!

Nun nahm sie, zwar ein wenig erregt, aber sonst voll Zuversicht, Abschied von daheim.

Die Mutter drückte ihr stumm die Hand.

»Mach's gut – Fräulein Professor!«

Großvater klopfte ihr aufmunternd die ein wenig blasse Wange.

»All Heil!« echote es im Chor der Jungen.

Beladen mit all den guten Wünschen, machte sich Ruth auf den Weg. Es war ein sonnengoldener Oktobertag, so recht dazu geschaffen, ein neues hoffnungsjunges Leben einzuleuchten.

Während sie dahinschritt, hatte sie selbst das Gefühl, daß alles klappen mußte. Sie war ihrer Sache so gut wie sicher. Nur ein Mathematikansatz machte ihr noch Kopfzerbrechen. Aber wenn sie ihn sich recht überlegte, würde sie wohl auch damit zustande kommen. Ja, so mußte sie es anfangen, oder war es anders besser? Sie überlegte und überlegte . . .

Das Fräulein Professor fuhr aus seinem Zahlengewirr erst empor, als eine wohlwollende Stimme sagte: »Nanu, Fräuleinchen, was wollen Sie denn noch bei uns?« Es war der frühere Schuldiener, der die kürzlich Abgegangene erstaunt betrachtete.

Barmherziger Himmel, sie stand in ihrer alten Schule! Wie ein braver Gaul in den gewohnten Stall, so war sie gedankenlos den seit Jahren täglich gewanderten Weg getrabt! Das Mädchengymnasium aber lag am anderen Ende der Stadt, und die Schuluhr zeigte bereits zehn Minuten vor acht!

Ohne dem verdutzt dreinblickenden Mann eine Antwort zu geben, eilte Ruth wie besessen davon. Sie raste und rannte, unbekümmert um das Kopfschütteln der Vorübergehenden.

»Lieber Vater im Himmel, laß mich bloß nicht zu spät kommen!« Sie wußte es gar nicht, daß ihre Lippen diese Worte immer wieder halblaut murmelten.

Kam denn keine Straßenbahn? Ruth kannte außerdem die Verbindungen von hier aus nicht.

Da stand ein Auto. Sollte sie hinein? Sie war bisher noch niemals in einem solchen Wagen gefahren; das war ein Luxus, den sich ihre Mutter nicht leisten konnte. Eine Mark fünfzig hatte sie bei sich, aber wenn es mehr betrug?

Ach was, Not kennt kein Gebot. Nur hin! Sie sprang in das Fuhrwerk und nannte Namen und Straße der Schule.

Das Auto töffte davon. Es flog durch die Gassen, aber für Ruths vorauseilende Gedanken schien es zu kriechen. Dabei war ihr Blick starr auf den Zeiger des kleinen Zifferblatts gerichtet, der den Fahrpreis anzeigte. Eine Mark zwanzig – dreißig – was machte sie bloß, wenn er weiter so lief?

Eine Mark vierzig – da hielt das Auto. Ruth warf dem Chauffeur das Geld zu und jagte hinein in das fremde Gebäude.

Alles war still. Der Unterricht hatte überall schon begonnen. Ruths Beine wurden plötzlich so schwer, daß sie sich kaum die Treppen zu dem ihr vom Diener angewiesenen Raum emporschleppen konnte. Stimmen schallten heraus. Hatte es denn überhaupt noch einen Zweck, hineinzugehen? Es war ja völlig ausgeschlossen, daß sie die Freistelle jetzt noch erhielt, wenn sie gleich zur Prüfung zu spät kam!

Ade, ihr Zukunftsträume! – Da hatte sie die Tür zu dem Prüfungssaal geöffnet. Versuchen mußte sie es jedenfalls; sie hatte ja nichts mehr zu verlieren.

Zwei blitzende Brillengläser waren das erste, was ihre Augen, vor denen es wie Nebel wogte, unterschieden. Sie gehörten dem Direktor, der sie streng anschaute. Dann fühlte sie die mißbilligenden Blicke der verschiedenen Lehrer und schließlich die neugierig teilnehmenden der übrigen Prüflinge.

»Ei, noch eine Nachzüglerin? Das ist keine gute Empfehlung, wenn man sogar am Examenstag nicht aus dem Bett herausfinden kann! Wie heißt du?« fragte vorwurfsvoll die Stimme, die zu den blitzenden Brillengläsern gehörte.

Ruth nannte mit niedergeschlagenen Augen ihren Namen, sie konnte kaum sprechen; ein Tränenknäuel preßte ihr den Hals zusammen.

»Klein« – der Direktor blätterte in seinem Buch – »nun, ich denke, gerade du hättest alle Ursache, dich besser einzuführen!« Er schien sichtbar unzufrieden.

Das junge Mädchen wagte nicht, ihm den wahren Grund des Zuspätkommens mitzuteilen.

Die Prüfung hatte bereits begonnen. Ruth bekam ihre schriftlichen Arbeiten nachgeliefert. Sie war fast um eine halbe Stunde hinter den anderen zurück.

Zuerst vermochte sie nichts anderes zu denken als: »Eine Freistelle ist ausgeschlossen! Was wird Großväterchen sagen?« Dann aber zwang sie mit aller Willenskraft ihre Gedanken auf das vor ihr liegende Thema. Je eingehender sie sich damit beschäftigte, desto mehr vergaß sie ihr Mißgeschick. Schließlich blieb ihr ja auch nur die eine Möglichkeit noch, die Scharte des Zuspätkommens durch Kenntnisse einigermaßen auszuwetzen.

Als die anderen ihre Arbeiten abgaben, war auch Ruth fertig.

Die mündliche Prüfung folgte. Ruth Klein wurde tüchtig herangenommen. Die versammelten Lehrer schienen alle ihre Unzufriedenheit über die Unpünktlichkeit in besonders verzwickten Fragen zu äußern.

Aber als die junge Examinantin eine zufriedenstellende Antwort nach der anderen gab, wurden die Gesichter freundlicher. Selbst die Brillengläser des Herrn Direktors blitzten nicht mehr ganz so strafend.

Die Prüfung war zu Ende. Ruth hätte aufatmen können, wenn – ja, hätte sie doch vorher auf dem Schulwege ihre Gedanken beisammengehalten! Sie war überzeugt, gut bestanden zu haben. Aber was nützte das alles?

Jedenfalls mußte sie sich wohl noch nachträglich entschuldigen. Herzklopfend trat sie zu dem mit einem Lehrer sprechenden Direktor. Der wandte sich ihr zu.

»Ah, Ruth Klein – gerade von dir rede ich. Ich muß sagen, es tut mir sehr leid um dich. Du hast ziemlich das beste Examen abgelegt: deiner Aufnahme stände nichts im Wege. Aber ich kann die Freistelle unmöglich an eine Gymnasiastin vergeben, die gleich den ersten Tag durch Unpünktlichkeit zeigt, daß sie dieses Vorzugs nicht würdig ist.«

Mit stockender Stimme und niedergeschlagenen Augen teilte Ruth nun dem Herrn Direktor mit, aus welchem Grunde sie zu spät gekommen war.

»Hm – also Zerstreutheit – Gedankenlosigkeit! Ein böser Fehler bei einem jungen Menschen! Aber weil du gezeigt hast, daß du beim Arbeiten wenigstens deine Gedanken zusammennehmen kannst, will ich, um deines Großvaters willen, die Angelegenheit in der Konferenz noch einmal zur Sprache bringen. Ich mache dir keine Hoffnungen, gar keine; aber wie gesagt, ich werde die Meinung der übrigen Herren einholen.«

Damit mußte Ruth sich zufriedengeben. Es war sehr wenig Tröstliches, zu winzig selbst für ein junges Menschenkind, um daran auch nur das kleinste Endchen Hoffnungsfaden zu schlingen.

Ruth wußte nicht, wie sie nach Haus und in Großvaters stilles Stübchen gelangte. Der weißhaarige Professor sah erschreckt auf seinen weinenden Liebling.

»Kind, Pech kann jeder haben«, tröstete er, denn er glaubte nicht anders, als sie habe nicht bestanden. Da aber enthüllte sich ihm erst der ganze Jammer.

»Nein, Großväterchen, es ist ja mein Fehler, nur meine Zerstreutheit ist schuld!« Schluchzend erzählte sie ihm den Hergang. »Nun ist alles umsonst – ach, was wird Mutter sagen!«

Weder der Großvater noch die Mutter sagten etwas. Ersterer nicht, weil ihm sein Herzblatt in der Seele weh tat, und die Mutter? Die litt mehr als Ruth. Jeder Vorwurf war diesmal überflüssig; das Leben selbst hatte Ruth für ihren Fehler gezüchtigt.

Edmund versuchte ihr auf jede Weise Mut einzusprechen. Alles war vergebens, selbst Mariannes Liebkosungen. Einsilbig und gedrückt ging die sonst so muntere Ruth einher. Sie hatte jede Hoffnung aufgegeben.

Nach Verlauf einer Woche kam ein amtliches Schreiben. Sicher war das die Ablehnung. Ruth wagte nicht, es zu öffnen. Herzklopfend trug sie es in Großvaters Stübchen.

»Mach du es auf«, bat sie tonlos und wagte nicht, den alten Herrn anzusehen.

»In Anbetracht des mit Auszeichnung bestandenen Examens ist Ruch Klein die Freistelle am Mädchengymnasium bewilligt worden, und sie in die Obertertia aufgenommen«, las er mit Erregung.

»Großväterchen!« Der ganze Raum war ein einziger Jubelschrei.

»Also jetzt Kopf hoch – Fräulein Professor!« Wie das liebe alte Gesicht leuchtete.

»Nein, nenne mich nicht mehr so, Großväterchen! Das Fräulein Professor mit seinem bösen Fehler ist jetzt ein für allemal abgetan!«

Die hinzutretende Mutter schloß ihr Kind in die Arme. »Wenn du wirklich endgültig von deiner Zerstreutheit geheilt bist, Ruth, dann ist es nicht zu teuer mit dieser schweren Woche bezahlt!«

Die junge Gymnasiastin hielt Wort. Die letzte böse Erfahrung hatte gründliche Heilung gebracht.

Aus dem einstigen »Fräulein Professor« ist später ein Fräulein Doktor geworden. Sie und Edmund, der junge Oberlehrer, haben ihr Ziel erreicht, ihrem Mütterchen ein frohes, sorgloses Dasein zu bereiten. Großvater, der nun schon über achtzig ist, wird ordentlich wieder jung, wenn seine Ruth einen neuen Erfolg zu verzeichnen hat.

Heute lachen sie gemeinsam über die vielen seltsamen Dinge, die sich das Fräulein Professor einst geleistet hat. Dann pflegt der weißhaarige alte Herr seiner Tochter schelmisch zuzuzwinkern: »Habe ich es nicht immer gesagt, aus unserer Ruth wird noch was? Wenn sie auch noch so gedankenlos war, wenn sie auch alles verlegte: eins – das Herz – hatte unser Fräulein Professor immer auf dem rechten Fleck, und das ist schließlich doch die Hauptsache!«



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