Mark Twain
Querkopf Wilson
Mark Twain

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.

Beim Frühstück am nächsten Morgen eroberten sich die Zwillinge durch ihr liebenswürdiges Wesen, ihr höfliches und doch ungezwungenes Benehmen, rasch aller Herzen. Von Förmlichkeit und Befangenheit war bald keine Rede mehr, man verkehrte auf dem freundschaftlichsten Fuße mit einander. Tante Patsy nannte sie schon nach kürzester Frist beim Vornamen und gab sich keine Mühe zu verbergen, wie neugierig sie war, Näheres über ihre Vergangenheit zu erfahren, sobald sie sah, daß die Brüder sich mitteilsam zeigten. Aus ihren Aeußerungen ging hervor, daß sie in früher Jugend Armut und Mangel gekannt hatten, und im Laufe der Unterhaltung nahm die Witwe geschickt die Gelegenheit wahr, ein Paar hierauf bezügliche Fragen einzuflechten. Sie wandte sich an den blonden Zwilling, der bei dem Bericht über ihre gemeinschaftlichen Erlebnisse gerade das Wort hatte, während der brünette sich ausruhte.

»Sie werden mich vielleicht unbescheiden finden, Herr Angelo, aber ich möchte gern wissen, wie es kam, daß Sie in Ihrer Kindheit so verlassen waren und in Not gerieten. Sollte es Ihnen jedoch irgendwie unangenehm sein, davon zu reden, so sagen Sie es mir bitte nicht.«

»Nein, es ist uns durchaus nicht unangenehm, Madam. Das Unglück, das uns traf, war freilich groß, aber niemand trug die Schuld. Unsere Eltern waren wohlhabende Leute drüben in Italien und wir ihre einzigen Kinder. Wir gehörten zum alten florentinischen Adel –« Rowenas Herz hüpfte, ihre Augen leuchteten, sie sperrte Mund und Nase auf – »und als der Krieg ausbrach, unterlag unseres Vaters Partei. Er konnte sich nur durch die Flucht retten, seine Güter wurden eingezogen, seine bewegliche Habe mit Beschlag belegt. So kamen wir denn nach Deutschland, fremd, ohne Freunde, an den Bettelstab gebracht. Wir zählten damals zehn Jahre, mein Bruder und ich, wir waren für unser Alter gut erzogen, auch sehr fleißig und lernbegierig. In der deutschen, französischen, spanischen und englischen Sprache besaßen wir ziemliche Kenntnisse, und was die Musik betrifft, so waren wir förmliche Wunderkinder – ich kann es wohl sagen, weil es die reine Wahrheit ist.

»Unser Vater überlebte sein Mißgeschick nur einen Monat, die Mutter folgte ihm bald ins Grab, und wir standen allein in der Welt. Die Eltern würden sich ein reichliches Einkommen gesichert haben, wenn sie sich entschlossen hätten, uns zur Schau zu stellen, man bot ihnen große Summen dafür; bei dem bloßen Gedanken jedoch empörte sich ihr Stolz – sie sagten, lieber wollten sie Hungers sterben. Sie hätten nie darein gewilligt, aber nach ihrem Tode mußten wir es doch thun, wir mochten wollen oder nicht. Um die Schulden abzutragen, welche durch ihre Krankheit und das Begräbnis entstanden waren, brachte man uns in ein sehr untergeordnetes Wandermuseum nach Berlin, wo wir das fehlende Geld verdienten. Es dauerte zwei Jahre, bis wir aus dieser Sklaverei befreit wurden; wir waren in ganz Deutschland umhergezogen, bekamen aber keinen Lohn, nicht einmal unseren Unterhalt. Von dem Geld für die Schaustellung erhielten wir nichts und mußten unser Brot erbetteln.

»Wie es uns weiter ging, Madam, ist bald erzählt. Als wir die Sklavenketten brachen, waren wir zwölf Jahre alt, doch in vieler Hinsicht schon selbständig wie Männer. Aus unserer Erfahrung hatten wir manche wertvolle Belehrung geschöpft, hatten gelernt, für uns selbst zu sorgen, Schwindlern und Gaunern aus dem Wege zu gehen und unsere Angelegenheiten ohne fremde Hilfe so zu ordnen, daß wir Nutzen davon hatten. Jahrelang reisten wir hierhin und dorthin, übten uns in allerlei Sprachen, wurden mit ausländischen Sitten und Sehenswürdigkeiten vertraut und eigneten uns eine Bildung an, die ebenso umfassend wie vielseitig und ungewöhnlich war. Wir besuchten Venedig, London, Paris, Rußland, Indien, China, Japan –«

In diesem Augenblick steckte die schwarze Nancy ihren Kopf durch die Thür.

»Das Haus ist gestopft voll Leute, Missis,« rief sie, »es läßt ihnen keine Ruh, bis sie die Herren da zu sehen kriegen!« Nancy nickte mit dem Kopf nach den Zwillingen hin und zog sich dann wieder zurück.

Es war ein stolzer Moment in Tante Patsys Leben. Nichts hätte ihr größere Genugthuung gewähren können, als ihre schönen fremdländischen Vögel den Freunden und Nachbarn vorzustellen. Diese einfachen Leute hatten überhaupt kaum je einen Ausländer zu Gesicht bekommen und sicherlich keinen von so hohem Rang und vornehmer Abkunft. Doch waren die Gefühle der Witwe noch mäßig im Vergleich zu dem, was ihre Tochter empfand. Rowena glaubte Flügel zu haben, ihr Fuß berührte kaum noch den Boden. Mit diesem glorreichen Tage ging ja ein neues Leben an – eine hochromantische Zeit in der sonst so ereignislosen Geschichte des unbedeutenden Landstädtchens. Sie aber konnte an der Quelle all der Herrlichkeit sitzen und sich nach Herzenslust von der Flut umrauschen lassen, während die andern Mädchen nur von ferne zusehen und sie beneiden durften, ohne Teil an ihrem Glück zu haben.

Die Witwe war bereit, ihre Gäste zu empfangen, Rowena nicht minder, und die Fremdlinge gleichfalls. So schritten sie denn allesamt durch die Hausflur und traten – die Zwillinge voran – in die offene Thür des Besuchszimmers, aus dem ein leises Stimmengewirr ertönte. Am Eingang stellten sich die Zwillinge auf, die Witwe nahm neben Luigi Platz, Rowena an Angelos Seite, und nun begann der Vorbeimarsch und die Vorstellungen. Tante Patsy lächelte über das ganze Gesicht vor innerer Befriedigung, sie begrüßte die Vorüberziehenden zuerst und dann kam Rowena an die Reihe.

»Guten Tag, Schwester Cooper –« man schüttelte sich die Hand.

»Guten Tag, Bruder Higgins – Graf Luigi, erlauben Sie, daß ich Ihnen Herrn Higgins vorstelle –« abermaliges Händeschütteln – Higgins reißt die Augen weit auf und sagt: »Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen,« worauf Graf Luigi mit höflichem Kopfneigen und verbindlichem Ton erwidert: »Sehr angenehm!«

»Guten Tag, Rowena –« man schüttelt sich die Hand.

»Guten Tag, Herr Higgins – darf ich Sie dem Grafen Angelo Capello vorstellen?« – nun folgt wieder das Händeschütteln und bewunderndes Anstarren. »Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen;« Graf Angelo verneigt sich lächelnd, erwidert: »Sehr angenehm!« und Higgins geht weiter.

Die guten Leute waren sämtlich äußerst befangen und dabei ehrlich genug, es durchaus nicht verbergen zu wollen. Keiner von ihnen hatte je zuvor einen Herrn von Adel gesehen, auch jetzt erwarteten sie nichts dergleichen, der Titel war ihnen daher eine vollkommene Ueberraschung. Einige suchten sich in dieser schwierigen Lage damit zu helfen, daß sie ›Euer Gnaden‹ oder ›edler Lord‹ stammelten; die meisten aber wurden durch das fremdklingende Wort: ›Graf‹ völlig überwältigt. Sie verbanden damit eine unbestimmte Vorstellung von goldstrahlenden Hofgesellschaften, feierlichen Zeremonien und dem Königtum von Gottes Gnaden; so streckten sie denn nur verlegen die Hand hin und schritten stumm von dannen. Wie das aber bei einem derartigen Empfang regelmäßig vorkommt, so störte auch hier ab und zu einer der Anwesenden aus übermäßig freundlicher Gesinnung den Fortgang; er hielt den Zug auf, um sich zu erkundigen, wie die Stadt den Brüdern gefiele, wie lange sie zu bleiben gedächten, und ob die Ihrigen sich wohl befänden. Auch das Wetter mußte herhalten – es würde hoffentlich bald kühler werden, und was dergleichen mehr ist. Das war doch ein längeres Gespräch mit den Herrschaften, von dem man zu Hause erzählen konnte. Keiner sagte oder that jedoch irgend etwas Ungehöriges, und so wurde die große Angelegenheit auf anständige und höchst befriedigende Art zu Ende geführt.

Auf die feierliche Begrüßung folgte eine allgemeine Unterhaltung. Die Zwillinge gingen von einer Gruppe zur andern, plauderten behaglich und ungezwungen und ernteten großen Beifall; jedermann betrachtete sie mit Wohlgefallen und zollte ihnen Bewunderung. Die Witwe folgte ihrem Triumphzug mit stolzen Blicken und Rowena sagte von Zeit zu Zeit in vollster Befriedigung zu sich selbst: »Und sie gehören wirklich uns – uns ganz allein!«

Mutter und Tochter waren fortwährend in Anspruch genommen. Von allen Seiten bestürmte man sie mit eifrigen Erkundigungen über die Zwillinge und lauschte ihren Berichten in atemloser Spannung. Alle beide bekamen jetzt zum erstenmal einen Begriff davon, was das Wort Ruhm eigentlich zu bedeuten habe. Sie erkannten dessen ungeheuren Wert und lernten einsehen, warum die Menschen zu allen Zeiten jedes andere Glück, Geld und Gut, ja das Leben selbst gering geachtet hatten, um diese höchste und erhabenste Wonne zu empfinden. Napoleon und alle Leute seines Schlages waren ihnen nunmehr verständlich und in ihren Augen gerechtfertigt.

Als Rowena endlich ihre Pflicht im Besuchszimmer erfüllt hatte, ging sie die Treppe hinauf, um die Sehnsucht der dort versammelten Scharen zu befriedigen, denn die unteren Räume waren nicht groß genug, um alle zu fassen, die herbeiströmten. Wieder sah sie sich von wißbegierigen Fragern umringt, sie empfand die eigene Wichtigkeit und durfte sich im Ruhmesglanz sonnen. So ging der Vormittag seinem Ende zu, und Rowena fühlte mit Bangen, daß dies herrlichste Ereignis in ihrem Leben bald vorüber sein werde; es ließ sich auf keine Weise verlängern, und nie wieder konnte etwas geschehen, was sie so hoch beglücken würde. Sie tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, daß die Begebenheit in ihrer Art vollkommen gewesen war und nichts zu wünschen übrig ließ; die Erinnerung daran würde ihr ewig unvergeßlich bleiben. Wenn die Zwillinge nur jetzt noch irgend eine große That thun wollten, um das Werk zu krönen und sich die Bewunderung der Massen zu sichern – etwas, das alle blitzartig durchzucken und überraschen würde, dann, ja dann – –

In diesem Augenblick erschallte von unten ein gewaltiges, laut dröhnendes Bumbum – und alle liefen hin, um zu sehen, was es zu bedeuten habe. O Wunder – es waren die Zwillinge, die ein vierhändiges, klassisches Konzertstück in großem Stil auf dem Klavier zum Besten gaben. Rowenas Verlangen war gestillt, und sie freute sich von Herzensgrund.

Die fremden Jünglinge mußten lange an dem Instrument ausharren. Ihr prachtvolles Spiel erregte der Bürger Verwunderung und Entzücken in so hohem Maße, daß sie gar nicht genug davon bekommen konnten. Alle Musik, die sie je gehört hatten, war nichts als erbärmliche Stümperei ohne Geist und Anmut, im Vergleich zu diesen berauschenden Fluten melodischen Klanges. Es wurde ihnen klar, daß sie hier zum erstenmal im Leben echte Künstler vor sich hatten.


 << zurück weiter >>