Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11. Kapitel. Versetzt.

Frühling wurde es – lachender, goldener Frühling. Im Garten blühten Schneeglöckchen und Krokus. Die Hühner scharrten wieder lustig im Hofe, und Baumeisters jüngste Rangen hockten den ganzen Tag bei ihrer »Sandkute« und kullerten bunte Murmeln. Heinz sah man nur noch mit Triesel und Peitsche bewaffnet, während Norbert und Liselotte ihre Tätigkeit auf die Wiesenspielplätze verlegt hatten.

Norbert und seine Kameraden spielten mit Begeisterung Fußball und »Weißer und Indianer«, wobei sich Liselotte, Baumeisters fünfter Junge, meist wildlärmend beteiligte. Denn für die zahmeren Mädchenspiele, wie Reifenwerfen, Dritten abschlagen und »Lange, lange Leinewand« hatte sie nur wenig übrig. Allenfalls war sie noch für Jagd- oder Käseball zu haben.

Ja – es wurde Frühling.

Die Schwalben zwitscherten es vom Dachfirst, der Kastanienbaum, der mit seinen winzigen Babyblättchen zur Schulstube hineinlugte, erzählte es, Herr Doktor Schwarz hatte wieder seine gelbe Kanarienweste angelegt, und die schlesische Jugend ging »Sommersingen«. Das war der famoseste Jux im Jahr, darin war sich die ganze junge Generation, ob arm, ob reich, einig.

Bereits am Tage zuvor klebten Jungs und Mädels wie die Fliegen an dem kleinen Schaufenster des Bäckerladens. Bäcker Liebig war der Held des Tages. Krummbeinig stand er in seiner Backstube, aus der Riesenvorräte von Schaumbrezeln und Mehlweißchen das Licht der Welt erblickten. Denn ohne diese war das Sommersingen nicht denkbar. Es gab wohl kein Haus im ganzen Städtchen, in dem nicht die grauen, spitzen Tüten mit Mehlweißchen ihren Einzug hielten.

Bei Baumeisters bohrten neugierige Kinderfinger, trotzdem Mutter die eingekauften Schätze wohlweislich versteckt hatte, so lange an den endlich entdeckten Tüten, bis zwei fürwitzige Mehlweißchen herausrollten, um die sich alle fünf Rangen gierig balgten. Norbert, der glückliche Eroberer des einen, teilte als guter Bruder seinen Raub unter die beiden kleinsten Gierschlunde, während Liselotte das Prinzip »selber essen macht fett« vertrat. Trotz Heinz' sehnsüchtigen Blicken ließ sie das erkämpfte Mehlweißchen in den eigenen Mund wandern, was ihr ein wütendes »Freßlise!« von seiten des kleinen Bruders eintrug und diesem eine tüchtige schwesterliche Maulschelle.

Nachmittags zog man in den Wald und pflückte dort Wacholderzweige, die mit bunten Bändern und Papierschnitzeln ausgeputzt wurden.

Das Kränzchen hatte sich verabredet, zusammen Sommersingen zu gehen, jede schmückte den Wacholderzweig in der Farbe ihrer Kränzchenblume.

Schon in aller Herrgottsfrühe begann es. Am Sonntag vor Frühlingsanfang. Die ersten Lenzesboten bei Baumeisters waren zwei winzige Hosenmätze.

Nicht lange nach Hahnenschrei mochte es sein, da stellte sich Kurtchen, der noch im Schlafzimmer der Eltern schlief, in seinem Gitterbettchen hoch. Und mit schallender Stimme begann er die Frühlingshymne schmettern:

»Rot Dewand – rot Dewand –
Szöne güne Linden,
Suchen wir – suchen wir,
Wo wa welße finden!«

Vater fuhr entsetzt hoch und starrte den kleinen Sänger entgeistert an. Er dachte an alles andere eher als an Sommersingen.

Mutter aber kannte ihre Jören. Die wußte trotz herzbrechenden Gähnens sofort, was los war.

»Schscht – pst – huuuh – willst du wohl still sein und dich sofort wieder hinlegen, es ist ja noch Mitternacht – huuuh –«

»Er is ßon danz ausdeslaft,« erklang es tröstlich aus dem weißen Kinderbettchen. Kurtchen stellte sich breitbeinig mit seinen kleinen Nachthöschen in Positur, die lieben Eltern mit einem neuen Vers zu erfreuen.

Aber sein Brüderchen, das nebenan schlief und durch die totenerweckende Stimme des Weinerichs ebenfalls an die Wichtigkeit des heutigen Tages erinnert worden war, wollte nicht zurückstehen. Erst ein Kratzen an der Tür, wie von Hundepfoten, dann ein leises Knarren und Quieken der Türangel, und nun ging's los:

»Frau Wirtin, sind Se drinne?
Sind Se drin, denn kummen Se raus,
Denn teilen Se uns 'n Trinkgeld aus!«

»Ich werde sofort kommen und euch was austeilen, aber das wird euch schlecht schmecken!« die Frau Wirtin schien noch recht wenig lenzesfroh zu sein.

»Er will Mehlweißen und Szaumbezeln haben, weil er so ßön desingt hat,« machte jetzt der kleinste der Musikanten sein Recht geltend.

»Is kann noch viel, viel ßöner,« übertrumpfte ihn Edchen – o Schrecken, er hub schon wieder an, und Kurtchen fiel frühlingsjubelnd ein:

»Rote Rosen – rote –
Sie blühen uff 'n Stengel,
Der Herr is ßön – der Herr is ßön,
Die Frau, die is wie n Engel!«

»Potzelement noch mal – kann man denn nicht mehr seine ungestörte Nachtruhe haben« – der »Herr« schien trotz der galanten Schmeichelei von dem Singsang seiner beiden Sprößlinge nicht allzu erbaut zu sein.

Auch dem »Engel« riß die himmlische Geduld, Mutter verwandelt sich in den Engel der Gerechtigkeit.

»Wer noch einmal muckst, kriegt dolle Hiebe und den ganzen Tag weder Mehlweißchen noch Schaumbrezeln!«

Ein zweistimmiges indianermäßiges Geheul folgte Mutters energischen Worten. Erst als der Vater Miene machte, sein Lager zu verlassen, ging das wilde Gebrüll der kleinen Frühlingsboten in ein sanftes Pianissimo über. Dann folgte ein ruckweises Schluchzen, bis sich dasselbe in tiefe Kinderatemzüge auflöste – die beiden kleinen Störenfriede gingen im Traumland weiter Sommersingen.

Aber nicht lange durften sich Baumeisters der zurückeroberten Nachtruhe freuen.

Mit dem Glockenschlag sechs vernahm man draußen auf der Diele ein vielfüßiges Tappeln und Scharren – und diesmal wurde es Ernst.

»Der Herr sitzt uff der Ofenbank,
Er hält den Geldsack in der Hand,
Er wird sich wull bedenken,
Er wird uns wull was schenken!«

so erdröhnte es von plärrenden Knaben- und Mädchenstimmen. Das waren die armen Kinder des Städtchens, die schon vor Tau und Tag den Sommer einsangen.

Herr und Frau Baumeister Günther sahen sich an. Sie wußten nicht, ob sie lachen oder sich ärgern sollten.

»Polizeiwidriger Radau –« brummte Vater, »diese Sitte kann einem faktisch den Aufenthalt hier in Schlesien verleiden!«

»Na, sie findet ja gottlob nur einmal im Jahre statt,« Mutter ging seufzend daran, Toilette zu machen. Denn eher rührten sich die jugendlichen Sänger nicht von der Stelle, als bis ihnen ihr Recht an Mehlweißchen geworden. So lange leierten sie ihre Verse mit ohrenbetäubender Ausdauer:

»Wir könn'n nicht lang mehr stehn,
Uns friert schon an de Been,
Wir müssen 'n Häusel weitergehn!«

»Geht in drei Deibels Namen!« der sonst so liebenswürdige Herr Baumeister stopfte sich die Bettzipfel in die Ohren. Denn auch der Neinerich und der Weinerich waren wieder wie elektrisiert emporgefahren und vereinten ihre mauzenden Stimmchen mit denen draußen.

Als Mutter, mit Tüten beladen, in den Flur hinaustrat, bot sich ihr ein erfreulicher Anblick. In Reih und Glied standen die barfüßigen Frühlingsverkünder, die blaugefrorenen Händchen in die vielfach geflickten Schürzen und zerlöcherten Hosen vergraben. Auf dem Treppengeländer aber ritten, höchst mangelhaft bekleidet, ihre eigenen ältesten drei Rangen.

»Jören, wollt ihr wohl ins Bett, ihr könnt euch ja den Tod holen!«

»Frau Wirtin, die steht vor der Tür,
Sie hat die schönste Schürze für,
'ne Schürze mit 'nem Bande,
Sie ist die Schönst' im Lande!«

statt jeder andern Antwort quiekte Liselotte, der unverbesserliche Strick, diese Zeilen in den höchsten Tönen.

Mutter machte kurzen Prozeß. Wie junge Dachshunde ergriff sie ihre Rangen beim Genick und spedierte sie in die Schlafzimmer zurück, mit der Weisung, sich erst anständig anzuziehen. Sie selbst aber machte sich ans Verteilen der Schaumbrezeln. Dann regnete es Mehlweißchen in seltsame dazu aufgehaltene Geräte. Schulmappen, vorsintflutliche Taschen, hier zerknüllte Filz- und ausgebissene Strohhüte, die Kleine der Waschfrau hielt einen riesigen roten Bauernregenschirm aus, und Kutschers Karlchen sogar eine Hose von Vatern, unten erfinderisch mit Bindfaden zugebunden.

»Kumm ooch« – einer stieß den andern an, und dann stolperten und schurrten sie mit einem »Vergelt's Gott!« wieder hinaus, um das Nachbarhaus zu beglücken.

Marie machte sich brummend an das Fortwischen der kleinen Fußtapfen, aber sie hatte ihr Werk noch nicht beendigt, da erschien schon wieder ein neuer Trupp von Frühlingsboten. Die Lenzesbotschaft nimmt heute kein Ende, bis auch – die Mehlweißchen zu Ende sind.

Baumeisters Rangen halfen redlich dabei, ihnen den Garaus zu machen. Ihre Backen blieben in beständigen Kaubewegungen. Die drei Kleinen zogen mit dem Kindermädchen zu den bekannten Familien zum Sommersingen. Liselotte untergeärmelt mit sämtlichen Kränzchenschwestern, sechs Mann hoch. Norbert aber sah von der Höhe der Tertia mit verächtlichem Lächeln auf die kleinen Würmer, die sich noch an solchen Kindereien beteiligten, herab. Er selbst beteiligte sich lediglich an dem Vertilgen der Mehlweißchen.

Der Sommer war eingesungen, nun konnte er kommen.

Und er kam. Zwar ganz allmählich, aber die Kleinstadtkinder sahen ihn doch eher als die Großstadtjugend.

Die Fliederbüsche setzten Dolden an, der Apfelbaum hüllte sich in ein rosenrotes Knospenkleid, und der Holunder sandte wieder seinen betäubenden Duft.

Ostern stand vor der Tür. Es fiel spät diesmal, man hatte ein langes Schuljahr hinter sich. Morgen war Zensurentag und gleichzeitig Versetzung.

Da schlug manch Kinderherz banger, auch bei Baumeisters warf der Versetzungstag seine düsteren Schatten voraus.

Norbert war seiner Sache ganz sicher. Wenn der Primus nicht in die Obertertia kam, wer sollte denn dann hinein!

Liselotte war schon weniger siegesfroh, das »geliebte Hundeviechel« neulich bei Doktor Schwarz verdarb ihr sicher das »lobenswert« im Betragen, und Mutter hatte Weihnachten geäußert, sie wünsche von nun nur noch die erste Nummer zu sehen, denn das Betragen sei die Hauptsache bei einem wohlerzogenen Mädchen. Versetzt würde sie wohl werden – in die dritte Klasse! Noch ein Jahr, dann mußte Doktor Schwarz »Sie« zu ihr sagen! Dieser Gedanke war so überwältigend, daß kein Raum mehr für Vorahnungen blieb.

Am gedrücktesten schlich der sonst stets fidele Heinz umher. Er hatte es leider bei Vater nicht durchgesetzt, vom Rechnen »pensiert« zu werden, auch zu Störungen war er nach wie vor geneigt, er hatte mächtigen »Bammel« vor der Zensur. Zwar wußte er nicht recht, was »Bammel« eigentlich war, aber Norbert sagte es, folglich mußte er es, als getreues Echo des großen Bruders, wiederholen.

»Hurra – versetzt!« damit steckte Liselotte den braunen Krauskopf in das geöffnete Parterrefenster von Vaters Baubureau. Vater saß an einem Zeichentisch, aber er hatte heute keinen Blick für seine Entwürfe und Berechnungen. In der Hand hielt er ein großes amtliches Schreiben.

Nanu – und Mutti um diese Zeit auch im Bureau, mit roten, erregten Wangen, das schlaue Töchterchen sah auf einen Blick, daß da nicht alles in Ordnung war.

»Ich bin versetzt!« wiederholte sie noch einmal, um einige Grade kleinlauter.

»So –« Vater sah von seinem Schreiben auf, »hm – ich auch!«

»Was – du bist doch kein Schulkind, Vaterchen –« sie sah zum Vater hin, der ein so komisches Gesicht machte. Halb betreten und halb vergnügt. Dann ging ihr fragender Blick weiter zu Mutti, aber aus Mutters Mienen wurde sie schon gar nicht klug.

»Es ist wirklich so« – lächelte jetzt der Vater, »du bist in die dritte Klasse versetzt, und ich – nach Königsberg in Ostpreußen, wo sich die Füchse und Wölfe Gutenacht sagen.«

Jetzt endlich begriff das Beamtenkind.

»Was – fort von hier – von Suse und vom ganzen Kränzchen, gerade jetzt, wo ich in die dritte Klasse gekommen bin – ich gehe aber nicht – ich gehe nicht – das kannst du dem Herrn Minister nur schreiben!« das temperamentvolle Mädel trampelte auf offener Straße mit beiden Füßen.

Gerade ging der Barbier vorüber, der seinen Kunden sofort die große Neuigkeit mit dem Seifenschaum zusammen unter die Nase rieb. Und bald pfiffen es allenthalben im Städtchen die Spatzen von den Dächern: »Baumeisters sind versetzt!«

»Komm' herein, Kind,« befahl der Vater.

Liselotte erschien mit empörtem Gesicht im Baubureau.

»Da es dir so schwer fällt, dich von deinen Freundinnen zu trennen, nun, so will ich dich hier in Pension geben, vielleicht bei Fräulein Rau, die nimmt ja Pensionärinnen auf, zum ersten Mai, denn dann muß ich mein neues Amt bereits antreten.«

»Wenn es nur nicht so schnell gehen müßte,« seufzte nun auch die Mutter. »Schon in zehn Tagen und noch dazu das Fest dazwischen, wie soll man das nur schaffen.«

»Ja, das hilft nun mal nicht, dafür sind wir Beamte, aber mein tüchtiges Weib hat ja noch schnellere Umzüge bewerkstelligt, weißt du, Kind, damals vom Rhein nach Kiel innerhalb dreier Tage. Na, Lilo, wie ist's, sollen wir dich hierlassen?«

Das Töchterchen hatte inzwischen gründlich alle Für und Gegen erwogen.

Bei Fräulein Rau in Pension – schrecklicher Gedanke, sie genoß sie in den Schulstunden gerade zur Genüge. Der Abschied von den Freundinnen war zwar sehr schmerzlich, noch dazu wo man in diesem Sommer einen Tennis- und Schwimmklub gründen wollte, aber wiederum wurde man auch durch die Versetzung zu einer höchst interessanten Persönlichkeit. Und das war ausschlaggebend. Baumeisters Liselotte liebte es sehr, ein wenig den Mittelpunkt zu bilden.

»Suse muß mich besuchen, schon zu den großen Ferien, ja, Vatel – ja, Muttel – und die andern auch, das ganze Kränzchen – au, das wird fein!« das Fräulein Tochter war mit einem Male von der Umwälzung ihres Geschicks höchst begeistert.

»Das ist das Vorrecht der Jugend, uns wird's schwerer, uns von der lieb gewordenen Stätte und den guten Freunden zu trennen, was, Alte?«

Frau Baumeister Günther nickte schweigend mit dem Kopf.

Nun erschienen auch die Brüder. Norbert mit seinem schlarksigen Jungenschritt, und Heinz auffallend langsam hinterdrein trottend.

»Nach Obertertia gekommen, aber Wegener ist wieder Primus, ich bin runtergerasselt, der Kerl büffelt ja auch den ganzen Tag!« Norbert fand absolut nichts Besonderes an der außergewöhnlichen Versammlung in Vaters Bureau. Das weibliche Spürnäschen der Schwester fehlte ihm.

»Na und du?« Trotz des wichtigsten Ereignisses hatte Mutter noch volles Interesse für den etwas betrübt dreinschauenden Heinz.

»Ich weiß nicht, ob ich versetzt bin, Herr Niemann sagte bloß, ich sollt' halt den Zirkus noch mal durchmachen, ich wäre woll für die neue Klasse noch a bissel zu schwach,« Heinz fühlte die Muskeln an seinen kleinen Ärmchen.

Sein sehnlichster Wunsch war, solche Muskeln zu haben wie Norbert.

»Was – sitzen geblieben« – der mütterliche Ehrgeiz begehrte jetzt auf.

»Schäme dich –«

»Nee – ich bin doch nicht sitzen geblieben – wirklich nicht – ich bin doch halt bloß für den neuen Zirkus zu schwach,« beteuerte der Kleine.

»Schwach – zu dämlich meint Herr Niemann, du bist eben für den neuen Zyklus zu vernagelt,« mischte sich jetzt Zankteufelchen hinein.

»Na – vielleicht kommst du in Königsberg in eine höhere Klasse,« begütigte Vater.

»Wo?« Norbert sah in diesem Augenblick nicht gerade geistvoll aus.

Jetzt lachten die drei Wissenden geheimnisvoll.

»Siehste – Vater ist sogar versetzt, und du nicht!« Liselotte konnte es nicht lassen, das kleine Brüderchen noch ein wenig zu piesacken.

»Versetzt – und nach Königsberg – au famos!« Norbert vollführte einen Luftsprung über ein Reißbrett weg.

»Wieso freust du dich denn so darüber?« fragte Mutter erstaunt.

»Na, doch natürlich wegen des Königsberger Marzipans,« Norbert verstand gar nicht, daß ein Mensch nicht zu allererst daran denken konnte.

»Das ist auch ein Gesichtspunkt,« lachte Vater. »Und nun marsch, ihr Rangen, ich habe noch viel zu erledigen.«

Pläne machend und Luftschlösser bauend, zogen sie zu ihrer im lichtgrünen Frühlingsgarten versteckten Villa, die sie nun bald verlassen sollten.

Mutter blieb an der Geißblattlaube, die so viele frohe Stunden gesehen, mit nassen Augen stehen. Sie blickte auf das Blütenmeer der Obstbäume, auf das trauliche, grünumsponnene Heim und seufzte leise: »Wer weiß, ob wir es noch mal im Leben wieder so schön kriegen!«

Dann ging sie energisch an die Umzugsvorbereitungen.

Auch die Kinder machten sich, nachdem sie sich herumgestritten, ob Königsberg am Hals oder am Schnabel des Hahnenkopfs läge, den Deutschland in jener nordöstlichen Ecke bildet, an das Zusammenkramen ihrer Siebensachen.

Norbert hatte drei Tage lang mit seiner Menagerie zu tun. Da war die Schmetterlings- und Käfersammlung, die Karnickelzucht im Verschlag auf dem Hof, die beiden weißen Mäuschen und das Aquarium. Besonders der Transport des letzteren machte viel Kopfzerbrechen, wenn nur Laubfrosch, Eidechse und Blindschleiche die lange Reise gut überstanden!

Aber Norbert hatte einen erfinderischen Kopf und schaffte Rat. Nur daß Mutter sich damit nicht so recht einverstanden erklären konnte. Zu ihrem Entsetzen entdeckte sie den grünen Laubfrosch plötzlich in einem leeren Gurkenglas, die Eidechse hatte der Bengel in seinen weißen Sonntagsstrohhut einquartiert, und die Blindschleiche, die ausgekniffen, besaß sogar die Unverschämtheit, es sich in Vaters rotem Klubsessel bequem zu machen. Liselotte, die viel Humor hatte, legte ihr noch Zeitung und Aschbecher hin, während Heinz und die beiden Kleinen schreiend Reißaus nahmen.

Liselotte hatte ihren Puppenkoffer, den sie mal von Großmuttchen geschenkt bekommen, hervorgeholt. Da hinein pfefferte sie, was ihr gerade in die Hand kam. Schuhchen und Puppenkorsetts, Windelhöschen, abgebrochene Buntstifte, zerrissene Oblaten, Gummizucker, einen Puppenkopf ohne Augen und ohne Haare, Reißnägel, einen abgelutschten Bonbon, und was der Herrlichkeiten mehr waren. Ein fürchterlicher Wirrwarr! Zum Glück kam Muttchen dazu und spedierte den größten Teil des Krempels auf den Komposthaufen hinten im Garten.

Liselotte aber entwischte zu ihrer Suse. Die mußte vor allem erfahren, welches heimliche Komplott man in Berlin im Ministerium gegen ihren Freundschaftsbund gesponnen.

Suse jätete Unkraut im Garten und hob bei Liselottes Näherkommen den Kopf nicht. Sie weinte.

Da wußte Liselotte, daß die Freundin schon durch ihren Vater von der Versetzung erfahren hatte. Beide Arme schlang sie von hinten um die kniende Freundin und preßte ihre heißen Wangen an die tränenbetauten der Freundin.

»Suse – liebe, einzige Suse, das hilft doch nun nischte, ich bin doch nun mal Beamter« – unter Tränen mußte die reifere Suse über den kleinen »Beamten« im kurzen schottischen Kleidchen lächeln.

Als Liselotte ihre Suse erst lächeln sah, da glaubte sie auch schon gewonnenes Spiel zu haben.

»Heule bloß nicht, Susenkind, in den Sommerferien besuchst du mich – gelt ja – und dann wohnen wir wieder zusammen in einem Zimmer, wie in Schreiberhau, und eine Festung ist da, sagt Norbert, da können wir fein »Soldat« spielen, du bist Marketenderin – und denn ist es ganz dicht beim Meer. Und nach Rußland ist auch gar nicht weit, dahin machen wir mal 'ne Landpartie,« Liselotte war bereit, Königsberg sogar nach Sibirien zu verlegen, nur um Suses Tränen zu trocknen.

Die aber flossen immer rascher.

»Lilo, es ist so schrecklich weit weg,« schluchzte das kleine Mädchen.

Das konnte Liselotte als gute Geographin nicht bestreiten, und so wußte sie nichts Besseres zu tun, als ihren Braunkopf an Suses Blondkopf zu lehnen, und mit dieser um die Wette zu heulen.

Zehn Minuten ungefähr gaben sie sich dieser etwas feuchten Beschäftigung hin, dann richtete Liselotte energisch ihr Gesicht empor.

»Nützt nichts – von dem Gejaule und Gemauze wird's halt auch nicht näher – Suse, schwörst du mir ewige Treue bis über das Grab hinaus? Sieh mich mit deinen nassen Hundeaugen an!«

Suse blickte mit dem feuchten Blick eines Hundes, der seinen Herrn verloren, der Freundin in das frische Gesichtchen. Und dann schlang sie in jäher Aufwallung beide Arme um Liselottes Hals und küßte sie innig. »Bis über das Grab hinaus!« wiederholte sie feierlich. Die Freundschaft der beiden Mädchen wurde durch die Trennung nur noch gefestigt.

Arm in Arm gingen sie zu Liselottes Heim zurück, denn Suse hatte der Freundin ihre Hilfe beim Einpacken der Spielsachen angeboten, und Lilo wußte, daß dieselbe nicht zu unterschätzen war.

Dort war das ganze Kränzchen versammelt. Alle waren sie herbeigeeilt, um näheres über die interessante Begebenheit zu hören. Alle machten sie betrübte Gesichter, denn sie hatten die gutherzige, lustige Liselotte lieb, aber so traurig wie Suse war doch keine. Nicht einmal Hanni. Daraus schloß Liselotte eine große Wahrheit: »Man kann nur eine beste Freundin haben!«

Bis Ostern merkte man vom Umzug noch nicht viel bei Baumeisters, denn die Mutter mochte es die Festtage noch nicht ungemütlich haben.

Kurtchen und Edchen befanden sich in grenzenloser Aufregung, daß der Osterhase am Ende denken könnte, sie seien schon in Königsberg, und ihre Eier dort verstecken würde. Aber am Ostersonntag schimmerte es allenthalben im Garten zwischen Gräsern und Buschwerk von farbigen Ostereiern, jubelnd und sich schubsend machten sich die fünf ans Suchen. Denn selbst Norbert und Liselotte, die beiden Großen, verschmähten die Gaben des Osterhasen durchaus nicht.

Am zweiten Feiertage zog das ganze Kränzchen zum Eierberg hinaus, dort wurden die Ostereier herabgerollt, und wer sie auffing, konnte sie behalten. Dabei gab es natürlich stets Zank und Tränen, auch ab und zu eine kleine Mogelei.

»Ob's in Königsberg auch einen Eierberg hat?« diese Sorge beschäftigte Liselotte so sehr, daß sie gar nicht einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen kamen die Packer. Riesige Verschlußkisten brachten sie mit. Als erstes setzten sie in die eine den neugierig zuschauenden Neinerich, der mit lebhaftem »Nein« protestierte, und in die andere den daumenlutschenden Weinerich, der wie am Spieß schrie, weil er glaubte, er solle in der Kiste nach Königsberg verschickt werden.

Es war hochinteressant für Kinderaugen. Die drei Kleinen krochen überall herum und waren jedem im Wege, und die beiden Großen sahen mit strahlenden Blicken zu, wie Kästen und Schränke ihren Inhalt hergeben mußten, an dem sonst nie Kinderhände rühren durften. Den Tumult und die Unordnung, über welche die Eltern stöhnten, fanden ihre Sprößlinge geradezu gottvoll, darum allein lohnte sich eine Versetzung schon.

Und nun war alles untergebracht. Die sonst so gemütliche Villa zeigte kahle Wände und gardinenlose Fenster, nur im Garten sprießte und blühte es, als ob er ihnen das Fortgehen noch besonders schwer machen wollte.

Die Abschiedsbesuche waren erledigt. Auch die Kinder hatten allen Freunden und Bekannten Lebewohl gesagt. In der Schule bei den Lehrern waren sie gewesen, und sogar Fräulein Rau hatte ganz freundliche graue Augen gemacht, als sie Liselotte »viel Glück« für die Zukunft wünschte.

Am letzten Tag brachte Suse der Freundin ein Buch. Ein Poesiealbum war's, in das alle Kränzchenschwestern einen Vers geschrieben. Suse aber hatte selbst gedichtet. Mit gerührtem Blick las Lilo:

»Ach – wir liebten uns so treulich,
Doch das Schicksal kam, das harte,
Lenkt' dein Lebensschiff – 's ist greulich –
Hin zum Pregel – nicht zur Warthe!
Diese Blätter drum, nimm du se,
Und behalt' lieb deine

Suse.«

Auch die letzte Nacht ging vorüber. Die Kinder schliefen wenig vor Aufregung, und Mutters Besorgnis, daß sie nicht zur Zeit aufwachen würden, war umsonst.

Noch einmal gingen sie durch die leere Wohnung. Mit erstaunten Augen sahen die Kinder, wie Vater die weinende Mutter an sein Herz zog mit den Worten: »Wir haben hier glückliche Jahre verlebt, aber das alte Glück nehmen wir mit in das neue Heim, nicht wahr?«

Mutter lächelte unter Tränen.

An seinen Rosenstöcken, die er mit so viel Liebe gepflegt, stand Vater lange. Wer würde sich diesmal an den duftschweren Blüten erfreuen?

Auch Mutters Hand strich liebkosend noch über jeden Obstbaum; jedes Erdbeerpflänzchen umfaßte sie mit liebevollem Blick.

Dann schlug die Gittertür hinter ihnen zu.

Immer wieder wandten die Eltern den Kopf zu dem blütenumsponnenen Haus zurück, aber die Kinder, denen es viel zu langsam ging, zerrten sie weiter.

Junge Menschen blicken vorwärts, nicht rückwärts.

Auf der Bahn war das Kränzchen vollzählig versammelt, alle trugen sie Blumen in den Händen. Auch die Freunde der Eltern hatten sich zum letzten Lebewohl eingefunden. Es war den Kindern doch jetzt auch etwas seltsam zumute. Liselotte wollte ihre Suse gar nicht los lassen.

»Einsteigen« – schrie der Schaffner.

Taschentücher flatterten – Grüßen und Winken hüben und drüben – dann wurden der alte Stadtturm, der als letzter Freund seinen Abschiedsgruß zu ihnen herübersandte, kleiner und kleiner, bis er ganz verschwand.

Liselotte zerdrückte ein paar Tränchen im Auge, Norbert aber, der seinen Schmerz »männlich« bemeistern wollte, begann mit einer durch den Stimmwechsel nicht gerade verschönten Stimme laut zu grölen: »Nun ade, du mein lieb' Heimatland!«

Da fielen auch die andern vier schon ziemlich getröstet mit ein, und unter diesen Klängen rollten Baumeisters Rangen einem neuen Leben entgegen.

* * *


 << zurück weiter >>