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Eine Beobachtung in Paris

Der Pariser reist nur wenig, er versteht keine Sprache als die seinige, liest nur einheimische Bücher und ist infolgedessen recht beschränkt und selbstzufrieden. Doch seien wir gerecht; es giebt Franzosen, die auch fremde Sprachen verstehen: die Kellner. Unter anderem verstehen sie auch englisch; allerdings auf ihre Art – sie können es sprechen, aber nicht verstehen. Sie machen sich leicht verständlich, aber es ist fast unmöglich, einen englischen Satz so auszudrücken, daß sie fähig wären, ihn zu verstehen. Sie glauben und behaupten, ihn zu verstehen, verstehen ihn aber nicht. Nachstehende Unterredung hatte ich mit einem dieser Menschen; ich schrieb dieselbe seinerzeit nieder, um sie aufzubewahren.

Ich. Das sind schöne Orangen. Wo sind sie her?

Er. Mehr? Ich werde gleich welche bringen.

Ich. Nein, bringen Sie keine mehr; ich möchte nur wissen, wo sie her sind – wo sie gewachsen sind.

Er. Ja? (mit unerschütterlich gleichgültiger Miene.)

Ich. Ja. Können Sie mir sagen, aus welchem Lande sie sind?

Er. Ja? (lächelnd, mit stärkerer Betonung.)

Ich (entmutigt.) Sie sind sehr erfrischend.

Er. Guten Abend. (Verbeugt sich und entfernt sich sehr befriedigt.)

Der junge Mann hätte ein guter ›Engländer‹ werden können, wenn er sich ordentlich Mühe gegeben hätte; aber er war Franzose und wollte das nicht. Wie ganz anders bei unsern Leuten! Sie benützen jede Gelegenheit, um französisch zu lernen. Es giebt in Paris eine Anzahl französischer Protestanten, welche sich ein hübsches Kirchlein an einer der großen Avenuen, die vom Triumphbogen ausgehen, bauten. Sie wollen dort die rechte Lehre auf die rechte Art in französischer Sprache predigen hören. Aber ihre Freude wird ihnen verdorben: unsere Landsleute kommen ihnen jeden Sonntag zuvor und füllen den ganzen Raum. Wenn der Geistliche die Kanzel betritt, findet er das Gotteshaus voll von andächtigen Fremden, von denen jeder ein kleines Buch in der Hand hat – anscheinend ein in Maroquin gebundenes Testament, wenn man genauer hinsieht, erblickt man Bellows ausgezeichnetes und erschöpfendes französisch-englisches Taschenwörterbuch, das in Ansehen, Einband und Größe genau einem Testament gleicht. Diese Andächtigen haben sich eingefunden, um Französisch zu lernen. Das Gebäude hat daher den Spitznamen ›Die Kirche für französische Gratislektion‹ erhalten.

Diese Zuhörer eignen sich wahrscheinlich mehr Sprachkenntnis als allgemeines Wissen an, denn eine französische Predigt gleicht ganz einer französischen Rede; sie nennt nie ein geschichtliches Ereignis, sondern giebt nur das Datum an; wenn man darin nicht gut beschlagen ist, verliert man sich. Eine französische Rede aber lautet etwa wie folgt: –

»Freunde, Bürger, Brüder, edle Glieder der einzig erhabenen und vollkommenen Nation, lasset uns nicht vergessen, daß der 21. Januar unsere Ketten zerbrach, daß der 10. August uns von der schimpflichen Gegenwart fremder Spione befreite, daß der 5. September seine eigene Rechtfertigung war vor Gott und der Welt, daß der 18. Brumaire den Keim zu seiner eigenen Bestrafung in sich trug, daß der 14. Juli die mächtige Stimme der Freiheit war, welche die Auferstehung, den neuen Tag verkündete und die unterdrückten Völker der Erde einlud, das göttliche Antlitz Frankreichs zu beschauen und zu leben; und lasset uns unsern ewigen Fluch aussprechen gegen den Mann des 2. Dezember und mit Donnerstimme der ureigenen Stimme Frankreichs, erklären, daß es ohne ihn in der Geschichte keinen 17. März, keinen 12. Oktober, keinen 19. Januar, keinen 22. April, keinen 16. November, keinen 30. September, keinen 2. Juli, keinen 14. Februar, keinen 29. Juni, keinen 15. August, keinen 31. Mai gegeben hätte – daß ohne ihn Frankreich, das Reine, das Große, das Unvergleichliche, heute einen glücklicheren und reineren Kalender besäße.«

Ich habe von einer französischen Predigt gehört, die in dieser wunderlichen, aber beredten Weise schloß: –

»Andächtige Zuhörer, wir haben eine traurige Veranlassung, des Mannes vom 13. Januar zu gedenken. Die Folgen des ungeheuren Verbrechens vom 13. Januar stehen im richtigen Verhältnis zu der Größe der That selbst; ohne diese wäre uns das kummervolle Schauspiel des 30. Novembers erspart geblieben. Die Greuelthat des 16. Juni wäre ohne sie nie verübt worden, noch wäre der Mann des 16. Juni je zum Dasein gelangt; sie war allein schuld an dem 3. September, wie an dem verhängnisvollen 12. Oktober. Sollen wir also dankbar sein für den 13. Januar mit seinem Todesschrecken für euch und mich und alles, was atmet? Ja, meine Freunde, denn er gab uns auch, was ohne ihn nie und nimmermehr gekommen wäre – den gesegneten 25. Dezember.«

Vielleicht ist hier eine Erklärung am Platze, obgleich eine solche für viele meiner Leser kaum nötig sein wird. Der Mann des 13. Januar ist Adam; das Verbrechen jenes Tages war das Essen des Apfels; das traurige Schauspiel des 30. November war die Vertreibung aus dem Paradiese; die Greuelthat des 16. Juni war die Ermordung Abels; am 3. September begann die Reise nach dem Lande Nod; Nach der Bibel: Land der Verbannung. Anm. des Übers. am 12. Oktober verschwand die letzte Bergspitze unter der Sündflut. Wenn man in Frankreich zur Kirche geht, muß man einen Kalender, in dem die Gedenktage verzeichnet sind, mitnehmen.


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