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4. Kapitel. Jahrmarkt.

Das kleine schlesische Städtchen stand Kopf.

Wo man sonst nur Vogelsang, melodisches Krähen der Hähne und Entengeschnatter zu vernehmen pflegte, erklang jetzt von morgens bis abends die Musik schriller Blechinstrumente. Seltsam herausgeputzte Menschen, buntbemalte Harlekins in weiten Pluderhosen, Riesendamen, Zwerge mit merkwürdig alten Gesichtern, Kunstreiter und Tierbändiger zogen über den Marktplatz, gefolgt von der johlenden, Mund und Nase aufsperrenden Stadtjugend.

Aus der Bergmannschen Töchterschule, aus dem Gymnasium jenseits des Marktes, flog manch ein Blick über die niedrigen Dächer hinweg bis zu den Wiesen hinter dem altersgrauen Stadttor, auf denen über Nacht die ganze Herrlichkeit emporgewachsen war. Bude reihte sich an Bude mit allerlei lustigem Krimskram. Spielzeug, Pfefferkuchen, Bänder, Taschenmesser, aber auch Kleidungsstücke für die aus den umliegenden Dörfern zum Jahrmarkt kommenden Bauern.

Hier wurden dressierte Flöhe vorgeführt, dort der gelehrige Pudel, der besser rechnen sollte als mancher Tertianer. Bei den lustigen grünen Wagen mit den sauberen Gardinen an den winzigen Fensterchen prophezeiten Zigeuner die Zukunft. Da gab es einen Irrgarten und ein Lachkabinett. Das schönste aber war das Automatenkarussell, die amerikanische Schaukel und die Rutschbahn. Besonders letztere! Die Schuljugend lebte und webte nur noch in dieser Rutschbahn. Wenn sich Liselotte die dicke französische Grammatik unterlegte, konnte sie sogar von ihrem Klassenplatz aus im Sitzen die rotblaue Fahne, welche die Rutschbahn krönte, im Winde wehen sehen. Diese flatternde Fahne nahm die Aufmerksamkeit des kleinen Fräuleins so stark in Anspruch, daß nur zu oft all ihre Gedanken mit davonflatterten. Soviel Rügen wegen mangelnder Aufmerksamkeit hatte es noch nie gesetzt. Es fehlte nicht viel, dann wäre Liselotte schon wieder auf die Strafbank gerutscht, und daran war nur die – Rutschbahn schuld.

Auch heute beim grammatikalischen Zergliedern der Sätze zog die bunte Jahrmarktsfahne magnetisch ihre Blauaugen an. Während es um sie herum von Haupt- und Nebensätzen, von Subjekt und Prädikat schwirrte, dachte sie mit verklärten Blicken der voraussichtlichen Freuden des Nachmittags.

Eigentlich war Kränzchen heute. Aber in Anbetracht des betrübenden Umstandes, daß der Jahrmarkt bald zu Ende ging, hatte man einstimmig beschlossen, die gemeinsame Zusammenkunft der Kränzchenblumen auf die Jahrmarktswiesen zu verlegen.

Liselotte rechnete gerade aus, ob sie wohl den tönernen Mohrenkopf, der ihre Sparpfennige barg, um ganze fünfzig Pfennige erleichtern könne, ohne Mutters in Aussicht stehenden Geburtstag allzusehr zu berauben, da bemerkte Fräulein Rau ihre Unaufmerksamkeit.

»Liselotte Günther, wo bist du mit deinen Gedanken?«

Liselottes selige Blicke rissen sich von der farbenfrohen Flagge los und kehrten über das bunte Herbstlaub der Gärten wieder in die vierte Klasse zurück.

»Woran du gedacht hast, will ich wissen?«

»An den Jahrmarkt,« Liselotte sagte es in einem Tone, als ob man überhaupt gar nicht daran zweifeln könne.

»Ich finde es durchaus nicht so selbstverständlich, daß du in der Grammatikstunde an Allotria denkst. Du hast dich in den letzten Wochen zusammengenommen, Liselotte, ich war so ziemlich mit dir zufrieden. Aber seitdem die Taschenspieler ihren Einzug gehalten, bist du rein zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich werde euch den Besuch des Jahrmarkts noch ganz untersagen.«

Lieber Gott – nur das nicht! Sechs Blümelein beteten es aus angstvollem Herzen, denn auch die anderen Kränzchenschwestern erwarteten ungeduldig den Nachmittag.

Noch ein Gutes hatte der Jahrmarkt. Er betäubte mit seinem Lärm und Radau eine recht unbequeme Stimme in einem Kinderherzen, die sich immer und immer wieder meldete.

»Ich kann doch nichts dafür, wenn Hilde von Thielen mit Suse Bertram kein Kränzchen haben will!« Das hatte sich Liselotte schon unzähligemal zum Trost vorgebetet.

Aber merkwürdig – die lästige Stimme gab sich damit nicht zufrieden. Die war immer anderer Meinung als Liselotte.

»Du hast ja gar keinen Versuch gemacht, Hilde umzustimmen. Du hast ja feige geschwiegen und dich damit zu Hildes Bundesgenossin gemacht,« quälte das Gewissen. »Suse Bertrams Freude, ihre letzten Rosen, hast du genommen, du hast die Suse erst geküßt und dann verraten! Pfui!«

Manchmal mitten im fröhlichsten Spiel, im übermütigsten Kränzchenbeisammensein raubte ihr diese innere Stimme alle Freude und jeden kindlichen Frohsinn. Liselotte war ärgerlich darüber, aber statt ihren Fehler gut zu machen, verschlimmerte sie ihn noch. Sie grollte Suse Bertram und maß ihr heimlich die Schuld an ihrem schlechten Gewissen bei. Sie war ungleich und launenhaft zu ihr, bald abstoßend, bald wieder freundlich, ja zärtlich; das war, wenn sie sich gar zu sehr vor sich selbst schämte. Meist aber war sie hochfahrender gegen sie als je.

Suse war am Tage nach Hildes Blumenfest mit übervollem Herz in die Schule gekommen. So glücklich war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gewesen. Sie hatte eine Freundin, eine Freundin, die sie geküßt, und diese langersehnte Freundin war Liselotte. Das blasse Mädelchen war ordentlich rosig vor innerer Freude.

Aber als sie der neuen Freundin herzlich die Hand zum Gutenmorgen entgegenstrecken wollte, da hatte diese gerade angelegentlich mit Hanni Diefenbach zu tuscheln und tat, als ob sie Suses angebotene Rechte nicht bemerkte. In der Stunde sah Liselotte, die ihre Augen sonst überall herumschweifen ließ, unausgesetzt zum Katheder, um bloß den still fragenden Augen ihrer Nachbarin nicht zu begegnen.

Zuerst entschuldigte die gute Suse sie vor sich selbst, aber dann war es auch dem besten Herzen nicht mehr möglich, die Kränkungen und Zurücksetzungen entschuldbar zu finden. Suse Bertram wurde still und gedrückt. Sie hörte mit traurigen Augen und freundlich lächelndem Munde zu, wenn man, über sie hinweg, davon sprach, wie lustig es wieder im gestrigen Kränzchen zugegangen sei. Daß man auf Maßliebchens Tennisplatz herrlich gespielt, was man beim Steckbriefschreiben neulich bei Apothekers gelacht, und daß man nirgends so ausgelassen umhertoben konnte als mit Baumeisters Rangen. Und im Winter, da wollte man Schillers Dramen mit verteilten Rollen lesen, das würde einfach himmlisch werden. Besonders letztere Vornahme erweckte in dem Herzen der für alle Dichtungen begeisterten Suse den stillen Wunsch: Wenn ich doch dabei sein könnte!

Auch der heutige Jahrmarktsbummel war von den Blumenschwestern mit glänzenden Farben ausgemalt worden. Die eine wollte dies sehen, die andere jenes, in der Rutschbahn aber trafen sich aller Wünsche.

»Also Punkt halb vier an der Stadtkirche – leb wohl, Glockenblume – auf Wiedersehen, Maßliebchen – Rosenelfchen, sei pünktlich – wenn nur der Glücksklee nicht auf sich warten läßt!« Hilde von Thielen, die doch nicht gut Gärtnerin im Blumenbund bleiben konnte, war im ersten Kränzchen feierlichst »Glücksklee« getauft worden.

»Mutti – ich darf doch heute auf den Jahrmarkt – das ganze Kränzchen hat sich verabredet –« so stürmte Liselotte in das Speisezimmer.

»Au fein« – die Braunaugen von Heinz strahlten – »au fein!« wiederholten auch Neinerich und Weinerich wie aus einem Munde.

»Wieso denn – was geht euch denn das an, wenn ich mit meinen Freundinnen zum Jahrmarkt will?« fragte Liselotte mißtrauisch.

»Muttel hat's uns versprecht – Muttel hat desagt, du dehst heute mit uns – Muttel, sie will niß!« Der Weinerich verzog bereits den Mund weinerlich zu einem Viereck.

»Nein, ich will auch nicht,« das große Mädel, das den Kleinen ein gutes Beispiel sein sollte, tramste mit dem Fuß auf, »ich habe mich mit meinen Freundinnen verabredet, und ich bin kein Kindermädel, daß ich ein Vierteldutzend Jören hinter mir herzotteln soll,« auch ihr schossen die Tränen der Empörung in die Augen.

»Ja, Kind, dann wirst du eben zu Hause bleiben müssen, Vater und ich fahren heute zur Einweihung der neuen Kirche, die Vater gebaut hat, über Land. Ich habe es den Kleinen versprochen, aber wenn du dich so ungezogen benimmst, bleibt ihr allesamt zu Hause.«

Vierstimmiges Geheul folgte auf Mutters energische Worte.

»Auf nichts kann man sich mehr freuen, alles wird einem durch die kleinen Würmer verdorben,« so schluchzte das Töchterchen.

»Immer will sie sich allein amesieren, immer schaniert sie sich mit uns vor ihren dämlichen Freundinnen –« machte Heinz seinem gekränkten Herzen Luft.

»Was führt ihr denn schon wieder für ein melodisches Konzert auf?« der eintretende Norbert hielt sich die Ohren zu. »Nicht alle auf einmal, ich verstehe ja keinen Ton, erst du, Lilo –«

»Ich soll die kleinen Krabben zum Jahrmarkt mitnehmen, wo doch unser Kränzchen sich dort verabredet hat – – –«

»Und wenn se so eklig is, denn gehen wir eben solu,« schrie Heinz voll Unternehmungsgeist dazwischen.

»›Solu‹ zu gehen brauchst du nicht, mein Sohn,« lachte Norbert gutmütig, »dich nehme ich an die Leine. Ich habe mich auch mit meinen Jungs bei den dressierten Flöhen verabredet. Na, und die zwei Knirpse wird Liselotte schon unter ihre Fittiche nehwas?«

Sein gutes Vorbild wirkte. Liselotte brummte zwar noch etwas Unverständliches, aber sie schien sich allmählich mit ihrem Schicksal auszusöhnen.

»Gib mir gut auf die Kleinen acht und vertragt euch,« rief Mutter noch zurück, als sie bereits im Wagen saß.

An der einen Hand den Neinerich, an der anderen den Weinerich, der sich mit seinen kurzen, dicken Beinchen etwas ziehen ließ, traf Rosenelfchen mit unglücklichem Gesicht Punkt halb vier auf dem Sammelplatz ein.

»Och – du bringst das Kleinzeug mit!« der Glücksklee schien nicht sehr erbaut.

»Mußte« – Rosenelfchen hielt sich für das bedauernswerteste Geschöpf auf Gottes Erde, während die beiden Vergißmeinnicht sich freundlich zu den hübschen, kleinen Burschen niederbeugten.

»Sie stören doch gar nicht, kommt, ihr geht mit uns,« Hanni und Anni ergriffen jede eins der Patschhändchen.

Ja, die hatten gut reden, die hatten nur eine Schwester, dachte Liselotte, während ihr die Beschämung glühende Röte in die Wangen trieb.

»Wir sind sreckliß reiß, wir haben von Vatel ein Pfenniß deßenkt dekrist,« Kurtchen öffnete seine fest zusammengepreßte Hand und wies Hanni zutraulich seinen aus zehn Pfennigen bestehenden Schatz.

»Was wollt ihr euch denn dafür kaufen?« fragte das jüngere Vergißmeinnicht lächelnd.

»'Nen tressierten Floh!« wie aus einem Munde stießen Weinerich und Neinerich das höchste Ziel ihrer Wünsche heraus.

Die Blümchen lachten, Liselotte aber meinte ungeduldig: »Gebt euch doch bloß nicht mit den kleinen Möpsen so viel ab, kommt lieber schnell zur Rutschbahn!«

Ohrenbetäubender Lärm empfing die hübschen Mädchenblüten auf den Jahrmarktswiesen.

»Ran, immer ran, meine Damen, hier ist der Fliegende Holländer zu sehen,« so rief ihnen ein Budenbesitzer zu.

Das Kränzchen blieb stehen. Denn wenn so freundlich »meine Damen« zu einem gesagt wird, hat man doch eine gewisse Verpflichtung.

»Wollen wir reingehen?« Hilde zog ihr Portemonnaie aus der Tasche.

»Quatsch mit Soße – wir wissen ja nicht mal, was das bedeutet ›Fliegender Holländer‹, oder wißt ihr's etwa? Kummt ooch mitte zur Rutschbahn,« Liselotte setzte sich als Leithammel in Trab.

Hilde machte ein Gesicht, als ob sie ganz genau wisse, was der »Fliegende Holländer« sei, und dabei hatte sie in ihrem zwölfjährigen Leben weder etwas von dem holländischen Geisterschiff noch von der gleichnamigen Oper gehört.

»Ran, immer ran, mein Fräulein,« rief jetzt der Budenbesitzer von neuem.

»Man muß etwas für seine Bildung tun,« damit verschwand Hilde in Gesellschaft von Doktors Ilse in dem Leinwandzelt.

Aber nicht lange, so standen Glücksklee und Maßliebchen mit ziemlich verdutzten Gesichtern wieder draußen.

»Es war sehr sehenswert,« bemerkte Hilde, aber was eigentlich so sehenswert gewesen, das schien sie allein nicht zu wissen.

Maßliebchen aber vertraute ihrer Intima Glockenblume an: »Unverschämt war's – ein großer Holländer Käse hing halt da an einer Schnur und flog durch das Zelt, das war alles – nischte sonst – dafür haben sie uns jedem 'nen Groschen abgeknöpft!«

Wie die anderen davon etwas herausbekommen hatten, war unverständlich, denn Freundinnen pflegen doch über anvertraute Geheimnisse unverbrüchliches Schweigen zu halten. Aber erfahren hatte man was, und die beiden Blümchen wurden mit dem Holländer Käse noch lange geneckt.

»Auf, zur Rutschbahn!« hieß es jetzt.

Aber der Neinerich stieß ein energisches »Nein!« heraus, und der Weinerich, der stets per »er« von sich zu sprechen pflegte, jammerte: »Niß doch, er will siß die tressierten Flöhe ansehen.«

»Blökt doch nicht, ihr geht hin, wo ich will,« Liselotte, die sah, daß die beiden Vergißmeinnicht sich ihrer jungen, heulenden Kavaliere zu schämen begannen, nahm Edchen und Kurtchen nicht gerade sanft an die Hand.

Ob sie wohl heute überhaupt noch mal zur Rutschbahn kamen? Bald zerrte der Neinerich nach rechts zu den Riesen hinüber, bald riß sie der Weinerich nach der entgegengesetzten Seite zu den »niedlißen Zergen«. Und was sie für ihren einen Groschen alles unternehmen wollten! Karussell fahren, schaukeln, in jede Schaubude hinein und würfeln. Wenn die dressierten Flöhe nicht gewesen wären, hätte Liselotte die beiden Jünglinge sicher nicht bis zur Rutschbahn bekommen.

»So, jetzt bleibt ihr hier artig stehen und seht zu, wie wir Rutschbahn fahren.« Rosenelfchen postierte die beiden Kleinen gleich Schildwachen auf jeder Seite und nahm mit ihren Blumenschwestern hoch oben auf der Rollbahn Platz.

»Juchhu« – da sauste das ganze Kränzchen wie die wilde Jagd zur Tiefe hernieder.

Die Augen blitzten, die Backen glühten, und die Locken wehten.

»Noch mal – famos –« wieder sausten die jungen Damen unter Lachen und Schreien hinunter.

Der zweite Groschen war futsch.

»Ist mir höchst wurscht, ich fahre für meine fünfzig Pfennig nur Rutschbahn, das ist das Idealste an dem ganzen Jahrmarkt!« Die wilde Rose war die wildeste von allen Mädchenblumen.

Rutschbahn fahren ist sicher ideal, aber nur – wenn man es selbst darf. Beim drittenmal fanden Edchen und Kurtchen die Sache reichlich langweilig.

»Er will auch Rutsbahn fahren, zugucken is dar niß ßön!« plärrte der Weinerich.

Aber Liselotte hatte was anderes zu tun, als auf das unzufriedene Publikum zu hören. Die mußte ihr losgegangenes Zopfband in die Tasche bugsieren und flog jetzt mit wild im Winde flatternden braunen Locken die Bahn entlang.

»Wollen wa herleine zu den tressierten Flöhen dehen?« schlug Kurtchen, zwar der Kleinere, aber doch der größere Tunichtgut, seinem Brüderchen vor.

»Nee« – meinte Edchen, aber eigentlich nur aus Gewohnheit, denn er war mit Kurtchens Vorschlag durchaus einverstanden.

»Hier is langweilis, wenn de niß mittommst, denn rückt er danz herleine aus,« Kurtchen setzte sich in Trab. Edchen gehorsam hinterher.

Liselotte bemerkte es nicht. Die war gerade im Begriff, ihre vorletzten zehn Pfennige dem Rutschbahnvergnügen zu opfern. Sie bemerkte auch nicht, daß zwei ernste graue Augen schon eine ganze Weile dem lärmenden, unmädchenhaften Treiben der Schülerinnen der vierten Klasse zugeschaut hatten. Aber als die Blümelein, die wilde Rose an der Spitze, jetzt mit einem jauchzenden Schluß-Juchhu wieder auf festem Boden anlangten, da wären sie vor Schreck beinahe vom Stengel gefallen. Denn vor ihnen stand ihre Klassenlehrerin, Fräulein Rau.

»Schämt ihr euch denn gar nicht,« strafend sahen die gefürchteten Augen eine nach der andern an, »euch hier wie wilde Gassenjungen zu gebärden. Ich bin von meinen Schülerinnen gewöhnt, daß sie sich auch außerhalb der Schule als wohlgesittete Mädchen benehmen. Ihr beide auch dabei, Hanni und Anni Diefenbach, und sogar Ruth, eine Pastorstochter, das wundert mich doch sehr!« Die Blondköpfe der Vergißmeinnicht und Glockenblume sanken tief herab, als ob sie kalter Rauhreif getroffen hätte. »Und Liselotte Günther natürlich wieder allen voran im Schreien und Toben, schämst du dich denn nicht, Mädchen, hier mit solcher Löwenmähne herumzulaufen,« Liselotte griff entsetzt in ihre zerwehten Locken. »Ihr geht jetzt still und sittsam nach Hause, der Jahrmarktsbesuch ist künftig in meiner Klasse verboten!« Damit schritt Fräulein Rau von dannen.

»Warum warst du auch nicht von der dummen Rutschbahn fortzukriegen, siehste, nu haste den Salat!« sagte Glücksklee erbost zu Rosenelfchen.

»Na gestatte mal gefälligst, ihr habt ebensoviel Schuld wie ich, ihr habt auch geschrien, und du hast sogar immer ›all Heil‹ gerufen – – – –«

»Kinder, kabbelt euch doch nicht, wir haben uns alle ungehörig benommen, nun wollen wir wenigstens möglichst schnell nach Hause gehen, gelt,« schlug die ganz geknickte Glockenblume vor.

»So 'ne Gemeinheit – ich habe noch gerade zehn Pfennige« – Liselotte warf einen zärtlich abschiednehmenden Blick zur Rutschbahn hin.

Arm in Arm zogen die Blümchen traurig von dannen.

»Herrgott – wo sind denn meine Jören?« Liselotte blieb plötzlich an dem Wachsfigurenkabinett stehen.

»Hanni, hattest du sie nicht – – –« aber Hanni hatte keine Ahnung, und auch bei Anni waren sie nicht.

»Ich muß noch mal umkehren, Kinder, ich habe die Bälger an der Rutschbahn vergessen,« sie lief im Sturmesschritt zu dem Ort ihrer Heldentaten zurück. Die andern, die froh waren, noch einen Grund zum längeren Verweilen auf dem Jahrmarkt zu haben, hinterdrein.

»Edchen – Kurtchen –« Liselotte umkreiste rufend die Rutschbahn.

Kein Kurtchen und kein Edchen war zu sehen.

»Um Gottes willen, sie waren doch noch eben hier, wo mögen die Jungs bloß hin sein, am Ende haben sie sich versteckt, dann setzt es aber was,« Liselotte kriegte es jetzt doch mit der Angst.

»Kurtchen – Edchen –« so riefen die sechs Blumen verstört – umsonst!

Die krausen Blondköpfe blieben unsichtbar.

»Ach, wäre ich doch niemals Rutschbahn gefahren!« Liselotte begann herzbrechend zu weinen.

»Jammern nützt nichts,« sagte die praktische Ilse, »sie werden sich halt die Buden ansehen, wir müssen sie suchen.«

Mit pochendem Herzen machte man sich auf die Suche. Rosenelfchen wieder allen voran. Aber diesmal nicht lachend und jauchzend, sondern schluchzend und händeringend.

»Haben Sie nicht zwei kleine blonde Jungen in hellblauen Leinenkitteln gesehen?« so fragte sie den Besitzer der Riesen und der Zwerge. Aber weder Zwerge noch Riesen hatten die beiden kleinen Flüchtlinge gesehen. Weiter – weiter – sie rannte wie besessen durch die lachende Menge – schimmerte es da unten nicht von blonden Löckchen – nein, es waren zwei junge Löwen, die ihre Kunststücke zeigten. Keinen Blick hatte Liselotte jetzt mehr für die Wunder des Jahrmarkts – »lieber Gott, laß mich bloß die Kleinen wiederfinden,« so betete sie aus angsterfülltem Herzen.

Ob sie im Lachkabinett waren? Ja – vor kurzem seien zwei kleine Burschen drin gewesen, aber ob sie schon wieder heraus seien, das wollte der geschäftskluge Besitzer nicht wissen. Es half nichts, Liselotte mußte ihren letzten Groschen drangeben.

Sie raste durch das Lachkabinett, rechts und links, oben und unten sah sie sich in greulich verzerrten Linien in angebrachten Spiegeln, bald winzig klein und dick, bald mit wahrem Giraffenhals, lang und mager. Aber während die andern Besucher lachten und vor Vergnügen quietschten, weinte Liselotte selbst hier im Lachkabinett. Denn ach – Edchen und Kurtchen waren nicht drinnen.

»Am Ende sind sie bei den Zigeunern,« tröstete Hilde die fassungslose Liselotte.

Ein netter Trost – Liselotte fühlte, wie ihr Herzschlag vor Schrecken aussetzte. Hatte das Kindermädel nicht erst gestern erzählt, daß die Zigeuner und Komödiantenleute kleine Kinder stahlen ... sie flog wie gehetzt durch die Reihen bis zu den lustigen grünen Wagen.

Es war keine Vorstellung.

Die Zigeuner lagen, in bunte Fetzen gehüllt, vor ihren Wagen auf der Wiese in der Sonne.

»Habt ihr zwei kleine Knaben gesehen?« Liselotte war die einzige, die sich an die braunen Gesellen heranwagte.

Sie antworteten nicht und zeigten grinsend ihre weißen Zähne.

»Habt ihr zwei Kinder gesehen?« Liselotte schrie, als ob sie taub seien.

Die zuckten die Achsel, sie verstanden nicht. Ein junges Zigeunermädel aber mit brennend schwarzen Augen trat auf die zurückweichende Liselotte zu.

»Nix sehen armes Zigeuner – aber wissen – viel wissen – Zukunft wissen – sollen kleines Dame Zukunft sagen?« sie streckte ihre braune Hand nach Liselottes weißer aus.

»Sage mir, wo meine Brüder sind, aber ich habe kein Geld mehr,« flehte Liselotte.

»Dann kluges Zigeuner nix kann wissen,« das schwarzhaarige Hexlein mischte sich wieder unter ihre Genossen.

»Sie werden sie in den Wagen versteckt haben, aber ich finde sie!« Liselotte kletterte wie eine Katze an den Rädern des fahrenden Häusleins empor und spähte durch die kleinen Fenster. Der Wagen war leer. Auch der zweite. Im dritten aber, an dem das Rosenelfchen emporturnte, erschien das Gesicht eines alten, häßlichen Zigeunerweibes plötzlich am Fenster. Da nahm selbst die mutige Liselotte Reißaus.

Aber was nun?

Ratlos sahen sich die Freundinnen an.

»Ich weiß, wo sie sind, wie konnte ich bloß so dämlich sein und nicht daran denken,« rief Hanni plötzlich. »Bei den dressierten Flöhen finden wir sie ganz sicher,« Hanni lief, so schnell sie nur konnte, der Freundin voran.

Liselotte folgte ein klein wenig hoffnungsvoller.

Ja – da würden sie ganz sicher sein!

Der Budenbesitzer lud die jungen Fräuleins freundlich zu einer Besichtigung seiner hervorragenden Pfleglinge ein. Aber die jungen Fräuleins hatten anderes zu denken als an dressierte Flöhe.

»Waren vielleicht zwei kleine Knaben in blauen Leinenkitteln hier?« fragte Liselotte mit stockendem Atem.

Der Flohbändiger lachte gemütlich.

»Jawoll, die sind da jewesen, so 'ne kleenen Schlingels, wollten sich durchaus einen dressierten Floh kaufen, aber als sie berappen sollten, da hatten sie ihr Jeld verloren. Na, ich habe ihnen jratis zu einer Vorstellung rinjelassen, weil se so drollig waren, und der eene jar zu jämmerlich mauzte.«

»Das waren sie – das war der Weinerich – ach, lieber Herr, wo sind sie – sind sie noch drinnen?« Liselotte wollte spornstreichs durch den Zelteingang.

»Sachteken – immer sachte –« der Flohbesitzer kratzte sich bedenklich den Kopf – »bar Jeld lacht – wenn Se rin wollen, 'nen Jroschen Entree!«

»Ich borge dir, Rosenelfchen,« Maßliebchen drückte der abgebrannten Liselotte flink ein Geldstück in die Hand.

»Sind sie denn auch sicher drin?« fragte Liselotte noch mal.

»Na woll – immer –«

»Gott sei Dank –« wie eine Bergeslast wälzte es sich von dem Herzen des kleinen Mädchens. Sie und Hilde, die auch dabei sein wollte, bezahlten ihren Groschen und betraten das Heiligtum.

Da zogen auf einem weißen Tischtuch sechs schwarze Punkte ein winziges Wägelchen. Von Edchen und Kurtchen keine Spur.

»Wo sind sie denn – wo?« Liselotte schaute erregt in alle Ecken.

»Na, da – kieken Se doch«– – –der Mann wies stolz auf die schwarzen Punkte.

»Ach, die« – machte Hilde verächtlich, – »wir meinen doch die beiden Kleinen« –

»Die sind ooch dabei, hier die zwee ans Ende, det sind die jingsten von die janze Flohjesellschaft.«

»Aber meine Brüder, die kleinen Knaben von vorhin, Sie sagten doch, sie wären drin – – –«

Liselotte starrte den Mann fassungslos an.

»Die – nee – die sind schon längst wieder heidi – ick dachte, Se meinten meine dressierten Flehe,« damit komplimentierte er die jungen Fräuleins hinaus.

Bestürzt sahen die Freundinnen sie ohne die Kinder zurückkommen.

»Das richtigste ist wohl, nach Hause zu gehen, vielleicht sind sie inzwischen heimgegangen,« schlug Ruth kleinlaut vor.

Liselotte rang die Hände.

»Ich gehe nicht nach Hause, und wenn Fräulein Rau mir auch einen Tadel einschreibt, ich kann meinen Eltern nicht so vor die Augen kommen – und Muttchen hat noch extra gesagt, ich soll gut acht auf sie geben – ach, ich bin ja so unglücklich!«

»Warum denn, Lilo – war die Rutschbahn nicht fein – was macht ihr denn für Gesichter – was ist denn los, Mädels?« Norbert und seine Kameraden standen plötzlich vor der Blumenschar.

Heinz sprang an der Schwester empor.

»Es war viel famosiger als mit dir, geschaukelt hab' ich, und Karo – selbst bin ich gefahren, immer im Kreis rum mit Musik, und den gelehrten Pudel, den kauf' ich mir, der soll für mich die ollen Rechenarbeiten machen – – –« Liselotte hörte gar nicht, was der Kleine schwatzte.

»Norbert, hast du die Kinder nicht gesehen, unsere Kinder sind weg!« sie packte den Bruder an einen Jackenknopf.

»Was – Deibel auch – wo hast du sie gelassen?«

»Bei der Rutschbahn waren sie zuletzt, und dann habe ich sie verloren, und nun suchen wir sie schon überall seit einer Stunde, ach, Norbert, was machen wir denn bloß – –«

»Wir suchen weiter, werden sie schon finden – weine doch bloß nicht so, Lilo – wart ihr schon im Irrgarten – nee – da sind sie sicher, da kann man sich eklig verbiestern.«

Der Hoffnungsschimmer war nur schwach, aber der Ertrinkende klammert sich ja an einen Strohhalm.

Man verteilte sich, die Mädchen und die Tertianer, jeder zog einzeln in die Wirrnis hinein, und wer die Verschwundenen fand, sollte am Eingang mit ihnen Posto fassen. Nur Heinz behielt Norbert fest an der Hand, damit er nicht etwa auch noch flöten ging.

»Wenn sie doch erst da wären – guter Gott, wenn sie doch bloß erst wieder da wären, wie lieb wollte ich sie haben! Ich war schlecht zu ihnen – und das ist jetzt die Strafe!« so jammerte Liselotte vor sich hin.

Als sich die junge Schar wieder vollzählig aus dem Gewirr des Irrgartens zum Eingang zurückgefunden, hatte keiner einen Erfolg zu verzeichnen.

Die Abenddämmerung kam bereits zwischen den Buden hervorgekrochen, und auf den Wiesen stieg feuchter Nebel auf.

»Wir müssen nach Haus,« sagten die Freundinnen leise.

»Wir auch,« Norbert, der selbst voller Sorge war, ergriff herzlich den Arm der jüngeren Schwester. »Rege dich nicht so fürchterlich auf, Lilo, paß auf, die Bengel sind längst zu Hause.« Er zog die verzweifelte Liselotte mit fort von dem lustigen Jahrmarkt.

»Wir kummen mitte,« sämtliche Mädchen und Jungen begleiteten sie teilnehmend.

Jeden Vorübergehenden fragte man, ob er nicht die kleinen Brüder gesehen. Und bald wußte man es im ganzen Städtchen: »Baumeisters kleinste Rangen sind weg!«

Als sie in die Bahnhofstraße einbogen, in der die väterliche Villa lag, blieb Liselotte stehen. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen.

Da – was war das? Kamen da nicht zwei kleine blaue Bürschchen auf sie zugelaufen? Hingen sie ihr nicht am Halse – ja – Liselotte preßte die kleinen Brüder so fest ans Herz, als ob sie ihr im nächsten Augenblick wieder entschlüpfen könnten.

»Wir können niß dafür – du bist mit einemmal verloren gegangen,« rief Edchen eifrig.

»Er is danz herleine bei den tressierten Flöhen dewesen,« setzte Kurtchen stolz hinzu.

»Hauste uns auch niß?« erkundigte sich Edchen trotz der Liebkosungen noch vorsichtig.

Ach – Liselotte wußte, wenn einer Haue verdiente, dann war sie das!

Und wer stand denn dort mit glücklich leuchtenden Augen am Gartentor? Suse Bertram – wie kam die denn hierher?

»Ich habe sie gefunden – ich war mit meinen Geschwistern auf dem Jahrmarkt, da traf ich die weinenden Kinder. Sie suchten dich und ich half ihnen. Aber weil wir dich nicht fanden, glaubte ich, es sei besser, ich bringe sie nach Haus, denn dort würdest du doch sicher nachfragen. Du hast dich wohl schön gesorgt, du armes Ding,« Suse streichelte Liselottes verstörtes Gesicht.

Wortlos streckte ihr Liselotte beide Hände hin. Wieder war es Suse Bertram, die Böses mit Gutem vergalt!

Sie wollte aber auch ganz gewiß niemals wieder häßlich zu ihr sein, das gelobte sich Liselotte heilig, als sie endlich nach dem aufregenden Tage erschöpft in ihrem Bette lag. Und ihre Brüder, die wollte sie von nun an so lieb haben – so lieb – wenn es auch nur Jungs waren.

Ja, für wie lange?

* * *


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