Mark Twain
Querkopf Wilson
Mark Twain

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Wilson fuhr in seine Kleider und machte sich gleich ans Werk. Er war jetzt völlig wach und arbeitete wie mit Dampfkraft. Seine große, hoffnungsreiche Entdeckung hatte ihn neu gestärkt und jedes Gefühl der Ermüdung mit einem Schlage vertrieben. Von einer Anzahl seiner ›Protokolle‹ fertigte er sorgfältig ausgeführte Zeichnungen an und vergrößerte sie aufs zehnfache mittels des Storchschnabels. Diese vergrößerten Aufnahmen zeichnete er auf weißen Pappendeckel und zog jede einzelne Linie in dem verworrenen Labyrinth von Schlingen, Strichen und Bogen mit Tinte nach, um das ›Muster‹ des ›Protokolls‹ mit voller Deutlichkeit zum Vorschein zu bringen.

Ein ungeübtes Auge konnte vielleicht an den Original-Abdrücken auf den Glasplatten nur geringe Unterschiede entdecken, aber bei zehnfacher Vergrößerung glichen sie der Faser eines quer durchgesägten Holzblocks, und wer nicht blind war, mußte selbst bei einer Entfernung von mehreren Fuß auf den ersten Blick erkennen, daß nicht eins der Muster mit dem andern übereinstimmte. Als Wilson endlich seine mühsame und schwierige Arbeit beendet hatte, ordnete er die einzelnen Blätter, so daß sie eine fortschreitende Reihenfolge bildeten und fügte noch ein Paket vergrößerte Aufnahmen hinzu, die er im Lauf der Jahre von Zeit zu Zeit gemacht hatte.

Die Nacht verging darüber und es war schon heller lichter Tag geworden. Er nahm sich kaum Zeit, einen Bissen zum Frühstück zu essen; es schlug neun Uhr, die Gerichtssitzung sollte beginnen. Zehn Minuten später saß er dort mit den ›Protokollen‹ auf seinem Platz.

Tom Driscoll stieß seinen Nachbar heimlich mit dem Ellbogen. »Seht nur,« sagte er, auf die Pappblätter weisend, »was der Querkopf für ein gewiegter Geschäftsmann ist – er denkt, wenn er auch den Prozeß nicht gewinnt, kann er doch die gute Gelegenheit benutzen, seine Palastfenster-Verzierungen unentgeltlich bekannt zu machen.«

Die Ankunft der drei Zeuginnen hatte sich verzögert, und als man dies Wilson mitteilte, stand er auf und erklärte, er werde vermutlich überhaupt auf ihre Vernehmung verzichten. (»Er streicht die Segel,« murmelte die belustigte Menge, »er duckt sich, ohne auch nur einen Hieb zu wagen!«) »Ich habe andere Beweise,« fuhr Wilson fort, »die ich für besser halte.« (Das Interesse wuchs, ein Gemurmel der Verwunderung ließ sich hören, aus dem auch etwas wie Enttäuschung klang.) »Damit es nicht den Anschein hat, als wünsche ich den Gerichtshof mit dieser Nachricht zu überraschen, will ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß ich die Beweise selbst erst gestern noch am späten Abend entdeckt habe und seitdem bis vor einer halben Stunde mit der Untersuchung und Anordnung des Materials beschäftigt gewesen bin. Ich werde mir sogleich erlauben, es vorzulegen. Zuerst aber gestatten Sie mir wohl noch einige einleitende Worte:

»Der hohe Gerichtshof wird mir beipflichten, daß der Hauptpunkt, auf den sich die Anklage stützt, auf den sie den größten Nachdruck legt und den sie mit – ich darf wohl sagen herausfordernder Feindseligkeit, in den Vordergrund stellt, in der Annahme zu finden ist, daß derjenige, dessen blutige Fingerspur wir auf dem Griff des indischen Dolchmessers sehen – und kein anderer – den Mord verübt hat.« Hier machte Wilson eine Pause, um mit dem, was er sagen wollte, einen größeren Eindruck zu erzielen und fügte dann gelassen hinzu: »Mit dieser Behauptung sind wir einverstanden.«

Das kam völlig unerwartet; kein Mensch war auf dieses Zugeständnis vorbereitet. Von allen Seiten erhob sich ein Gewirr verwunderter Stimmen, und man hörte hie und da die Aeußerung fallen, der Rechtsanwalt müsse wohl vor Ueberanstrengung den Verstand verloren haben. Selbst der im Staatsdienst ergraute Richter, der beim Strafverfahren auf allerlei Rechtskniffe und verborgenes Geschütz aus dem Hinterhalt vorbereitet war, wußte nicht, ob er seinen Ohren trauen dürfe und erkundigte sich, was der Verteidiger gesagt habe. Howards Gesicht blieb zwar unbeweglich, aber seine ganze Haltung verriet, daß er einen Augenblick etwas von seiner sorglosen Zuversicht eingebüßt hatte.

»Wir sind nicht nur mit der Behauptung einverstanden,« fuhr Wilson fort, »sondern auch bereit, sie aufs angelegentlichste zu unterstützen. Ich werde seinerzeit auf diesen Punkt wieder zurückkommen und möchte jetzt Ihre Aufmerksamkeit noch auf mehrere andere Umstände lenken.«

Er hatte beschlossen, in betreff der Beweggründe des Mordes einige kühne Schlußfolgerungen zu wagen, um etwaige Lücken in der Beweisführung auszufüllen. Traf er das richtige, so würde es von Nutzen sein, und im entgegengesetzten Fall wenig schaden.

»Meiner Ansicht nach deuten verschiedene Einzelheiten darauf hin, daß der Mord aus ganz andern Gründen begangen wurde, als die Klage für gut findet anzunehmen. Ich bin überzeugt, daß es keine That der Rache war, sondern ein Raubmord. Den angeklagten Brüdern war mitgeteilt worden, daß einer von ihnen dem Richter Driscoll bei der nächsten Begegnung zu Leibe gehen müsse, wenn er nicht selbst Gefahr laufen wolle, von ihm getötet zu werden. Nun erklärt man die Anwesenheit meiner Klienten auf dem Schauplatz des Mordes damit, daß der Selbsterhaltungstrieb sie veranlaßt habe, heimlich dorthin zu gehen und den Gegner des Grafen Luigi niederzustoßen, um ihr eigenes Leben zu schützen.

»Warum sind sie dann aber nach vollbrachter That nicht entflohen? Frau Pratt hatte den Hilferuf nicht gehört, sie erwachte erst mehrere Minuten später, es verging also immerhin einige Zeit, bis sie in das Zimmer gestürzt kam. Dort standen die beiden Männer und machten keinen Versuch zu entfliehen. Waren sie schuldig, so hätten sie schon die Flucht ergriffen, ehe noch Frau Pratt die Treppe herunterkam. Was war aus ihrem Selbsterhaltungstrieb geworden, der stark genug sein sollte, um sie zu bewegen, den unbewaffneten alten Mann meuchlings zu töten? Ließ er sie jetzt im Stich, da sie ihn am nötigsten brauchten? Wäre irgend einer von uns etwa an Ort und Stelle geblieben? Wem könnte man wohl eine solche Thorheit zutrauen?

»Als eine sehr wichtige Thatsache gilt ferner, daß die Angeklagten eine hohe Belohnung für die Wiedererlangung des Dolchmessers ausgesetzt haben, mit dem der Mord verübt wurde. Es fand sich aber niemand, um die Belohnung zu fordern, und das sah man als einen Indizienbeweis an, daß der angebliche Diebstahl überhaupt nur Lug und Trug gewesen sei. Dazu kam noch der merkwürdige, prophetische Ausspruch des Verstorbenen in bezug auf das Messer, sowie dessen Wiederauftauchen in dem verhängnisvollen Zimmer, wo man außer dem Eigentümer des Messers und seinem Bruder niemand bei der Leiche des Ermordeten fand. Alle diese Umstände bilden eine in einander greifende Kette von Beweisen, durch welche das Verbrechen unwiderleglich den beiden unglücklichen Fremdlingen zur Last gelegt wird.

»Ich aber bin bereit, den Zeugeneid darauf zu leisten, daß auch für die Ergreifung des Diebes eine hohe Belohnung zugesagt worden ist, aber nicht durch die Zeitung, sondern insgeheim. Diese Thatsache wurde unklugerweise erwähnt oder wenigstens stillschweigend zugegeben, wo Vorsicht unnötig schien und doch vielleicht geboten war. Der Dieb kann selber zugegen gewesen sein.« (Tom Driscoll hatte den Redner angesehen, jetzt senkte er aber den Blick.) »Natürlich mußte er in diesem Fall das Messer behalten, er konnte es weder zum Verkauf anbieten noch zum Pfandleiher tragen.« (Viele Anwesende nickten zustimmend, um zu verstehen zu geben, daß sie dies für einen guten Schachzug hielten.) »Ich werde ferner den Geschworenen zu beweisen suchen, daß wenige Minuten, ehe die Angeklagten Herrn Driscolls Zimmer betraten, schon jemand darin gewesen ist.« (Dies verursachte große Erregung, alle Köpfe im Gerichtssaal fuhren in die Höhe, die Aufmerksamkeit war ungeteilt.) »Im Notfall will ich durch das Zeugnis der drei Fräulein Clarkson erhärten, daß sie einer verschleierten Person begegnet sind – anscheinend einer Frau – die wenige Minuten, nachdem der Hilfeschrei gehört wurde, zum hintern Hofthor hinausging. Es war aber keine Frau, sondern ein Mann in Weiberkleidern.« (Abermaliges Aufsehen. Wilson schaute nach Tom hin, als er diesen Schuß ins Blaue wagte, um sich von der Wirkung zu überzeugen. Er war zufrieden mit dem Erfolg; »es ist richtig,« dachte er, »er fühlt sich getroffen!«)

»Der Mann hatte in dem Hause stehlen wollen – nicht einen Mord begehen. Zwar war der eiserne Schrank nicht aufgebrochen, aber der Geldkasten mit dreitausend Dollars stand auf dem Tisch. Möglich, daß der Dieb sich im Hause verborgen hatte, daß er die Gewohnheit des Richters kannte, am Abend den Inhalt des Kastens zu zählen und seine Rechnungen zu ordnen – falls Herr Driscoll das zu thun pflegte, worüber ich keine Gewißheit habe. – Vielleicht versuchte er sich des Kastens zu bemächtigen, während der Eigentümer schlief, machte aber Lärm, wurde ergriffen und konnte sich nur mit Hilfe des Dolches befreien; die Beute mußte er aber im Stiche lassen und fliehen, weil er Leute kommen hörte.

»Dies ist meine Auffassung der Sache und ich wende mich nun zu den Beweismitteln, durch die ich versuchen werde, Sie von der Richtigkeit meiner Behauptung zu überzeugen.« Wilson nahm einige von den Glasplättchen zur Hand. Als die Zuhörer diese allbekannten Wahrzeichen der früheren kindischen Spielerei und Thorheit des Querkopfs erblickten, wich das gespannte, feierliche Interesse aus ihren Zügen, und ein lautes, herzerfrischendes Gelächter schallte durch den Saal; auch Tom raffte sich auf und nahm teil an dem Spaß, aber Wilson ließ sich anscheinend nicht beirren. Er ordnete seine ›Protokolle‹ vor sich auf dem Tisch und sagte:

»Ich bitte den Gerichtshof, mir noch einige vorläufige Bemerkungen über das Beweismaterial zu erlauben, das ich vorzulegen beabsichtige, und dessen Echtheit ich beschwören will:

»Ein jeder Mensch besitzt von der Wiege bis zum Grabe gewisse körperliche Merkmale, die sich niemals verändern, an denen man ihn jederzeit zu erkennen vermag – und zwar mit untrüglicher Sicherheit, ohne den geringsten Zweifel. Diese Kennzeichen sind ihm als Stempel aufgedrückt, sie bilden sozusagen seine physiologische Marke und eigenhändige Unterschrift, die weder gefälscht noch verstellt werden kann und sich nicht verbergen läßt. Auch der Zahn der Zeit zerstört sie nicht und sie sind keiner Wandlung unterworfen. Ich rede hier nicht etwa von den Zügen des Gesichts, die sich oft im Alter bis zur Unkenntlichkeit verändern, auch nicht vom Haar, das ausfallen kann, nicht von der Gestalt und Größe, denn darin giebt es Doppelgänger, während jene Kennzeichen jedem Menschen eigentümlich sind und sich bei keinem der Millionen, die den Erdball bevölkern, zum zweitenmal vorfinden.« (Jetzt horchten die Anwesenden wieder hoch auf.)

»Die Merkmale, welche ich meine, bestehen in den feinen Linien oder Furchen, welche die Natur auf der inneren Hand des Menschen und den Sohlen seiner Füße zeichnet. Wenn Sie Ihre Fingerspitzen betrachten wollen, so werden Sie, falls Sie scharfe Augen haben, erkennen, daß diese zarten Wellenlinien dicht beisammen liegen und verschiedene, deutlich wahrnehmbare Muster bilden, Bogen, Kreise, Winkel, Krümmungen u. dergl. und daß kein Finger darin dem andern gleicht.« (Jedermann im Saal hielt jetzt die Hand in die Höhe, bog den Kopf zur Seite und betrachtete aufmerksam seine Fingerspitzen; hier und dort hörte man jemand verwundert flüstern: ›Wirklich, er hat recht – das ist mir noch nie aufgefallen.‹) »Die Muster der rechten Hand sind verschieden von denen der linken.« (Es fallen Ausrufe wie: ›Jawohl, das trifft auch zu!‹) »Prüfen Sie jeden Finger einzeln – Ihre Muster unterscheiden sich von denen Ihres Nachbars.« (Im ganzen Saal wurden Vergleiche angestellt, selbst der Richter und die Geschworenen vertieften sich in diese seltsame Beschäftigung.) »Auch bei einem Zwilling unterscheidet sich die Rechte von der Linken. Die Muster sind bei dem einen Zwilling anders als bei seinem Bruder – die Geschworenen werden sich überzeugen, daß diese Regel auch bei den Angeklagten ihre Bestätigung findet.« (Sogleich nahm man die Untersuchung mit den Händen der Zwillinge vor.) »Man sagt oft, es giebt Zwillinge, die sich so aufs Haar gleichen, daß ihre eigenen Eltern sie nicht unterscheiden können, wenn sie überein gekleidet gehen. Aber noch nie ist ein Zwilling auf Erden geboren worden, der nicht von der Geburt bis zum Grabe das sicherste Zeichen seiner Eigenart in dieser wunderbaren und geheimnisvollen Urschrift besessen hätte. Wer das einmal weiß, den kann der andere Zwilling nicht betrügen, wenn er sich für seinen Bruder ausgeben will.«

Wilson hielt jetzt inne und stand schweigend da. Wenn das ein Redner thut, so fesselt er die Aufmerksamkeit unwiderstehlich. Die Stille verkündet, daß etwas Wichtiges bevorsteht. Alle Hände und Fingerspitzen senkten sich, gebückte Gestalten richteten sich in die Höhe, die Köpfe reckten sich, jedes Auge war auf Wilsons Gesicht geheftet. Er wartete noch ein paar Sekunden, um der Wirkung des Zauberbanns sicher zu sein; dann, als er in dem lautlosen Schweigen das Ticken der Uhr an der Wand vernahm, faßte er den indischen Dolch bei der Klinge, hielt ihn empor, daß alle Anwesenden die dunklen Flecken auf dem Elfenbeingriff sehen konnten, und sagte mit ruhiger, leidenschaftsloser Stimme:

»Auf diesem Schaft steht die Urschrift des Mörders mit dem Blut des harmlosen und hilflosen alten Mannes geschrieben, der euch wohlwollte und für den eure Herzen schlugen. Es giebt nur einen Menschen auf Erden, dessen Hand das Ebenbild dieses blutigen Zeichens trägt –« er schwieg und sah nach dem Pendel der Uhr, der sich hin und her bewegte – »und so Gott will, wird er hier im Saal vor Ihnen erscheinen, ehe noch die Mittagsstunde schlägt.«

Betäubt, verwirrt und halb unbewußt erhob sich ein Teil der Menge, als erwarteten sie, den Mörder zur Thür hereintreten zu sehen. Allerlei Ausrufe schwirrten durch die Luft. – ›Ruhe im Gerichtssaal – hinsetzen!‹ ermahnte der Sheriff. Man gehorchte, und die Ordnung ward wieder hergestellt. Wilson blickte verstohlen zu Tom hinüber. »Alle Welt hat Mitleid mit ihm,« dachte er, »man sieht ihm jetzt das Elend und die Drangsal an; die Leute sagen sich, daß es eine schwere Prüfung für einen jungen Menschen ist, seinen Wohlthäter auf so grausame Weise verloren zu haben – darin gebe ich ihnen ganz recht.«

Er fuhr jetzt in seiner Rede fort.

»Ueber zwanzig Jahre lang habe ich mich während meiner erzwungenen Muße damit ergötzt, diese seltsamen, unvertilgbaren Kennzeichen in hiesiger Stadt zu sammeln. Bei mir zu Hause habe ich deren hundert und aber hundert aufbewahrt. Jeder Abdruck ist mit Namen und Datum versehen, die nicht etwa am nächsten Tage oder in der nächsten Stunde beigefügt wurden, sondern unmittelbar nach der Aufnahme. Alles, was ich jetzt sage, nehme ich auf meinen Zeugeneid. Ich besitze die Fingerabdrücke des Richters, seiner Beisitzer und sämtlicher Geschworenen. In diesem ganzen Saal ist kaum ein Mensch, sei er Weißer oder Farbiger, dessen Urschrift ich nicht vorzeigen könnte. Mag sich einer auch noch so sehr verstellen, ich würde doch immer imstande sein, ihn aus allen Mitmenschen herauszufinden und Gewißheit über seine Persönlichkeit zu erlangen. Und wenn er und ich hundert Jahre alt werden sollten, so kann ich das allezeit so gut thun, wie heute.« (Das Interesse der Versammlung wuchs zusehends.)

»Ich habe mehrere dieser Abdrücke so genau studiert, daß sie mir ebenso geläufig sind wie dem Bankkassier die Unterschrift seines ältesten Deponenten. Ich möchte jetzt einige von den Herren – darunter die Angeklagten – ersuchen, während ich ihnen den Rücken zukehre, sich durch das Haar zu fahren und dann ihre Finger einzeln auf eine der Fensterscheiben neben der Geschworenenbank zu drücken. Dies Experiment bitte ich zu wiederholen, aber auf einer anderen Scheibe und in ganz anderer Anordnung, doch so, daß sich die Fingerabdrücke der Angeklagten wieder darunter befinden. Es wäre immerhin möglich, daß man durch einen ganz besonderen Zufall einmal mit bloßem Raten die richtigen Abdrücke herausfindet, deshalb möchte ich eine doppelte Probe bestehen.«

Er drehte sich nach der Wand, und die beiden Fensterscheiben bedeckten sich rasch mit länglichen, von schwachen Linien durchzogenen Flecken, die jedoch nur denjenigen sichtbar waren, welche sie gegen einen dunkeln Hintergrund sahen, zum Beispiel gegen die belaubten Bäume draußen. Nun rief man Wilson, er ging zum Fenster und stellte seine Untersuchung an. Hierauf sagte er:

»Dies ist Graf Luigis rechte Hand, dort unten, drei Abdrücke tiefer, ist seine linke. Hier ist Graf Angelos Rechte, da drüben seine Linke. Jetzt die andere Scheibe: hier und hier sind Graf Luigis Abdrücke. und dies und das sind die seines Bruders.« Er wandte sich um: »War es richtig?«

Ein donnerndes Beifallklatschen gab ihm Antwort.

»Das streift wirklich ans Wunderbare,« sagte der Vorsitzende.

Wilson trat wieder ans Fenster.

»Hier,« sagte er, mit dem Finger darauf deutend, »ist die Hand des Friedensrichters Robinson (Beifall), dieser Abdruck stammt vom Konstabler Blake (Beifall), jener dort vom Geschworenen Mason (Beifall), der drüben vom Sheriff (Beifall), die andern kann ich jetzt nicht nennen, aber ich habe sie alle zu Hause mit Namen und Datum und könnte sie aus meiner Sammlung herausfinden.«

Unter stürmischen Beifallrufen begab er sich wieder an seinen Platz. Der Sheriff stellte schnell die Ruhe her und befahl den Leuten, sich zu setzen, denn alle waren aufgestanden und hatten sich nach Kräften bemüht, etwas zu sehen zu bekommen. Die Richter, die Geschworenen, der Sheriff und alle übrigen waren bis jetzt zu sehr mit Wilsons merkwürdiger Leistung beschäftigt gewesen, um auf die Ordnung im Gerichtssaal zu achten.

»Und jetzt,« fuhr Wilson fort, »habe ich hier die Fingerabdrücke zweier Kinder in zehnfacher Vergrößerung, so daß jeder, der Augen hat, auf den ersten Blick den Unterschied der Zeichnung erkennen kann. Wir wollen die Kinder A und B nennen. Hier ist A's Abdruck im Alter von fünf Monaten und hier wieder von sieben Monaten.« (Tom schrak zusammen.) »Sie sind einander ganz gleich, wie Sie sehen. Hier ist B's Hand von fünf und hier von sieben Monaten. Beide stimmen genau überein, sind aber von A's Muster ganz verschieden, wie Sie bemerken werden. Für jetzt lege ich die Blätter beiseite und komme später darauf zurück.

»Die zwei Zeichnungen, welche ich Ihnen nunmehr vorlege, sind die zehnfach vergrößerten Fingerabdrücke der beiden Männer, welche angeklagt sind, den Richter Driscoll ermordet zu haben. Die Vergrößerung ist von mir gestern abend gemacht worden, das will ich eidlich beschwören. Nun fordere ich die Geschworenen auf, sie mit den Abdrücken auf den Fensterscheiben zu vergleichen, welche von den Angeklagten herrühren, und dem Gerichtshof zu sagen, ob sie sich von jenen unterscheiden.«

Er reichte dem Obmann ein sehr starkes Vergrößerungsglas. Ein Geschworener nach dem andern nahm das Pappblatt und das Glas zur Hand und stellte den Vergleich an. Dann sagte der Obmann zum Richter:

»Wir stimmen alle überein, daß kein Unterschied besteht.«

»Legen Sie bitte, jetzt jenes Blatt beiseite,« sagte Wilson zu dem Obmann, »statt dessen nehmen Sie dieses hier, vergleichen Sie es sorgfältig durch das Vergrößerungsglas mit den blutigen Spuren auf dem Messergriff und teilen Sie das Ergebnis dem Gerichtshof mit.«

Die Geschworenen thaten nach seiner Anweisung und ihr Bericht lautete: »Wir finden, daß beide vollkommen übereinstimmen

Nun wandte sich Wilson an den öffentlichen Ankläger, und es lag eine gewisse Feierlichkeit im Ton seiner Stimme, als er sagte:

»Ich erlaube mir, den hohen Gerichtshof daran zu erinnern, daß die Anklage mit dem größten Nachdruck behauptet hat, die blutigen Spuren auf dem Elfenbeingriff stammten von dem Mörder des Richters Driscoll her. Wir haben uns vorhin mit dieser Behauptung einverstanden erklärt und thun es noch. – Ich bitte die Geschworenen, die Fingerabdrücke der Angeklagten mit den Spuren zu vergleichen, die der Mörder zurückgelassen hat.«

Der Vergleich begann. Im Saal herrschte atemlose Stille, jeder Laut, jede Bewegung hatte aufgehört, alle verharrten in gespanntester Erwartung, und als man endlich die Worte vernahm: »Es besteht nicht einmal eine Aehnlichkeit zwischen beiden,« da brach ein donnernder Beifall los; die ganze Versammlung erhob sich, doch fügte sie sich bald wieder dem Ordnungsruf. Tom veränderte seine Stellung fortwährend, konnte aber auf keine Weise zur Ruhe kommen, seine Unbehaglichkeit wuchs von Minute zu Minute. Als Wilson der allgemeinen Aufmerksamkeit wieder sicher war, sagte er, auf die Zwillinge deutend, mit ernster Stimme:

»Diese Männer sind unschuldig; wir haben nichts mehr mit ihnen zu schaffen.« (Der erneute Beifall wurde schleunig unterdrückt.) »Unsere Aufgabe ist jetzt, den Schuldigen zu entdecken.« (Toms Augen traten aus ihren Höhlen. Es war wirklich ein qualvoller Tag für den trauernden Neffen, jedermann beklagte ihn.) »Ich kehre nun zu den Fingerabdrücken der Kinder A und B zurück und frage die Geschworenen, ob die vergrößerten Ansichten aus A's fünftem und siebentem Monat übereinstimmen?«

»Vollkommen,« versetzte der Obmann.

»Dann nehmen Sie dieses Blatt, das, wie die Aufschrift sagt, aus A's achtem Monat stammt. Ist es den beiden andern völlig gleich?«

»Nein – der Unterschied ist groß,« lautete die verwunderte Antwort.

»Sie haben ganz recht. Und wie steht es mit den beiden Abdrücken von B aus dem fünften und siebenten Monat – stimmen sie überein?«

»Ja – vollkommen.«

»Hier ist B's drittes Blatt aus dem achten Monat. Stimmt das zu B's andern beiden Abdrücken?«

»Ganz und gar nicht

»Können Sie sich denken, woher diese merkwürdige Verschiedenheit stammt? – Ich will sie Ihnen erklären. Aus einem uns unbekannten Beweggrund, vermutlich in selbstsüchtiger Absicht, hat jemand diese beiden Kinder in der Wiege vertauscht.«

Dies verursachte natürlich ein ungeheures Aufsehen. Roxana staunte über Wilsons Scharfsinn, doch fürchtete sie nichts. Es war etwas Anderes, den Tausch zu erraten, als den Urheber desselben ausfindig zu machen. Unmögliches konnte der Querkopf doch nicht ausrichten, trotz seiner wunderbaren Klugheit. Wie sollte er ihr etwas anhaben? Sie fühlte sich ganz sicher und lächelte insgeheim.

»Im Alter zwischen sieben und acht Monaten wurden die beiden Kinder in der Wiege vertauscht,« wiederholte Wilson; er machte wieder eine seiner wirkungsvollen Pausen und fuhr dann fort: »und die Person, welche das gethan hat, befindet sich hier im Gerichtssaal.«

Roxys Herz stand still. Ein Schauer der Erregung durchzitterte die Versammlung; die Blicke der Menge irrten umher, als suchten sie nach der unbekannten Persönlichkeit. Tom hielt sich kaum aufrecht, alle Lebenskraft schien von ihm gewichen.

»A nahm B's Wiege im Kinderzimmer ein; B wurde in die Küche verbannt und zu einem Sklaven und Neger gemacht,« – (große Aufregung und zorniges Stimmengewirr) »aber noch ehe eine Viertelstunde vergeht, wird er als freier Weißer vor uns stehen!« (Schallender Beifall und Ordnungsrufe.)

»Von seinem siebenten Monat bis zum heutigen Tage hat A seinen widerrechtlichen Besitz behauptet, auch in meiner Sammlung von Abdrücken trägt er B's Namen. Hier ist eine vergrößerte Aufnahme aus seinem zwölften Jahr. Sie soll jetzt mit der Blutspur auf dem Griff des Dolchmessers verglichen werden. Stimmen beide überein?«

Der Obmann antwortete: »Aufs allergenaueste

»Der ermordete York Driscoll war der großmütigste und gütigste Mann, er war mein Freund, und jedermann liebte ihn,« sagte Wilson in feierlichem Ton, – »sein Mörder sitzt mitten unter uns. Stehe auf, Valet de Chambre, du Neger und Sklave, den man fälschlich Thomas à Becket Driscoll genannt hat – tritt her und laß uns hier auf dem Fenster den Abdruck deiner Fingerspitzen sehen, der dich an den Galgen bringen soll!«

Tom wandte sein aschbleiches Gesicht flehend nach dem Redner hin, bewegte die blutlosen Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen und sank dann bewußtlos zu Boden.

»Es bedarf keines Beweises mehr. Er hat seine Schuld eingestanden,« sagte Wilson, während die Menge von Scheu und Grauen erfüllt, schweigend verharrte.

Roxy schlug ihre Hände vors Gesicht, fiel auf die Kniee und stammelte schluchzend die Worte:

»Herrgott, hab' Erbarmen mit mir – ich bin 'ne arme, elende Sünderin!«

Die Uhr schlug zwölf.

Die Gerichtssitzung ward aufgehoben; den neuen Gefangenen führte man gefesselt ab.


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