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8. Kapitel. Unterm Weihnachtsbaum.

Wie leise und geräuschlos Baumeisters unbändige Rangen auf einmal sein konnten!

Seitdem Liselotte sich an jenem Abend im Herbststurm eine heftige Lungenentzündung zugezogen hatte, ging alles bei Baumeisters auf den Zehenspitzen.

Selbst Norbert, der sonst ein rechter Tapps war, trat, abgesehen von dem gräßlichen Knarren seiner Stiefel, so behutsam auf, daß er öfter in Gefahr war, das Gleichgewicht zu verlieren.

Heinz kam nie anders aus der Schule, als mit der teilnehmenden Frage: »Is se nu schon tot?«

»Nein, se is noch niß gesterbt, se is noch ganz labendiß, se verzählt so 'ne langen Geßißtens,« versicherte Edchen, der öfter an der Tür des Krankenzimmers horchte, dann eifrig.

»Wird se ihn nu bald wieder verwippsen tönnen, Muttel?« hatte Kurtchen heute morgen die Mutter, die nur auf Augenblicke von des Töchterchens Krankenbett wich, eindringlich gefragt.

Da hatte Mutti aus dem Fenster zum grauen Novemberhimmel hinaufgeguckt und schweren Herzens geseufzt: »Gott geb's!«

»Nee – nee – Dott deb's niß – er will niß wieder dehaut werden,« schrie Kurtchen drauf so temperamentvoll, daß Mutti ihm schnell die Hand auf den Mund legen mußte. Denn der Herr Doktor hatte streng Ruhe anbefohlen.

Und dann kam ein Tag, da warf sich die kleine Patientin so wild im Bette umher, da rief sie unaufhörlich nach Suse und griff mit den Händen in die leere Luft, um sich den Richtkranz von der Stange zu holen. Da war das Fieber so hoch gestiegen, daß der Vater den ganzen Tag nicht in sein Bureau ging. Neben der Mutter saß er am Bett seines kranken Lieblings und sah voll schwerer Sorge auf sein Herzblatt.

Dreimal kam der Arzt an jenem bösen Tage, aber als er gegen Abend sich wieder über das bewußtlose Kind neigte, da streckte er Vater und Mutter beide Hände entgegen und sagte nichts als das eine Wort: »Gerettet!«

Und Mutter barg das Gesicht in heißem Glück an der Brust ihres Mannes, und Vater schämte sich nicht der Tränen, die ihm über die Wangen in seinen Bart liefen. Es waren ja Freudentränen!

Draußen an der Tür kauerte Norbert. Er war der einzige der Kinder, der den Ernst des Tages begriff.

Wollte der liebe Gott ihm seine Lilo nehmen? Sein Schwesterchen? Er hatte es ja so lieb, wenn sie auch oft miteinander zankten und rauften.

Da trat der Vater aus der Tür und strich seinem Jungen, der ihn mit großen, verängstigten Augen ansah, liebevoll das Haar.

»Junge – unsere Lilo wird gesund – heute war die Krisis – die Fiebertemperatur ist gefallen – da hast du fünf Groschen, Junge, kauf' dir davon ein Königreich!« Vater war ganz aus dem Häuschen.

Norbert stürmte ins Kinderzimmer und verkündet dort die Freudenbotschaft. Und alsbald erschallte Heinzens Trompetenstimme drunten im Souterrain in die Küche hinein: »Liselotte wird wieder ganz lebendig, hat Vater gesagt, und heute abend gibt's Flammeri mit Himbeersoße!«

So schnell ging das mit dem Gesundwerden aber denn doch nicht. Kurtchen mußte noch viele Tage warten, bis er wieder von der großen Schwester »verwippst« wurde, denn als Liselotte endlich das Bett verlassen durfte, da war sie so schwach, daß sie wie ein kleines Kind laufen lernen mußte. Ihre frischen, rosigen Wangen waren bleich und schmal, aus der wilden, roten Rose war ein zartes, weißes Röslein geworden.

»Aber ich werde sie mir schon wieder herausfuttern, meine alte, dumme Lotte,« meinte Mutter voll Zärtlichkeit.

Gleich zuerst, als Liselotte ihr Bewußtsein wiedererlangt hatte, gab es eine ernste Aussprache mit ihrem Vaterchen. Aus ihren wirren Fieberreden hatten die Eltern ihren Ungehorsam erfahren, aber auch die Angst und Reue wegen ihrer Schuld an Suse. Der Vater brauchte sie nicht mehr zu strafen, denn die Strafe des Vaters droben im Himmel war schon hart genug.

»Suse – lebt Suse?« Liselotte hatte es gar nicht zu fragen getraut.

Freudig konnten die Eltern es bejahen, sie wußten ja, welche Last sie damit von der Seele ihres Töchterchens nahmen.

»Wird sie laufen können?« Ja, darüber konnte ihr keiner Auskunft geben, trotzdem die Eltern täglich mit Erfrischungen in das Bertramsche Haus schickten und sich nach Suses Befinden erkundigen ließen. Nicht einmal Doktor Peters konnte das genau sagen, der Fuß lag fest im Gipsverband. Ob sich bei der Heilung eine Verkürzung herausstellen würde, das konnte erst bei Abnahme des Verbandes ersehen werden.

»Lieber Gott – nur nicht hinken!« Dieser Gedanke war es, der Liselotte unausgesetzt beschäftigte und ihre Erholung sicherlich beeinträchtigte.

Die Kränzchenschwestern kamen zur Erheiterung, sie trugen Grüße von Liselotte zu Suse, und von Suse zu Liselotte.

Nun war Liselotte schon wieder so weit, daß sogar das Kränzchen bei ihr stattfinden durfte, wenn die Blümchen sich verpflichteten, nicht zu viel Radau zu machen.

Mutter feierte diesen Tag mit einer großen Sahnentorte.

Aber als man nun zum ersten Male wieder vollzählig war und ganz unter sich, da hielt die kleine Genesene eine Rede.

»Ihr habt es wohl gehört,« so sprach sie, im Anfang ein wenig stockend, »welche große Schuld ich gegen Suse Bertram wieder gut zu machen habe. Ich will euch nur sagen, daß Hanni Diefenbach jetzt nicht mehr allein meine beste Freundin ist, sondern daß ich von nun an zwei beste Freundinnen habe. Die andere ist Suse. Ich bleibe auch nur im Kränzchen, wenn Suse Bertram ebenfalls eine Blumenschwester wird!« Sie hielt erschöpft inne, sie hatte doch noch nicht ihre alten Kräfte wieder und die Rede hatte sie angestrengt.

Die Kränzchenschwestern aber umringten sie freudig und gaben feierlich ihre Einwilligung. Und Hilde, die manchmal einen kleinen Rappel hatte, wollte sogar darauf ein Theaterstück »Schuld und Sühne« dichten. Leider blieb es nur bei dem Titel.

Hanni aber, das selbstlose Vergißmeinnicht, gab Liselotte vor Freuden einen Kuß, sie hatte es ja schon so lange gewünscht, daß auch Suse Bertram zu dem Freundinnenkreis zählen sollte.

Suses bleiches Gesicht färbte sich vor Glück dunkelrot, als Hanni als Abgesandter bei ihr erschien und ihr von Liselottes Rede und dem Beschluß des Kränzchens erzählte. Sie fühlte die heftigen Schmerzen, die sie quälten, auf einmal kaum noch.

Aber es hatte gute Wege, bis das neue Blümelein dem Kränzchen beitreten konnte.

Als die Flocken lustig vom Himmel herniedertanzten, willfahrte Doktor Peters, der Liselotte des bösen Ostwindes wegen so lange ans Zimmer gebannt hatte, endlich ihrem Bitten und Betteln. Endlich durfte sie zu Suse.

In der Hand ein Veilchensträußchen, so betrat sie herzklopfend das kleine, nette Haus, in dem Suse schon lange krank daniederlag. Frau Bertram kam ihr auf dem Flur entgegen. Stillschweigend zog sie das fremde Kind, das ihr so viel Sorge bereitet, ans Herz und küßte es. Dann führte sie Liselotte zu ihrem Töchterchen.

Suse lag mit schneeweißem, schmalem Gesichtchen in ihren schneeweißen Kissen, aber als jetzt Liselotte zu ihr trat, streckte sie ihr beide Hände entgegen.

»Liselotte,« flüsterte sie glücklich, »wie freue ich mich, daß du wieder gesund bist.«

Da barg Liselotte den Lockenkopf aufschluchzend in Suses Kissen und umfing die zarte Gestalt mit beiden Armen.

»Suse – liebe, gute Suse, kannst du mir verzeihen und kannst du mich noch ein bißchen lieb haben? Ich bin dir ja jetzt so gut, du und Hanni, ihr sollt meine allerbesten Freundinnen sein! Und Blauveilchen sollst du heißen, das ist dein Kränzchenname, weil du gerade so hold und bescheiden bist und eben solche blaue Augen hast wie ein Blauveilchen!«

Suse sagte kein Wort. Sie zog nur Liselottes Kopf näher an sich heran und küßte sie zärtlich. Das war besser als alle Worte.

In dem kleinen, gemütlichen Zimmer mit der traulichen Petroleumhängelampe, da erstand eine Mädchenfreundschaft, fest und treu fürs ganze Leben.

»Suse, wenn du nicht wieder richtig gehen kannst, dann will auch ich nie wieder laufen und springen,« flüsterte Liselotte immer noch aufgeregt nach einem Weilchen.

Suse streichelte beruhigend das Haar ihrer neuen Freundin.

»Du sollst dir deshalb keine Gedanken machen, meine Lilo, wie der liebe Gott es will, so müssen wir es hinnehmen,« sagte sie leise.

»Suse, du bist so gut, hilf mir, daß auch ich so sanft und gut werde wie du!«

Aus einer wilden Rose wird niemals ein bescheidenes Blauveilchen, und aus einem braunen Krauskopf nimmer ein sanftes Blondchen! Das sollten die Freundinnen bald erkennen. Denn mit den zurückkehrenden Kräften fand Liselotte auch bald ein gut Teil ihrer früheren Ausgelassenheit und ehemaligen Ruppigkeit wieder.

Aber die Freundschaft der beiden so verschiedenen Mädchen blieb doch nicht ohne heilsamen Einfluß auf Liselotte.

Nun ging sie schon wieder in die Schule und war dort fleißiger und aufmerksamer als je, um die großen Lücken, die sich während ihrer Krankheit gebildet, wieder auszufüllen.

Wenn Suse erst wieder zur Schule durfte! Hanni und Liselotte machten täglich Pläne, wie sie dann zu dreien in der Zwischenpause umherwandern würden. Aber vor Weihnachten, hatte der Arzt gesagt, sei kein Gedanke daran.

Jeden Nachmittag, wenn Baumeisters Liselotte ihre Schularbeiten gemacht, ging es zu Suse.

Dort wurden erst die Ereignisse der Schule durchgesprochen und Liselotte bemühte sich, Suse, die durch ihre Schuld so lange fehlen mußte, behilflich zu sein, das Versäumte wieder einzuholen. Unmerklich lernte der flüchtige Wildfang dabei, gründlich und gewissenhaft zu arbeiten, denn sie wollte nicht um alles in der Welt hinter ihrer Suse zurückstehen.

Dann aber, wenn die Schulpflichten erledigt, gab es Geheimnisse im Bertramschen Häuslein.

Weihnachten stand vor der Tür, schon schaute der Nikolas des Abends in alle Kinderstuben und schrieb sich die braven und die bösen Buben und Mädel auf. Kurtchen und Edchen sahen ihn jeden Abend, wenn es dunkel wurde, durch den hohen Schnee im Garten stapfen, dann sagte der Neinerich nicht mehr »nein – iß will niß« – und der Weinerich hörte sofort im ärgsten Gebrüll auf, selbst der mutige Heinz schielte etwas eingeschüchtert von seinem Soldatenspiel zum Kinderstubenfenster hin, und dabei hatte er doch einen Helm auf und einen Säbel um. Denn vor Weihnachten waren selbst Baumeisters Rangen möglichst wenig rangenhaft.

Nie hatte Liselotte bisher ihre Weihnachtsarbeiten fertig gekriegt. Sie hatte stets alles mögliche begonnen, und dann, kaum halb fertig gestellt, es immer gelangweilt liegen lassen. Das wilde Mädelchen hatte keine Ausdauer.

Jetzt war das anders. Im Verein mit Suse wurde das Handarbeiten zum lieben Weihnachtsfeste ein Vergnügen. Suse war geschickt, sie zeigte der Freundin allerlei zierliche Dinge und lachte dann hell auf, wenn Lilos ungeschickte Fingerchen sich vergeblich mühten, es nachzubilden.

Es war merkwürdig, ihrer Suse nahm Liselotte nichts übel. Während sie zu Hause und auch im Kränzchen gerade nicht die Verträglichste war, während sie bei Norberts Neckereien sofort zetermordio schrie, lachte sie, wenn Suse sie schelmisch uzte, mit dieser um die Wette. Sie war mit allem, was Suse vorschlug, einverstanden, das Zankteufelchen wagte sich im Bertramschen Haus nicht hervor. Für die Mutter die Tablettdecke war fast fertig, Vaters Pulswärmer, die er mal tragen sollte, wenn er wieder Influenza hatte oder ganz alt war, wiesen zwar einige große Prudellöcher auf und paßten besser für Kurtchens kleine Ärmchen als für Vaters, aber sonst waren sie ganz wunderschön! Großmama und Großpapa durften dieses Jahr auch nicht leer ausgehen. Liselotte hatte auf weißem Kartonpapier allerliebste kleine Primelchen gezeichnet und mit bunten Stiften ausgetuscht. Es sollten Blumentopfmanschetten für die vernachlässigten Primelchen werden. Vorläufig erst eine, sie konnte ja jedes Jahr eine dazu arbeiten, in zwölf Jahren war sie dann damit fertig – wenn die Primelchen inzwischen nicht eingegangen waren. Großvater bekam einen Tabaksbeutel – er rauchte gern einmal ein Pfeifchen – mit Goldfischen darauf gestickt.

»Was machst du deinen Brüdern?« fragte Suse sie eines Tages.

»Nischte nich,« lautete Liselottes Antwort auf gut schlesisch. »Sollt' mir einfallen, mich für die dummen Jungs auch noch abzuquälen.«

Suse sah sie groß an. Dann meinte sie leise: »Das finde ich nicht nett von dir, Lilo!«

Der ärgerlichste Tadel hatte Liselotte nie so getroffen wie diese liebevoll gesprochenen Worte der Freundin.

Sie senkte einen Augenblick den Kopf, hob ihn dann gleich wieder energisch empor und schüttelte ihre Locken, als ob sie damit alle überflüssigen Gedanken abschütteln wollte.

»Quatsch mit Soße, Suse, tu mir den Gefallen und mach' nicht ein Gesicht wie Fräulein Rau, wenn sie mich abkanzeln will. Siehste, erstens kann man für Jungs überhaupt nichts arbeiten, sondern nur für Schwestern, und zweitens habe ich keine Gelder mehr. Ratzenkahl abgebrannt! Ich werde wohl Norbert sowieso noch anpumpen müssen.«

»Also dazu sind Jungs gut genug, zum Anpumpen –« lachte Suse. »Was du schlau bist! Aber du hast schlecht gewirtschaftet, Lilo, sieh mal, ich bekomme kaum die Hälfte von dem Taschengeld, das du kriegst, und es hat für alle gereicht. Ich habe sogar noch eine Kleinigkeit übrig, um den Kindern unserer Waschfrau eine Weihnachtsfreude zu bereiten.«

»Ja du« – sagte Liselotte in bewunderndem Tone – »du bist auch meine einzige, liebe Suse, die alles kann und alles versteht – und ich bin ein Scheusal, das nichts kann als Dummheiten machen und allenfalls noch – ihre Suse lieb haben!« Und zur Abwechslung gaben sie sich wieder mal einen Kuß.

Aber Liselotte konnte doch noch mehr als Dummheiten machen. Sie hatte eine allerliebste Idee zur Ausführung gebracht, allerdings mit dem von dem gutmütigen Norbert erpumpten Gelde.

Jede Kränzchenschwester sollte einen kleinen Karton mit Briefbogen erhalten. Auf dem Deckel hatte sie höchst genial ein Kränzchen entworfen, bestehend aus allen dem Freundschaftsbund angehörigen Kränzchenblümelein. Die Briefbogen aber wurden für jede einzelne mit ihrer Blume geschmückt. Nur Suses Briefbogen zeigten einen wilden Rosenzweig, der sich zärtlich um ein Blauveilchen rankte.

Nicht einmal ihrer Suse hatte das kleine Mädchen etwas von der großen Überraschung verraten, denn vor Weihnachten dürfen auch die allerbesten Freundinnen Geheimnisse voreinander haben.

Sie wußte gar nicht, wie sie mit der vielen Malerei fertig werden sollte. Manchmal war sie drauf und dran, ihre Schularbeiten ein wenig ins Hintertreffen zu bringen. Aber sie hatte es ihrer Muttel ja versprochen, zu Weihnachten wieder heraufzukommen, und dann – sie wollte so schrecklich gern recht nahe bei Suse sitzen. So tat sie nach wie vor ihre Schuldigkeit.

»Eine Hundearbeit!« seufzte sie eines Tages nach dem Abendbrot. Denn das halbe Stündchen, das sie noch aufbleiben durfte, nahm sie nicht, wie sonst, zum Spielen, sondern sie malte mit feuerroten Backen an Vaters großem Zeichentisch mit diesem um die Wette.

»Muß sich mein Herzenskind so arg quälen,« lachte Vater, »na, was gibt's denn noch alles zu tun?«

»Sieh nur, Vaterchen, das Maßliebchen wird gar nicht schön, es sieht aus wie eine Sonnenblume, und dann muß ich noch den Glücksklee malen und die Glockenblume – ach, und übermorgen ist schon Weihnachten!« Liselotte zog ihr Gesichtchen in schwere Sorgenfalten.

»Jetzt aber geht's schlafen, Kind, sonst findest du morgen wieder nicht aus den Federn,« rief die Mutter aus dem Nebenzimmer.

Liselotte schnitt ein Gesicht. Gerade immer, wenn sie im besten Arbeiten war, mußte sie zu Bett gehen! Sie hatte es doch wirklich zu schlecht!

Aber sie wagte keine Widerrede, wäre sie doch bei einem Haar heute zu spät in die Schule gekommen.

Als Liselotte am anderen Morgen noch schnell einen Blick auf ihre künstlerischen Briefbogen warf, da machte sie große Augen. In der Nacht waren die Heinzelmännchen bei Baumeisters gewesen, sie hatten die Maßliebchen, die Liselotte nicht herausbekam, so wunderhübsch gezeichnet, als seien sie soeben frisch erblüht. Glücksklee und Glockenblume waren über Nacht auf dem Briefpapier gewachsen, und Liselotte war nun all ihrer Sorgen ledig.

»Hurra – die Heinzelmännchen!« rief sie selig und wirbelte wie ein Irrwisch im Kreise herum, sprang dann ihrem vergnügt lächelnden Vaterchen mit einem Satz aufs Knie und gab ihm einen zärtlichen Kuß mitten auf die Nase. Das kleine Fräulein wußte ganz genau, wer die guten Heinzelmännchen waren.

Nun konnte der Heiligabend kommen – Liselotte war fertig. Erst aber kam noch etwas anderes, nämlich die Weihnachtszensuren.

Rosenelfchen strahlte. Nicht nur, daß sie im Betragen »lobenswert« hatte, sie war auch wieder auf ihren vierten Platz gerutscht neben Hanni Diefenbach, und Fräulein Rau hatte ihr überdies ihre Anerkennung ausgesprochen. Nur eins war betrübend, Suse war von ihrem ersten Platz heruntergekommen, weil sie doch gar zu lange gefehlt hatte, da fühlte Liselotte wieder die ganze schwere Schuld.

Und besonders, weil Amtmanns Lenchen sich noch brüstete, daß sie die Suse Bertram nun doch glücklich »heruntergekriegt«.

Endlich, endlich kam auch der Heiligabend.

Lautlos, auf weichen, silbrigen Schneesohlen kam er, Hand in Hand mit der Dämmerung durch das festlich weiße Winterland geschritten. Er blickte durch die Eisblumen am Fenster in jedes Haus, in jedes Hüttlein, und lächelte Glück und Freude hinein. Kein Mensch hörte seine Stimme, und doch vernahm ein jeder seinen Willkommensgruß: »Friede auf Erden!«

Auch zu Baumeisters Rangen kam er. Dort war sein Friedensgruß gerade sehr angebracht, denn nicht einmal vor der Bescherung hielten die kleinen Streithammel Ruhe.

Der Neinerich schrie gerade: »Nein – iß will aber niß mehr in dem ollen Dunkeln sein,« und der Weinerich brüllte noch lauter: »Er will nu seine ßönen Deßenke triegen!« Heinz aber schlug mit den Füßen nach der Schwester, die ihn mit Gewalt an seinem Kittel von dem Schlüsselloch wegziehen wollte. Und er wollte doch bloß mal sehen, ob's denn noch immer nicht losginge.

Da wurde es mit einemmal still in der Kinderstube – ganz still. Keines der Kinder sah den Heiligabend, der durch das Fenster spähte, und doch empfand ein jedes seine heilige Nähe.

Aber als jetzt endlich das Klingelzeichen ertönte, und blendender Lichterglanz durch die geöffnete Tür in das Dunkel des Kinderzimmers flutete, da streiften die wilden Rangen wieder den seltsamen Bann, der sie gefangen gehalten, im Nu ab. Sie drängelten, sie schubsten, sie überpurzelten sich fast – ein jeder wollte der erste im Weihnachtszimmer sein.

Während des Weihnachtsliedes und der Gedichte mußte Mutter Kurtchen zweimal von Edchens Platz wegholen, wo er inzwischen immer von den seinen Spielsachen seines Brüderchens Besitz ergriffen. Dann aber gab es endlosen Jubel.

Am glücklichsten war Liselotte. Die hielt ein großes Blatt weißes Papier in der Hand, auf dem ein Rodelschlitten gemalt war, der die Schneeberge pfeilschnell herabschoß. Darunter stand: »Eine Erholungsreise mit Suse Bertram in Rübezahls Winterreich!«

Sie sah nicht die neue Babypuppe, die sie sich so sehnlichst gewünscht und die Muttchen mit einer ganzen Ausstattung versehen, nicht den allerliebsten kleinen Blumentisch mit den winzigen Kakteentöpfchen von der lieben Großmama und das Goldfischglas vom Großpapa. Sie sprang wie »besessen« – das war Norberts Ausdruck – mit ihrer Erholungsreise im Zimmer umher, und trat dabei Kurtchens neuen Trommler mausetot, was ein bitterliches Trauergeheul zur Folge hatte.

»Vatel – Muttel – ich freue mich ja diebisch – darf ich es Suse heute abend noch sagen – bitte – bitte – ich möchte ihr doch so gern auch meine Überraschung bringen,« sie wollte sofort hinaus und Hut und Mantel holen.

»Hiergeblieben, Sausewind,« befahl aber da der Vater, »ist das eine Manier, einfach wegzulaufen, ehe man sich die schönen Sachen, an denen die liebe Mutter viele Abende genäht, auch nur angeschaut hat. Ich hätte mein Mädel nicht für so undankbar gehalten.«

»Ach, Muttel – Muttchen,« jetzt erst griff Liselotte nach ihrem Wickelkind – »ich bin ja ganz dösig vor lauter Freuen – es ist so gut von dir, daß du mir das alles selbst gemacht hast – süß ist mein neues Kind, und Suse soll es heißen – ach, Muttchen, auch richtige Windelhöschen,« des Töchterchens ganzer Jubel an dem jüngsten Puppensprößling brach jetzt erst durch. Mutter konnte mit dem Erfolg ihrer Mühe zufrieden sein.

»Schafsbock ich –«. Liselotte schlug sich plötzlich, als sie gerade halb freudig, halb beschämt die Gaben der lieben Großeltern betrachtete, vor die Stirn. Sie hatte ja ihre Weihnachtsarbeiten total vergessen. Nun aber holte sie dieselben schleunigst aus ihrem Versteck, dem Hühnerstall, hervor.

Mutter strich ihrem fleißigen Mädel lobend über das widerspenstige Haar, sie freute sich herzlich, daß ihr Töchterchen endlich einmal bei einer Arbeit Ausdauer gezeigt. Und Vater zog die Pulswärmer lachend auf den kleinen Finger, wofür sie gerade passend erschienen. Dann kam Norbert mit seinen Kerbschnitzereien – für Liselotte hatte er ein niedliches Bürstchen fabriziert, das er ihr mit den Worten: »Da, Kleinchen, weil du solch eine Kratzbürschte bist,« überreichte.

Aber Liselotte vergaß seine Schmeichelei mit gleicher Münze heimzuzahlen – »er hat an mich gedacht – er hat sich für mich gemüht, während ich ihn nur angepumpt habe,« dachte sie ziemlich beschämt. Sie hätte etwas darum gegeben, wenn sie jetzt auch etwas für die Brüder in Bereitschaft gehabt hätte. Na, aber nächstes Jahr bestimmt! Die Kleinen vermißten die Liebesgaben der Schwester übrigens durchaus nicht. Neinerich und Weinerich balgten sich brüderlich um eine heruntergefallene Pfeffernuß, während Heinz ein beängstigendes Interesse für Bruder Norberts neues Aquarium an den Tag legte.

»Solch Quarium ist noch viel famosiger als meine Laterna Maikäfer,« meinte er bewundernd und liebäugelte sehnsüchtig mit Eidechse, Blindschleiche und Kaulquabben.

Liselotte aber hielt es nun nicht länger aus – sie mußte zu Suse. Norbert, in weihnachtlicher Liebenswürdigkeit, bot ihr sein Geleit an.

So zogen sie in die sternendurchblitzte Christnacht hinaus und zählten die Weihnachtsbäume, die man durch die Scheiben glitzern sah.

»Suse – eine Überraschung!« damit stürmte Liselotte in das Bertramsche Zimmer.

Aber jäh blieb sie in der geöffneten Tür stehen – sie wagte es nicht, ihren Augen zu trauen.

Da lag keine Suse mehr auf dem Sofa, sondern glückselig kam ihr die Freundin, zwar noch etwas langsam, in gleichmäßigem Gange entgegen. Die Heilung war glänzend vonstatten gegangen.

»Suse – das ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk,« flüsterte Liselotte unter Tränen und hielt die Freundin innig umfangen.

Aber auch Liselottes Überraschung wurde mit Jubel begrüßt – Suse wußte gar nicht, was sie zu so herrlichen Aussichten sagen sollte.

Lächelnd schaute das Wachsengelchen droben an der Spitze des glitzernden Tannenbaumes auf das Glück der beiden Kinder herab.

* * *


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