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7. Kapitel. Ungehorsam.

Der Kastanienbaum im Schulhof klopfte mit dürren Zweigen an das Klassenfenster. Der Herbststurm zauste ihn umbarmherzig und fegte hohnlachend seine letzten gelben Blätter davon.

Das Winterschulhalbjahr hatte begonnen.

Suse Bertram war die Erste der ersten Bank, Liselotte die Letzte. Diese äußere Trennung war nicht dazu angetan, die innerliche zwischen den beiden Mädchenherzen zu überbrücken. Früher hatten die benachbarten Plätze doch noch so manche Gemeinschaft bewirkt, nun fiel auch diese fort. Liselotte sah jetzt erst, wieviel sie der fleißigen, bescheidenen Nachbarin verdankte. Suse war immer präpariert, jede französische Vokabel schrieb sie sorgsam auf, und Liselotte, die sich mit derartigem »Kram«, wie sie es nannte, nur flüchtig einzulassen pflegte, benutzte mit Seelenruhe Suses freundlich hingeschobenes Vokabelheft. Aber nun hieß es, selbst zu Hause die Vokabeln aus dem großen Lexikon heraussuchen, denn ihre neue Nachbarin, Ilse Peters, war ebenfalls gewöhnt, ihr Leben in der Schule von milden Gaben zu fristen. Das kam Liselottes Kenntnissen und ihrem Fleiß entschieden zustatten, weniger vorteilhaft war es, daß zwei Kränzchenschwestern nebeneinandersaßen. Denn das Doktortöchterchen war fast ebenso lebhaft und zu allerhand dummen Streichen aufgelegt, wie das des Baumeisters. Es bedurfte Rosenelfchens ganzer Willenskraft, um nicht auf Maßliebchens Schnurren und Flausen während des Unterrichts einzugehen, denn Liselotte hatte sich ein Ziel gesetzt.

Sie hatte sich fest vorgenommen, sich in diesem Vierteljahr die schöne Berliner Ferienreise nachträglich zu verdienen, nicht nur »gut« wollte sie im Betragen erringen, nein, sogar lobenswert. Das war für die quecksilbrige Liselotte, der in einer Sekunde zehn verschiedene Dummheiten durch den lustigen Krauskopf spukten, nicht viel leichter, als Chinesisch zu lernen. Fast jeden Tag erlitt sie bei einem Haar Schiffbruch.

»Aber meine Mutti war so rührend und hat mir trotz des Wischs von Zensur die Reise erlaubt, da muß ich ebenso anständig sein und ein frommes Tugendschaf werden,« verkündete sie im Kränzchen, wenn Ilse sie als Vorbild eines Musterknaben aufstellte.

Das sahen alle Kränzchenblumen ein. Mit offenen Armen war die wilde Rose im Bund der Blümelein wieder empfangen worden.

»Einfach tranig war's ohne dich!« – »Denke bloß, Hilde hatte Amtmanns Lenchen dazu gebeten, was doch eigentlich gegen die Kränzchenstatuten verstößt, aber das quatschige Ding hat von nichts anderem geredet, als wie sie Suse Bertram übertrumpfen wolle –«

»Das soll ihr eklig schwer werden« – »Piepmatz, Suse rasselt bestimmt zu Weihnachten wieder runter« – »laßt doch erst Rosenelfchen erzählen« – so ging das im ersten Kränzchen hin und her.

»Haste den Kaiser gesehen?« unterbrach der Glücksklee schon wieder, als Rosenelfchen nun endlich ihre Berliner Erlebnisse stolz zum besten geben wollte.

»Nee, aber sein Schloß, und den Kronprinzen und die kleinen Prinzen, süß sind die, und – – –«

»Na, denn kannste mir halt gestohlen bleiben, denn haste überhaupt nischte gesehen – – –«

»Du bist ja nicht recht bei Troste, als ob der Kaiser so einfach jeden Tag die Linden entlang spaziert, das denkt ihr Kleinstädter euch nur so – – –«

»Tu doch nicht, als ob du aus Paris bist –«

»Aus Paris ja gerade nicht, aber nicht weit davon, aus Düsseldorf –«

»Scheint mir schon mehr ›Duseldorf‹ zu sein –«

»Kinder, wer Streit anfängt, muß fünf Pfennige für die Kränzchenkasse blechen,« mahnte das größere Vergißmeinnicht, der Bankier des Kränzchens.

»Na, wenn sie so duselig ist und sagt, Düsseldorf liegt bei Paris –«

»Bitte sehr, ich habe in Geographie ›sehr gut‹ und du bloß ›gut‹ –«

»Na natürlich, weil die Bertram-Suse beim Probeextemporal neben dir saß, abschreiben ist kein Kunststück –« beide Kränzchenschwestern hatten bereits einen hochroten Kopf.

»Ich bitte euch, vertragt euch doch,« bat jetzt die Wirtin, die sanfte Glockenblume, »Vater studiert nebenan seine Predigt zu morgen, was soll der bloß von uns denken!«

Da schwiegen die beiden ziemlich beschämt.

»Aber das Luftschiff habe ich gesehen, ganz deutlich, dicht über mir,« spielte Liselotte jetzt ihren höchsten Triumph aus – »so dicht« – sie zeigte eine Höhe, daß ihr das Luftschiff unfehlbar gegen den Lockenkopf gefahren sein mußte.

Das imponierte allen – selbst Hilde.

Mehr aber noch imponierte den Freundinnen die schaurige Mär von dem Fahrstuhl.

»Wie schade, daß du wieder rausgekommen bist, wir hätten dich alle besucht – dann wäre unser ganzes Kränzchen durch dich berühmt geworden– man hätte dich per Luftschiff holen sollen – warst du denn noch nicht verhungert?« Liselotte hatte es mit der Anzahl der Stunden ihrer unfreiwilligen Gefangenschaft nicht so ganz genau genommen. Sie verneinte, nahm aber jedenfalls noch nachträglich das größte Stück Kuchen.

Wie im Kränzchen, so hatte man auch daheim den Wildfang mit freudigen Gesichtern empfangen.

»Gottlob, daß ich meine Rangen wieder beisammen habe, lieber ein bissel mehr Krach im Haus, aber keins entbehren,« hatte Mutter voll Zärtlichkeit geäußert.

Liselotte hatte denn auch gleich Mutters Wunsch nach »ein bissel mehr Krach« Rechnung getragen. Den Hampelmann, den sie Edchen von ihrer Weltreise mitgebracht, in der einen Hand, den Musikkreisel für Kurtchen in der anderen, so war sie auf den ersten besten Stuhl gehopst und ließ nun die Kleinen nach ihren Liebesgaben springen. Das waren natürlich unmögliche Anforderungen an die kurzen Ärmchen und Beinchen der Knirpse.

»Is sa abßeulis, er tann niß hauf – Muttel, se soll ihm sein Mitdebringe deben« – so heulte der Weinerich denn auch alsbald.

»Nein« – der Neinerich protestierte, »wenn de uns niß unser Geßenk gleich ßenkst, denn smeißen wir dich einfach vom Stuhl!«

Aber so einfach war die Sache doch nicht, Liselotte stand fest auf ihren beiden Füßchen.

Heinz, der bereits einen neuen Berliner Federkasten so genau untersucht hatte, daß der Deckel ab war, wurde als dritter im Bunde hinzugerufen.

Den vereinigten Riesenkräften gelang es endlich, die kreischende Schwester von dem gefährlich kippenden Stuhl herabzuzerren.

Aber freuen taten sie sich doch, die drei Kleinen, daß die beiden Großen wieder da waren. Denn wenn man sich erst mal an das Necken und Nörgeln gewöhnt hat, dann fehlt einem selbst das.

Und Vater nun erst gar – der schmunzelte sogar im Bureau bei seinen Zeichnungen, wenn er daran dachte, daß zu Hause nun wieder seine »fünf Jungen« herumtobten.

»Habt ihr uns denn auch keine Schande bei den Großeltern gemacht?« erkundigte sich Mutti gleich zuerst.

»Ih wo,« versicherte Liselotte entrüstet, »im Gegenteil, wir sollen doch Weihnachten bestimmt wiederkommen, und dann laß ich Großmuttels Primeln nicht noch einmal verdursten, und in den ollen Fahrstuhl klettere ich mein Lebtag nicht mehr.« Aus diesen Andeutungen, zu denen Norbert noch einen umfangreichen Kommentar lieferte, erfuhren die Eltern genugsam von den Berliner Heldentaten ihres Töchterchens.

Aber auch sonst machte sich der Berliner Aufenthalt bemerkbar, und zwar recht günstig. Liselotte war nicht umsonst in Großmamas Schule gewesen.

Am ersten Mittag warf sie nicht wie früher ihre Serviette, zu einem greulichen Klumpen geballt, auf den Tisch, sondern sie legte dieselbe fein säuberlich zusammen. Dann holte sie zu der Eltern und Maries grenzenlosem Erstaunen Tischbesen und Schaufel herbei und begann das Tischtuch abzufegen, als ob sie das von jeher so getan hätte. Die Eltern sagten kein Wort. Sie sahen sich nur frohlockend an. Am Ende wurde aus dem fünften Jungen doch noch mal ein mädchenhaftes Haustöchterchen.

Aber ach – »frühlocke nie zu froh!« wie Norbert immer das Sprichwort umzukehren pflegte.

In dem gleichen Maße, wie die schönen Berliner Tage ihrem Gedächtnisse entschwanden, nahm auch Liselottes überraschender Fleiß und die beängstigende Ordnungsliebe wieder ab. Bald dachte sie gar nicht mehr daran, beim Tischabdecken zur Hand zu gehen, und sogar zum Zusammenfalten der Serviette bedurfte es immer noch einer besonderen Aufforderung von seiten Mutters.

Sie war wieder wilder und ausgelassener als alle vier Jungen miteinander.

Aber in der Schule – es war wirklich merkwürdig – da nahm sie sich diesmal zusammen. So schwer es ihr auch wurde, sie hielt sich tapfer. War wirklich nur das Versprechen daran schuld, das sie Mutti gegeben, oder war vielmehr nicht auch ein gut Teil Ehrgeiz dabei, den anderen zu zeigen, was sie konnte, wenn sie nur wollte – na, wir wollen es dahingestellt sein lassen!

Aber war sie dann endlich nach fünf langen Stunden dem Zwange der Schule entflohen, dann hielt sie sich im Umherstreifen, Toben, Klettern und Boxen dafür auch gründlich schadlos.

Heute hatte sie etwas ganz besonders Feines vor. Besonders Feines – weil es etwas Unerlaubtes war. Verbotene Früchte schmecken, wie man sagt, am besten, aber sie machen hinterher auch das größte Unbehagen.

Es war Richtfest auf Vaters Bau. Das neue Amtsgericht war heute gerichtet worden, da feierten die Arbeiter bei einer Tonne Bier. Liselotte hatte den Richtkranz mit den langen, bunten Bändern vorübertragen sehen, als sie des Mittags aus der Schule gekommen. Da war ihr Entschluß gefaßt.

Schon lange hatte sie sich gewünscht, mal auf dem neuen Baugerüst nach Herzenslust herumzuklettern, aber – das war den Kindern streng verboten. Und in bezug auf seinen Beruf ließ Vater nicht mit sich spaßen. Da gab es auch für seinen Liebling keinen Pardon. Überdies arbeiteten die »Klamotteriche«, wie Liselotte die Maurer drastisch bezeichnete, stets bis zur einbrechenden Dunkelheit. Und nachher konnte man sich Hals und Bein brechen. Vorher zwar auch, aber das genierte einen großen Geist wie Liselotte nicht.

Heute also war ihr Entschluß gefaßt. Solch günstige Gelegenheit fand sich nicht wieder. Die Arbeiter feierten – Vater saß über den Grundrissen einer neuen Villa – nichts stand ihrer wagehalsigen Exkursion im Wege.

Nichts – wirklich nichts?

Dachte Liselotte denn kein bißchen an Vaters strenges Verbot?

O ja, ihr Herz klopfte recht mahnend und warnend, als sie sich mit scheuen Schritten hinten herum durch die schon herbstlich kahlen Gärten zu dem Baugelände schlich. Denn den geraden Weg wählt man höchst ungern, wenn man Unrechtes tut.

Aber Liselotte achtete nicht aus das Abraten ihres klopfenden Herzens, sie dachte nicht daran, daß sie ihrem Vaterchen, der sie so lieb hatte, einen Schmerz zufügen wollte. Sie sah nur den grünen Richtkranz hoch oben auf der Stange des Gerüstes – dort oben wollte sie stehen. Es führten gerade Leitern hinauf, schmale Bretter lagen von einer zur anderen, und Schwindel kannte Liselotte nicht – sie war ja ihres Vaters Tochter!

Schon hat sie das Füßchen auf die unterste Sprosse der grauweißen, kalkbespritzten Leiter gesetzt.

Kam da nicht jemand?

Liselotte zieht geschwind den Fuß zurück und blickt scheu umher. Nein – es ist nur ein Schwälbchen, das wie ein Pfeil vorüberschoß.

»Quiwit – quiwit –
Tu's nit – tu's nit!«

zwitschert die kleine Schwalbe aus den Lüften zu dem unfolgsamen Kinde herunter – Liselotte hört nicht. Die ist bereits die erste Leiter wie eine Katze emporgeklettert. Das Brett unter ihren Füßen schwankt bedenklich – was tut's – sie steht ja schon auf der zweiten Leiter. Weiter – vorsichtig weiter – Schweißtropfen perlen auf der Kinderstirn, je höher man kommt, je aufregender wird die Sache. Nur noch eine einzige kleine Leiter, und sie hat den Richtkranz erreicht. Dicht über sich sieht sie seine bunten Bänder flattern. Ihr rotes Kleidchen hat Mörtelflecke und Kalkspritzer – aber Liselotte läßt sich dadurch nicht aufhalten. Ein Schritt – das kecke, kleine Ding steht hoch oben neben dem Richtkranz. »Hurra« – so schreit sie frohlockend und verstummt sofort erschreckt.

Wenn einer sie hört – der Bau liegt zwar abseits – aber klangen da nicht Schritte – nein, es ist wohl nur das wüste Lärmen und Johlen der Arbeiter drüben in der Baukantine.

Langsam – ganz langsam und vorsichtig jetzt den Rückzug angetreten.

Aber ehe sie sich noch auf den schmalen Brettern gedreht, gellt ein entsetzter Schrei zu ihr empor.

»Jeses – Liselotte – komm herunter – um Gottes willen, sieh dich vor!«

Liselotte späht herzklopfend durch die Bretterspalten hinab. Da steht unter dem Gerüst die Suse Bertram und starrt voll Grausen mit weit aufgerissenen Augen zu dem Baumeistertöchterlein hoch oben neben dem Richtkranz empor.

Was hat auch die gerade hier vorbeizukommen – muß sie denn allenthalben herumkriechen! Liselotte ist wütend, daß gerade Suse Bertram sie entdeckt.

»Komm doch, liebe, gute Liselotte, komm doch herab!« fleht Suse inzwischen in Todesangst.

Das reizt Liselottes Übermut.

»Famos ist es hier oben, herrliche Aussicht – kumm du ooch ruff zu mir,« ruft sie lachend hinunter.

Suse antwortet nicht. Nur die gefalteten Hände streckt sie flehentlich zu dem waghalsigen Mädchen empor.

Am Ende ist es doch geratener, wieder in die Tiefen zu steigen, wenn noch andere Leute vorbeikämen – Liselotte beginnt den schwindligen Abstieg. Starr die Augen immer nur auf die nächste Sprosse gerichtet, klimmt sie sicher hernieder. Nun steht sie nur noch einige Meter über der schreckensbleich zuschauenden Schulkameradin.

Wie gemein, daß ihr lustiges Abenteuer bemerkt worden ist!

»Was hast du hier denn bloß herumzuspionieren?« herrscht sie die Suse an.

»Ich – ich wollte meinem Vater eine Bestellung machen, er ist auf eine halbe Stunde zu dem Richtfest gegangen,« Suse weist gekränkt mit dem Blondkopf zur Baukantine hinüber.

Wenn sie nur erst wieder unten wäre, die Liselotte. Sie hat ja das wilde Mädel trotz ihrer Kränkungen so lieb – sie bangt um sie!

»Liselotte, wenn mein Vater kommt – wenn er dich sieht – du weißt es doch, es ist uns streng verboten, das Gerüst zu betreten – – –«

»Dir vielleicht – mir hat dein Vater gar nichts zu sagen – verklatsche mich nur ganz ruhig, wenn du Lust hast« – Liselotte weiß dabei ganz genau, daß Suse sich eher die Zunge abbeißen würde, als die Angeberin spielen.

Suse schweigt verletzt. Aber sie rührt sich nicht vom Platz. Ihre Sorge um Liselotte ist größer als ihr gedemütigter Stolz.

Liselotte hat jetzt das wackelige Brett betreten. Wie eine Wippe schwankt es unter der leichten Gestalt hin und her.

»Siehst du, jetzt bin ich wieder über dir, wenn du auch zehnmal in der Schule die Erschte bist,« mit verächtlichem Lachen ruft es Liselotte der gerade unter ihr stehenden Suse zu und setzt den Fuß auf die letzte Leiter.

Da – das Brett hat sich durch die Erschütterung gelöst – fest krallen sich Liselottes Hände um die Leitersprossen – krachend stürzt das Brett hernieder.

Suse steht nicht mehr auf ihrem Platz. Das Brett hat sie zu Boden geschleudert.

Liselotte weiß nicht, wie sie die Leiter herabgekommen ist. Mit zitternden Beinen steht sie drunten auf der Erde und wälzt mit feuchtkalten Händen das schwere Brett von dem Körper ihrer Mitschülerin.

Suses Augen sind fest geschlossen, ihr Gesicht ist weiß wie Kalk, aus der Stirn sickern langsam dicke Tropfen roten Blutes hernieder.

Ist Suse tot – barmherziger Gott – hat sie die Suse getötet? Liselotte reißt ihr Taschentuch heraus und preßt es auf Suses Stirnwunde. Es färbt sich im Augenblick purpurrot.

Was soll sie tun – himmlischer Vater – was fängt sie an – schnelle Hilfe tut not – Liselotte jagt wie gehetzt zu der Baukantine hinüber.

Suses Vater – er wird sie schlagen, und Recht hat er, wenn er's täte – ihr Fuß stockt. Lachen und Johlen schallt aus dem Lokal. Aber dort auf der Erde stirbt vielleicht Suse, und sie – sie ist schuld – schon reißt Liselotte die Tür zu dem mit Bier- und Tabaksdunst erfüllten Raum auf.

»Herr Bertram – ein Unglück – Suse – – –« mehr vermag Liselotte nicht hervorzubringen. Sie weist zitternd nach dem Bauplatz hinüber.

Mit drei Schritten ist Suses Vater an ihr vorbei, er eilt zu seinem blutenden Kinde. Die verstummten Arbeiter folgen erschreckt, Liselotte schleicht mit schlotternden Knien hinterdrein.

»Wasser,« befiehlt Herr Bertram tonlos.

Liselotte sieht voll Entsetzen, daß auch Suses glatter, blonder Scheitel rote Blutstreifen zeigt.

Ein Arbeiter bringt das Verlangte. Behutsam wäscht der Vater seinem Kinde die klaffende Wunde. Leises Stöhnen löst sich von Suses Lippen – Gottlob – wenigstens lebt sie!

Unter der kühlen Kompresse schlägt sie plötzlich die Augen auf.

»Liselotte« – stößt sie geängstigt hervor und versucht den Kopf suchend zu wenden. Aber mit einem Schmerzenslaut schließen sich ihre Augenlider wieder.

Liselotte beißt sich auf die Lippen, um nicht laut loszuheulen. Ihr galt Suses erste Sorge, ihr, die sie so gekränkt, die durch ihren Leichtsinn und ihren Ungehorsam Suses Schmerzen verursacht. Sie kniet neben Suse nieder und küßt zart und leise ihre Hand.

»Hier – hier bin ich ja, liebe Suse« – flüsterte sie, und wie der Schein eines befriedigten Lächelns geht es da über Suses bleiches Gesichtchen.

Herr Bertram hat die leichte Gestalt weich in seine Arme gebettet.

»Zum Arzt – schnell lauf' einer zum Doktor Peters,« der Maurerpolier ist schon davon.

Suses Vater verläßt die Unglücksstätte. Liselotte schleicht ihm scheu und gedrückt zur Seite.

Jetzt wendet sich Herr Bertram ihr zu.

»Hab' Dank, Kind, daß du gleich zur Stelle warst und meiner Suse die erste Hilfe geleistet hast – Gott gebe, daß sie uns nicht genommen wird!«

Liselotte stöhnt gequält auf. Sie schwankt – sie kämpft – kein Mensch weiß es, daß sie die Ursache des Unglücksfalles gewesen – Suse verrät nichts – wenn sie der liebe Gott überhaupt am Leben läßt!

Der liebe Gott – da ist Liselottes Kampf ausgekämpft, sie weiß jetzt, was sie zu tun hat.

»Herr Bertram – lieber Herr Bertram – ich – ich ganz allein bin ja schuld, daß die Suse von dem Brett getroffen worden ist! Ich bin heimlich auf den Bau geklettert – lieber Herr Bertram, verzeihen Sie mir doch bloß und sagen Sie doch auch Suse, daß sie mir nicht böse ist,« Liselotte hebt das verweinte Gesicht zum Herrn Bausekretär? auf.

Der runzelt die Stirn.

»Will's Gott, daß dir die Suse noch einmal verzeihen kann, Kind – daß du nicht dein ganzes Leben an der schweren Last schleppen mußt, ein junges Menschenleben zerstört zu haben,« so spricht er ernst und trägt das bewußtlose Kind in das kleine Häuschen.

An derselben Stelle, wo das Rosenelfchen damals der Suse warmherzig einen Kuß gegeben, birgt sie jetzt das tränenüberströmte Gesicht an den kalten Holzlatten. Ach – Suses Rosen sind längst verblüht, feuchtkalter Herbststurm zaust die kahlen Rosensträucher, zaust Liselotte, den Nichtsnutz, an den braunen Locken und läßt sie vor Kälte zusammenschaudern.

Aber sie geht doch nicht heim. Sie muß noch warten.

Soeben ist Doktor Peters in dem Bausekretärhäuschen verschwunden. Er hat sie zum Glück nicht gesehen, und nun wartet die Liselotte, daß er zurückkommt und ihr sagt, ob Suse Bertram sterben muß.

Endlos dauert es, bis der Doktor mit seiner Untersuchung zu Ende ist. Liselotte klappert vor Frost mit den Zähnen.

Endlich taucht sein grauschwarzes Lodencape im Türrahmen auf. Frau Bertram geleitet ihn, Liselotte sieht es trotz der inzwischen eingebrochenen Dunkelheit, daß ihre Augen in Tränen schwimmen.

Und daran ist sie – nur sie ist daran schuld!

»Und nun den Kopf hoch, liebe Frau Bertram, bei Gott ist kein Ding unmöglich, wenn es auch augenblicklich bös aussieht, wir werden sie mit Gottes Hilfe durchbringen – freilich, ob sie je wieder imstande sein wird, zu gehen, das kann ich Ihnen nicht versprechen, der Fuß ist zu unglücklich gebrochen – – –«

Frau Bertram schlägt aufschluchzend beide Hände vor das Gesicht, dann tritt sie in das Haus zurück.

»Lieber Gott – guter Gott, strafe mich nicht so hart für meinen Ungehorsam,« eine gequälte Kinderstimme hat es ganz leise gejammert.

»Ist da jemand?« der Arzt tritt auf das am Boden kauernde Mädchen zu. »Baumeisters Liselotte – Kind – was tust du denn noch hier in dem häßlichen Sturm, wirst dir eine Erkältung zuziehen – – –«

»Herr Doktor – ach, lieber Herr Doktor Peters – wird die Suse niemals wieder laufen können?« angstvoll umklammert Liselotte die Hand des Arztes.

»Das wird von der Heilung des Bruchs abhängen, freilich, ob sie jemals wieder auf ihren beiden Beinen wird vergnügt umherspringen können wie andere Kinder – ich bezweifle es – ein leichtes Hinken wird wohl auf jeden Fall zurückbleiben – na, erst mal die Gehirnerschütterung der armen Kleinen auskuriert, alles andere findet sich. Aber nun marsch nach Hause, Kind,« Doktor Peters geht eiligst davon.

Die Holzlatten des Gartengitters beginnen sich plötzlich mit Liselotte im Kreise zu drehen. Suse Bertram hinken – weil sie, die wilde Liselotte, gegen Vaters Verbot gehandelt hat – die seelische Erregung ist zu groß für das impulsive Kind. Sie will nach Hause gehen, aber ihre Beine, die sind so schwer – so schwer – und der Kopf ist ihr so wüst – immer noch sieht sie die Gartenplanken auf- und niederhopsen – dann sieht sie nichts mehr. Ihre Augen sind fest geschlossen.

Als Suses Vater ein Weilchen später zur Apotheke geht, erblickt er einen dunklen Schatten am Gartentor. Erschreckt erkennt er das ohnmächtige Töchterchen seines Baumeisters. Wie vorhin sein eigenes Kind, so trägt er jetzt das fremde, das ihm all das Leid zugefügt, weich und behutsam ins Elternhaus.

Die Nacht breitet ihren schwarzen Schleier über das Städtchen.

Dunkel ist's – ganz dunkel.

Nur aus dem Häuslein des Bausekretärs und aus der Villa des Baumeisters leuchtet der fahle Zitterschein eines trüben Nachtlämpchens.

Hier wie dort wacht eine Mutter an dem Lager ihres kranken Lieblings, und beide beten sie aus Herzensgrund: »Lieber Gott, erhalte sie mir!«

* * *


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