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2. Kapitel. Schulfreundinnen.

Auf Regen folgt Sonnenschein.

Am anderen Morgen lachte goldene Sonne vom wolkenlosen Himmel, und ein übermütiger Sonnenstrahl tanzte lustig auf Liselottes Naschen. Die schlug geschwind die Augen auf, gerade als Marie an die Tür pochte, daß es Zeit zum Aufstehen sei. Ihre blauen Augen lachten mit der lieben Sonne um die Wette, nun konnte man doch endlich wieder nachmittags im Garten spielen! Ihr war heute so frei und fröhlich zumute, denn Vaters in Aussicht gestellte »Dresche«, die kannte sie schon. Allenfalls setzte es noch einen Nasenstüber.

Marie kam herein, um ihr das Zöpfchen zu flechten.

»Sieh mal, Liselotte, was ich heute beim Aufräumen auf der Wäschekiste gefunden habe, die beiden Kleinen haben wohl damit gespielt,« sie hielt Liselotte das vergessene deutsche Lesebuch hin.

Aber wie sah das aus! Seiten zerfetzt und zerrissen, der Deckel mit bunten Tuschfarben beschmiert, denn Edchen war ein zweiter Rafael, er bemalte alles, was er in die Hand bekam.

Liselotte stürzte zur Tür.

»Diese Rangen – diese ungezogenen Lümmel – aber wartet nur – ich verwichse euch – Mutti – Muttel – mein gutes Lesebuch haben sie mir verdorben,« schreiend wollte sie zur Tür hinaus.

Aber Marie hielt sie am Zöpfchen fest. »Erst die Haare kämmen und dann, was können denn die Kleinen dafür, wenn du deine Schulbücher herumliegen läßt!«

Aus Liselottes Augen strömten jetzt unaufhaltsam wieder Tränengüsse – aus Sonnenschein folgt manchmal auch Regen! Was würde Fräulein Rau bloß sagen, die Norbert noch dazu gestern auf der Straße angerempelt, wenn sie das verdorbene Buch sah – und ach – der blinde König –daran hatte sie überhaupt noch nicht gedacht! Ob sie sich schulkrank meldete? Aber sie hatte Mutti erst gestern abend versprochen, von nun an stets wahr und aufrichtig zu sein. Und »ein Mann, ein Wort!« sagte Norbert immer.

Mit verheultem Gesicht erschien sie am Kaffeetisch.

»Nanu, Mädel, schon wieder was ausgefressen?« Vater zog die Augenbrauen hoch.

»Ich nicht – aber die Jören – mein Schulbuch haben sie mir zerrissen und beschmiert,« Liselotte schien nicht übel Lust zu haben, auf die friedlich ihre Morgenmilch trinkenden Kleinen loszugehen.

Aber Mutter zog sie neben sich auf den Stuhl nieder. »Erst sage hübsch ›Guten Morgen‹, wie sich's gehört, nach dem Kaffee werden wir die Sache weiter untersuchen.«

Nun lag Liselotte eigentlich recht wenig daran, daß die Sache eingehender untersucht wurde, denn dann kam möglicherweise noch das ungelernte Gedicht ans Tageslicht. So war sie dem Vater sehr dankbar, als er zum Aufbruch trieb, da die Uhr nachging. Vater hatte sein Baubureau unweit des Gymnasiums und brachte seine beiden Großen – Heinz' Unterricht begann erst um neun Uhr – jeden Morgen selbst in die Schule.

»Entschuldige dich jedenfalls vorher bei Fräulein Rau wegen des Buches – vergiß dein Frühstück nicht – nein, solch ein Zankteufelchen!« Mutter wandte sich den plötzlich losheulenden Kleinen zu. Denn Liselotte hatte es sich doch nicht versagen können, im Vorbeigehen die kleinen Sünder wenigstens noch ins Ohrläppchen zu zwicken, was lebhaften Protest des Neinerich – »nein – nich doch – nein« und jämmerliches Gebrüll des Weinerichs zur Folge hatte.

»Du, Norbert,« Liselotte, die auch dem Bruder gegenüber ihrer nächtlichen Beichte wegen kein ganz reines Gewissen hatte, pirschte sich schnell im Garten, während Vater sich an seinen erblühten Spätrosen freute, an Norberts Seite. »Du, ich hab' gestern abend noch die ganze Wurstgeschichte eingestanden, ich konnte nicht schlafen, aber verklatscht habe ich dich nicht!«

»Bist ein anständiger Knopp, Lilo –«, Liselotte wurde ganz heiß vor Freude über das Lob des Bruders – »übrigens bin ich errötend deinen Spuren gefolgt und habe ebenfalls pater peccavi gesagt.« Das lateinische Worte schien Norbert die Ehre eines Untertertianers weniger zu beeinträchtigen als das deutsche »abbitten«.

»Das freut mich, ach, wie froh bin ich –« ja, Liselotte hätte ganz froh sein können, wenn nicht von neun bis zehn deutsche Stunde bei Fräulein Rau gedroht hätte. Sie hing sich an Vaters Arm und versuchte mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Aber sie mußte in einem fort knicksen, denn fast jeder Vorübergehende kannte den Vater und grüßte ihn.

»Knickebein!« uzte sie Norbert, ja, der hatte gut reden, der brauchte bloß seine bunte Mütze zu ziehen.

»Ich wäre auch lieber ein Junge!« sagte sie plötzlich aus tiefem Nachdenken heraus.

»Na, ein halber bist du ja,« lachte der Vater.

Am Marktplatz gesellten sich Apothekers Hanni und die um ein Jahr jüngere Anni zu Liselotte. Die beiden Schwestern waren unzertrennlich, sie trugen stets dieselben Kleider, sogar dieselben Zopfbänder. Was hätte Liselotte darum gegeben, wenn sie auch solch eine Schwester gehabt hätte! Dabei war sie eigentlich ein ganz klein bißchen eifersüchtig auf Anni, denn sie selbst wollte Hannis beste Freundin sein.

»Liselotte, wir müssen laufen, Fräulein Bergmann will noch vor Schulanfang eine neue Ordnerin für die nächste Woche erwählen – 'n Morgen, Herr Baumeister – 'n Morgen, Norbert,« die beiden nahmen Liselotte in die Mitte.

»Leb wohl, Vatel« – »mach' keine Dummheiten, Wildfang« – und da sauste das Kleeblatt auch schon mit dem jungen Morgenwind um die Wette quer über den Marktplatz. Denn gefährliche Automobile oder Wagen gab es in der schlesischen Kleinstadt nicht.

Fräulein Bergmanns Schule war ein altes, graues Haus – »räucherige Bude« nannten Norbert und seine Kameraden sie. Aber der große, ausgedehnte Garten, der sich an das Gebäude schloß und bis an das Wiesenbächlein hinunterging, war für die Schülerinnen ein herrlicher Tummelplatz in den Freistunden. Kam mal ein Fremder in die Stadt, dann blieb er wohl vor dem alten Haus, das so griesgrämig und mürrisch in die Welt guckte, stehen und wunderte sich über den lachenden Frühling, der da hinter den grauen Mauern sein Wesen trieb.

Die vierte Klasse war bereits versammelt. Denn das Ehrenamt einer Ordnerin wollte jede gern erringen. Liselotte war eine befähigte Schülerin, sie hatte den dritten Platz inne. Daß ihre Freundin Hanni über ihr saß, lag nur daran, daß Liselotte nicht immer ihre sieben Sachen und auch nicht ihre Gedanken beisammen hatte, während Hanni ein geordnetes, fleißiges Mädchen war. Die erste aber, Amtmanns Lenchen, mochten sie alle beide nicht recht leiden, die wußte alles stets besser und war nicht von ihrem ersten Platz herunterzukriegen.

Fräulein Bergmann, die Schulvorsteherin, betrat die Klasse. Die Schülerinnen hatten sich zum Gruße erhoben.

»Na, wem verleihen wir denn für diese Woche das Ehrenamt?« meinte Fräulein Bergmann, die junge Schar lächelnd durch die Brillengläser musternd. Neunundzwanzig Zeigefinger durchbohrten die Luft, der dreißigste, Liselotte angehörend, blieb unten. Denn diese benutzte die Zeit, um schnell noch einen Blick auf ihren blinden König zu werfen.

»Ei, Liselotte, liegt dir so wenig an dem Amt?« fragte Fräulein Bergmann erstaunt, denn sonst war die temperamentvolle Liselotte stets eine der lebhaftesten Bewerberinnen.

»O doch – jawohl,« Liselotte schnellte von ihrem Sitz empor.

»Na, Bescheidenheit muß belohnt werden, da du dich diesmal so zurückgehalten hast, sollst du für die kommende Woche für Ruhe und Ordnung in der Klasse Sorge tragen. Guten Morgen, Kinder,« die Vorsteherin verließ die Klasse und Herr Dr. Schwarz, der Rechenlehrer, trat ein.

Strahlend vor Freude, im Gefühl ihrer neuen Würde, lief Liselotte zum Katheder, legte dem Lehrer Ordnungsbuch und Rechenbuch hin und sammelte die Hefte mit den häuslichen Arbeiten ein. Außerdem hatte sie dafür zu sorgen, daß kein Frühstückpapier herumlag, daß die Schülerinnen in den Pausen paarweise die Klasse verließen und die Fenster geöffnet wurden. Und dann durfte man nach Herzenslust mit dem großen Schwamm die riesige Schultafel bearbeiten, zu diesem Zweck mußte man aber erst auf einen Stuhl klettern. Die Schülerinnen, die vor dem Eintritt des Lehrers ihr Mäulchen allzu lebhaft in Bewegung setzten, sollte die Ordnerin mit Kreide an die Schultafel schreiben. Aber das tat keine, nur Anna Hintze hatte mal eine notiert und hieß seitdem die »Petze«. Das schönste aber eigentlich an dem ganzen Ordnerinamt war, daß man zur Geographiestunde die Landkarten zu holen hatte und zur Naturgeschichtsstunde für Pflanzen und Tiere sorgen mußte. Für eine Woche war man die Königin der Klasse.

Liselotte hätte sich auch durchaus als kleine Königin gefühlt, wenn es bloß nicht – einen blinden König gegeben hätte. Sie hatte das Lesebuch heimlich unter dem Tisch geöffnet, und während Herr Dr. Schwarz sich bemühte, ihnen an der Tafel die Bruchrechnung klarzumachen, versuchte sie noch schnell, sich ein paar Strophen ins Gedächtnis zu prägen.

Hanni zupfte sie an der Schürze.

»Mach' doch das Lesebuch zu, Dr. Schwarz hat schon zweimal hergeguckt,« flüsterte die treue Freundin ihr zu.

Der Lehrer schien wirklich aufmerksam geworden zu sein.

»Wiederhole mir das, was ich soeben erklärt habe, Liselotte,« sagte er, da ihre Zerstreutheit ihm nicht entgangen war.

Liselotte sprang auf. Bums – lag das deutsche Lesebuch mit einem lauten Knall auf der Erde. Lustig flatterten die Seiten, welche Edchen und Kurtchen gestern unter den Händen gehabt, auf dem Fußboden umher.

Die Mitschülerinnen begannen zu kichern.

Mit hilflosen Augen blickte Liselotte zur Tafel. Da standen Zahlen, Striche und nochmals Zahlen, aber wie sie zusammenhingen, davon hatte das kleine Mädchen keine blasse Ahnung. Hätte sie doch bloß aufgepaßt – aber sie kam immer erst zu spät auf das Rechte.

»Wird's bald?« Herr Dr. Schwarz setzte sich in Bewegung.

Nur das nicht, wenn er das Lesebuch unten entdeckte – das war nicht auszudenken – half ihr denn keiner in der Not?

Ja, Suse Bertram, die vierte, die Tochter von Vaters Bausekretär, die Liselotte immer ein wenig über die Achsel ansah, stand ihr bei.

»Ein Achtel ist der achte Teil eines Ganzen,« flüsterte sie ihr hilfreich zu, so laut es anging.

Liselotte hatte auch verstanden.

»Ein Achtel ist der achte Teil einer Gans« – wie eine Erlösung kam es von Liselottes Lippen.

Ein nicht endenwollendes Gelächter folgte. Selbst Herr Dr. Schwarz lachte, daß der Anhänger von seiner Uhrkette hin und her hopste.

»Na, da wollen wir mal das Gänschen in den Gänsestall sperren, Liselotte, setze dich hier nach vorn auf die Strafbank!«

O diese Schmach!

Mit dunkelrotem Gesicht kam Liselotte der Aufforderung nach. Wie Amtmanns Lenchen sich freuen würde! Liselotte wagte einen schnellen Seitenblick, aber nein, Lenchen, Hanni und Suse, alle sahen sie mitleidig zu ihr hin.

»Wer ist die Wochenordnerin?« fragte der Lehrer.

Liselotte hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen, sie schwieg. Aber die anderen riefen:

»Liselotte – Liselotte Günther!«

»So, na du scheinst mir ja dafür zu passen, wie die Gans zum Bruchrechnen – so magst du dich selbst bei deiner Ordinaria melden, daß du drei Tage lang den Strafplatz in allen Stunden einnehmen wirst.« Er fuhr in seinen Erklärungen fort.

Liselotte aber stürzten jetzt doch die krampfhast zurückgehaltenen Tränen aus den Augen. Das war zu viel – sie sollte sich selbst bei Fräulein Rau, der Klassenordinaria anzeigen – ach, und wie würde es ihr in der deutschen Stunde erst gehen! Hätte sie doch bloß gestern gelernt, anstatt sich mit den kleinen Geschwistern herumzuzanken, davon kam alles Unheil heraus!

Eine Stunde hat leider nicht mehr als sechzig Minuten – es läutete – und der deutsche Unterricht rückte näher.

Hanni hatte ihr hilfreich das zerfetzte Lesebuch aufgesammelt.

»Um Himmels willen – wie sieht dein Buch aus, was hast du denn damit angefangen?«

»Gib her« – ungestüm riß ihr Liselotte das Buch weg, »du – du ganz allein bist schuld, daß Dr. Schwarz was gemerkt hat, wozu hast du mich auch an der Schürze gezupft – das Zankteufelchen meldete sich bereits wieder.

»Aber ich hab' es doch halt gut gemeint« – verteidigte sich Hanni.

»Ach was – du wolltest bloß, daß ich aus die Strafbank komme« – Liselotte wandte ihrer besten Freundin den Rücken.

So kam es, daß die Bruchrechnung auch zum Bruch zwischen den beiden Freundinnen führte.

Aber Hanni hatte ein gutes Herz. Trotzdem Liselotte ihr soeben mit ihrer ungerechten Beschuldigung sehr weh getan hatte, ging sie zum Klassenschrank und legte ein tadelloses Lesebuch vor Liselotte.

»Edith Wendler fehlt, ihr Lesebuch ist hiergeblieben, nimm das,« sagte sie.

Zankteufelchen hätte ihr am liebsten das Buch vor die Füße geworfen, aber die Angst vor Fräulein Rau war größer als Liselottes Stolz.

»Danke,« brummte sie möglichst feindlich und steckte die Nase ins Buch. An ihr Ordnerinamt dachte sie nicht mehr. So gingen die kleinen Mundwerke in der vierten Klasse denn lustig hin und her – keine Aufpasserin, keine, die ermahnte, man überhörte sogar das Klingelzeichen. Fräulein Rau stand plötzlich in der Klasse, ohne daß man ihrer zuerst gewahr wurde.

»Ruhe« – gebot sie streng, »das ist ja hier ein Geschnatter wie in einem Gänsestall« – zum zweitenmal wurde die vierte Klasse heute damit verglichen – eine furchtbare Blamage!

»Wo ist die Ordnerin?«

Liselotte trat mit gesenktem Haupt vor.

»Wenn du dein Amt so schlecht erfüllst, werden wir dich absetzen müssen – willst du noch etwas?«

Die grauen Augen musterten das kleine Mädchen scharf durch die Lorgnette.

Liselotte stand und druckste.

»Ich – ich muß drei Tage lang auf der Strafbank sitzen,« stieß sie plötzlich mit dem Mut der Verzweiflung heraus.

»Das ist ja recht feierlich – und du willst für Ordnung in der Klasse sorgen – fange nur vorläufig erst bei dir selbst mit der Ordnung an – Suse Bertram, du wirst das Amt verwalten.«

Abgesetzt – eine entthronte Königin – Liselotte ballte die Hände.

Nie war es vorgekommen, daß eine Schülerin vor Ablauf der Woche ihres Amtes verlustig gegangen; und gerade Suse Bertram ihre Nachfolgerin, deren Vater doch eigentlich ein Untergebener von Vatel war – das war noch viel demütigender! Daß Suse ein viel fleißigeres und gewissenhafteres Kind war als sie selbst, daran dachte die törichte Liselotte nicht. Langsam schritt sie zu ihrem Strafplatz zurück. Sie konnte doch unmöglich jetzt auch noch eingestehen, daß sie das Gedicht nicht gelernt habe. »Vielleicht komme ich gar nicht heran!« damit versuchte sie sich zu trösten.

Es schien wirklich, als ob sich der Unglücksstern, der Liselotte heute verfolgte, in einen Glücksstern verwandelt hätte. Fräulein Rau dachte nicht an das Gedicht, sondern begann einen Aufsatz durchzunehmen. »Meine Lieblingsbeschäftigung«, so hieß er. Jede sollte ihr sagen, welches ihre liebste Beschäftigung daheim sei.

Liselotte zerbrach sich den Kopf – welches war nur ihre Lieblingsbeschäftigung? Wenn sie ganz ehrlich sein wollte, sich mit den Geschwistern zu kabbeln und zu zanken. Aber das konnte sie doch unmöglich Fräulein Ran mitteilen. Was mochten nur die anderen sagen?

Amtmanns Lenchens Lieblingsbeschäftigung bestand darin, die Schularbeiten anzufertigen, natürlich, solch ein Tugendschaf! Apothekers Hanni mochte am liebsten mit Schwester Anni zusammen Puppenkleider schneidern. Liselotte empfand wieder ein Gefühl der Eifersucht in sich aufbegehren, trotzdem Hanni doch jetzt ihre Feindin war. Suse Bertram half der Mutter eifrig im Haushalt – freilich, die hielten ja auch kein Mädchen, nur eine Aufwartefrau, dachte Liselotte hochmütig. Die eine arbeitete im Garten, die andere spielte gern Klavier, die dritte las Geschichtenbücher – nun kam sie bald heran ... was sagte sie nur?

»Na und du, Liselotte Günther?«

»Ich klettere am liebsten auf Vaters Baugerüst herum« – Gott sei Dank, daß ihr noch was eingefallen war.

»Darfst du denn das?« verwunderte sich Fräulein Rau, »das wird weder deinen Gliedern noch deinen Kleidern sehr heilsam sein!«

»Nein, dürfen darf ich's natürlich nicht« – was sich Fräulein Rau auch dachte, dann wär's doch nicht halb so schön – »wir tun's doch bloß heimlich, und wenn Vater uns dabei erwischt, setzt's was,« meinte Liselotte eifrig.

»Ich finde deine Lieblingsbeschäftigung weder sehr mädchenhaft noch sehr nutzbringend,« äußerte sich Fräulein Rau abfällig.

Und wieder mußte sich Liselotte schämen. Das wievielte Mal wohl nun schon heute?

»Also zur nächsten Stunde schreibt ihr mir zwei Seiten über eure Lieblingsbeschäftigung – nun war ja wohl auch noch zu heute etwas auswendig zu lernen, wir haben noch zehn Minuten Zeit. Hilde von Thielen mag beginnen.«

Mit viel Pathos begann Hilde, das Landratstöchterchen, den blinden König zu deklamieren.

»Lieber Gott, laß die Stunde eher aus sein, als ich rankomme,« flehte Liselotte heimlich in Todesangst. Sie hielt den Zeigefinger zwischen die bewußte Seite geklemmt, um jeden Augenblick aufschlagen zu können.

»Anna Hintze fortfahren« – Himmel, das Unheil schreitet näher, Anna Hintze hatte den Platz vor Liselotte inne. Wie fein die Anna, die allgemein als Faultier galt, das Gedicht auswendig konnte – aber freilich, die war ja auch schon das dritte Jahr in der vierten Klasse.

»So, Liselotte, nun zeige uns mal, daß du noch etwas anderes kannst, als auf der Strafbank zu sitzen und auf Baugerüsten herumzuklettern« – Fräulein Rau wandte sich Liselotte zu.

Die erblaßte. Das Herz schien ihr still zu stehen. Geschwind noch einmal ins Lesebuch geschielt!

Aber Fräulein Raus grauen Augen entging nichts Ungehöriges. Stillschweigend griff sie nach dem Buch.

Nur die erste Zeile hatte Liselotte gerade noch erschielen können.

»Gib, Räuber, aus dem Felsverlies« – da stand sie und wußte nicht weiter.

Sie begann noch einmal. Vielleicht, daß ein guter Geist ihr inzwischen zuraunte, was dann kam. Aber in Fräulein Raus Stunde wagte keine vorzusagen.

»Gib, Räuber, aus dem Felsverlies« – – – »das Lesebuch mir zurück,« setzte Fräulein Rau plötzlich hinzu.

Alle verbargen das Gesicht hinter den Taschentüchern, keine traute sich laut zu lachen.

»Wir werden uns nach der Stunde sprechen,« Fräulein Rau würdigte Liselotte keines Wortes mehr.

Zehn-Uhr-Pause.

Lachend und schwatzend, die Hände mit Brot und Obst beladen, zogen die Mädels paarweise in den großen Garten hinunter. Wer doch mit ihnen mitkönnte!

Fräulein Rau schloß die Klassentür.

»Liselotte Günther, ich habe dich bisher für eine gute Schülerin gehalten, die trotz ihrer Wildheit stets gern ihre Pflicht getan. Ich sehe, daß ich mich in dir geirrt habe. Wenn du dich nicht sehr zusammennimmst, werden deine Eltern wenig Freude an der Oktoberzensur haben,« Fräulein Rau hatte nicht streng gesprochen, nur traurig, und das ging der weichen Liselotte viel mehr zu Herzen.

Sie hielt den braunen Krauskopf tief gesenkt.

Aus dem Schulgarten schallte Kinderlachen und Jauchzen durch das geöffnete Fenster herauf, während ihr dicke Tränen über die Wangen liefen.

»Fräulein Rau – o Fräulein Rau – ich will mich bessern – ganz gewiß – und seien Sie auch, bitte, nicht mehr böse, daß wir Sie gestern abend auf der Straße angestoßen haben,« schluchzte sie.

»Ich habe deine Entschuldigung, deines gestrigen Venehmens wegen, bereits vor der Stunde erwartet, es soll mich freuen, wenn du mir durch künftigen Fleiß und gutes Betragen zeigst, daß du Reue fühlst. Liselotte war entlassen.

Sie schlich mit ihrem Frühstückspäckchen die Treppe hinunter, die sie sonst so fröhlich herabzusausen pflegte. Unten warteten Hanni und Anni. Die gutmütige Hanni dachte nicht mehr an den Streit von vorhin.

»Hast du einen Tadel bekommen, Liselotte – liebe Lilo, was weinst du denn so schrecklich –« Hanni schlang mitleidig den Arm um der Freundin Hals.

Ja, wenn nur Anni nicht dabei gewesen wäre! Aber vor Anni, dem kleinen Jör, das ein ganzes Jahr jünger war, mochte Liselotte nicht zeigen, wie wohl ihr Hannis Zuspruch tat. Außerdem ärgerte sie sich auch darüber, daß Hanni, die sonst stets mit ihr ging, heute die Schwester untergefaßt hatte.

Unfreundlich machte sie sich los.

»Laß mich – wir zwei sind schuß!«

Einsam ging sie inmitten der fröhlichen Kinderschar den Weg hinunter bis an das Wiesenbächlein. Dort saß sie mit baumelnden Beinen auf dem Birkenbänklein, der sogenannten »Freundschaftsbank«, vertilgte ihre Butterschnitte und aß die Tränen mit, die ihr die Nase entlangliefen.

Auch mittags, als die Schule aus war, sah man die Busenfreundinnen nicht zusammen über den Marktplatz ziehen. Hanni und Anni gingen voraus, und zehn Schritte hinterdrein schlenderte Liselotte mit schiefem Hut und sehnsüchtigen Augen.

»Ach – wenn ich doch auch eine Schwester hätte!« so seufzte sie aus tiefstem Herzensgrunde.

* * *


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