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Krischans größter Wunsch

»Sünnenschienchen, was fehlt dir?«

»Ach, Krischan, es ist schlimm!«

»Sag' es mir, Sünnenschienchen, es wird nicht so schlimm sein.«

»Doch, Krischan, es ist schrecklich schlimm, noch schlimmer als alles auf der Welt.«

»Sag' es mir, Sünnenschienchen, dann werden wir gemeinsam das Schlimme aus der Welt bringen, damit du wieder froh wirst.«

Aus einem Zeitungspapier wickelte Rosemarie mehrere bunte Blätter. Krischan lächelte. Er erkannte diese Blätter sofort, denn er hatte sie Rosemarie doch selbst zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt. Seine Gabe war dem Kinde das liebste von allen Geschenken gewesen. Ein Buch nannte Krischan diese fünf zusammengehefteten Blätter. Er hatte auch eine Erklärung dazu gegeben. Das blaue Blatt, blau wie der Himmel, erinnerte an den lieben Gott, das rote Blatt bedeutete die Liebe, die in der Welt war. Rosemarie sollte jedesmal, wenn ihr jemand etwas zuliebe tat, einen Punkt auf das Blatt machen, wenn sie aber jemandem eine Freude machte, wurde ein Strich auf das Blatt gesetzt. Krischan meinte, es müßten immer mehr Striche als Punkte auf dem Blatt sein. Die schwarze Seite des Buches bekam einen Strich, wenn Rosemarie etwas Schlimmes tat. Das gelbe Blatt sollte alles gutmachen, was das schwarze verschuldet hatte. Jedesmal, wenn eine schlechte Tat durch eine gute ausgelöscht wurde, kam auf das gelbe Blatt ein Strich. Und schließlich durfte Rosemarie auf das weiße und letzte Blatt einen Strich machen, wenn sie den ganzen Tag über artig und fleißig gewesen war.

Rosemarie war dieses Buch, das ihr Krischan zusammengestellt hatte, von Herzen lieb geworden. Täglich nahm sie es vor, um bald hier, bald dort einen Punkt oder einen Strich zu machen. Nun hatte sie am heutigen Tage mit Dirli-Mutti zusammengezählt, wieviele Striche es waren, und da zeigte es sich, daß das gelbe Blatt weniger Striche hatte als das schwarze.

»O, Krischan, es ist schrecklich schlimm. – Hier, lies einmal in meinem schönen Buch.«

»Aber Sünnenschienchen, warum sind auf dem schwarzen Blatt so viele Striche?«

»Und auf dem gelben, auf dem ich alles wieder gut machen soll, was ich Schlechtes tat, sind nicht so viele Striche. – Krischan, Dirli-Mutti hat gesagt, das ist sehr schlimm. Nun möchte ich soviel Gutes tun, damit auf dem gelben Blatt mehr Striche sind als auf dem schwarzen.«

»Sünnenschienchen, du tust nichts Böses! Immer suchst du nur anderen Menschen eine Freude zu machen. Warum hat denn das schwarze Blatt so viele Striche?«

»Ach, daran ist immer der Hinnerich schuld!«

»Der jüngste Sohn von Fokke?«

»Ja, Krischan, der Hinnerich.«

»Was hast du mit dem Hinnerich?«

»Weißt du, Krischan, der Uwe ist ein netter Junge, der hat seinem Vater das Haus mit aufgebaut und die Tiere aus dem Feuer geholt; da sind ihm alle Haare abgebrannt. Aber der kleine Bruder von ihm, der Hinnerich, ach, – der ist wie ein Heideteufel.«

»Warum denn?«

Rosemarie machte böse Augen. »Stadtmensch, hat er neulich zu mir gesagt, darum haue ich ihn. Ich bin ein Heidekind, und er ärgert mich immer noch mehr, weil ich noch nicht alles wie die Leute in der Heide sprechen kann. Ich habe ihn schon mit einem Mistelzweig gehauen, aber das nützte nichts. Ich habe ihm auch schon gesagt, daß er wie ein Heideteufel ist. Wenn wir uns sehen, dann hauen wir uns.«

»Ein Mädchen wird sich doch nicht mit einem Jungen hauen, der über ein Jahr älter ist.«

»Ach Krischan, wenn er kleiner wäre, würde ich ihn auch nicht hauen, aber er ist größer, und der Vater sagt, ich soll mutig sein. Ich haue feste drauf los, wenn ich ihn kommen sehe.«

»Schon wenn du ihn kommen siehst?«

»Ja, damit er nicht erst ›Stadtmensch‹ sagt; seine Prügel kriegt er doch.«

»Was sagt denn der Uwe dazu, den du doch so gerne hast?«

»Der sagt gar nichts, der spricht überhaupt nicht viel. Er lacht auch nicht, aber ich sehe ihn auch wenig, denn der Uwe ist doch nicht mehr in der Schule.«

»Was sagt denn der Herr Lehrer dazu, wenn du den Hinnerich haust?«

»Ich haue ihn immer, bevor die Schule losgeht oder hinterher, wenn die Schule aus ist.«

»Aber Sünnenschienchen, das ist doch nicht richtig. Ich hätte nicht gedacht, daß du so böse sein kannst!«

Rosemarie stellte sich vor Krischan hin und stemmte die Arme in die Seiten. »Ist das richtig, wenn er ›Stadtmensch‹ zu mir sagt? Aber es ist richtig, wenn ich ihn dann haue! Nur – dann muß ich immer auf das schwarze Blatt einen Strich machen, und darum sind so viele Striche da. – Krischan, nun möchte ich was Gutes tun, damit das gelbe Blatt auch viele Striche bekommt.«

»Mußt den Hinnerich nicht mehr hauen.«

»Doch«, gab sie energisch zurück, »ich haue ihn feste! Ich möchte nun aber anderen etwas Gutes tun, Krischan, dir oder dem Hopplala oder dem Rudolf oder den Eltern. – Sage mir mal was!«

»Du strickst schon die schönen blauen Pulswärmer.«

»Das ist nichts Gutes, das ist eine Arbeit.«

»Eine Arbeit ist auch etwas Gutes.«

»Nein, Krischan, man muß eine Freude machen. – Krischan, ich möchte dir eine Freude machen. Soll ich dir noch eine Jacke kaufen? Da hattest du eine große Freude. O, das war schön!«

»Sünnenschienchen, wenn du ein liebes Mädchen bist und so lieb bleibst, habe ich immerfort Freude.«

»Das ist nur eine kleine Freude, Krischan, ich möchte dir aber eine große Freude machen.«

»Das tust du jeden Tag, Sünnenschienchen. Immer wieder hilfst du meinem Rudolf und bist lieb und nett zu ihm. Du gibst dir so viel Mühe mit ihm; vielleicht lernt der Junge doch noch etwas, damit er später im Leben sein Fortkommen hat.«

»Freust du dich, wenn er etwas lernt?«

»Sünnenschienchen, wenn ich wüßte, daß er sich allein durchs Leben bringen kann, würde ich ruhig sterben.«

»Aber dazu muß er noch viel lernen?«

»Ach, ja!«

»Dann will ich ihm noch öfter helfen. Es ist zwar schwer, aber wenn es dich freut, tue ich es. Wenn der Rudolf ausgelernt hat, kann ich mir einen ganz dicken Strich machen, – nicht wahr?«

»Sünnenschienchen, so schnell geht das nicht. Siehst du, das ist auch so ein Herzenswunsch von mir. Ich möchte, daß der Rudolf soviel lernt, daß er später einmal einen Beruf ergreifen kann.«

»Dazu helfe ich ihm schon, Krischan.«

»Sünnenschienchen, das kannst du nicht!«

»Aber wenn der Rudolf nun immer fleißig lernt?«

»Das ist bei ihm nicht so wie bei anderen Kindern. Wenn andere Kinder immerfort lernen, werden sie sehr klug. Der Rudolf ist aber viel krank gewesen, und da ist er sehr zurückgeblieben. Helfen kann nur der liebe Gott.«

»Ich weiß, Krischan. Hab' nur keine Angst. Wenn ich immerfort dem Rudolf helfe, kommt der liebe Gott und hilft ihm.«

»Wenn es doch so wäre!«

»Kann der Heidezauberer nicht helfen?«

»Nein, oder – es müßte ein Wunder geschehen.«

»Kann kein Wunder geschehen?«

»Manchmal gibt es ja Wunder«, sagte der alte Mann nachdenklich, »hier in unserer Heide ist schon manches Wunder geschehen.«

»Sei nicht traurig, Krischan, vielleicht kommt mal ein Zauberer, der geht zum lieben Gott, und dann machen beide das Wunder.«

»Ich habe dir so viel zu danken, Sünnenschienchen. Rudolf hat durch dich schon manches gelernt. Vielleicht bringt er es einmal so weit, daß er lesen und schreiben kann. Dann wird's schon gehen!«

»Da helfe ich, – da helfe ich!«

Diese Unterredung ging dem kleinen Mädchen nicht aus dem Kopf. Der liebe Gott oder der Zauberer sollten es machen, daß der Rudolf klug wurde. – Vielleicht wußte auch die kluge Trine einen Rat.

Unverzüglich machte sich Rosemarie auf den Weg zu Petersens. Trine konnte in den Ferien nicht so oft mit Rosemarie herumspazieren, weil sie zu Hause fleißig helfen mußte. Aber Rosemarie rief sie doch von der Arbeit weg, zog sie in einen Winkel hinter der großen Scheune und fragte im Flüstertone, ob sie nicht wisse, wie ein Wunder geschehen könnte.

»O«, sagte Trine und machte große Augen, »hier in der Heide gibt es viele Wunder. Der Zauberer in Ülzen geht heimlich durch die Heide und macht Wunder.«

»Hast du ihn schon mal gesehen?«

»Ich höre ihn manchmal des Nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Wenn er geht, dann heult es. Jedesmal, wenn ich so ein Hui – hui höre, ist es der Zauberer aus Ülzen.«

»Nein«, sagte Rosemarie, »ich höre das auch, aber Dirli-Mutti sagt, das ist der Wind.«

»Ach, der Wind«, sagte Trine verächtlich, »der Wind macht ganz anders. Was so heult, ist der Zauberer.«

»Kann man dem Zauberer sagen, was man möchte?«

»Freilich«, bestätigte Trine zuversichtlich.

»Hast du ihm schon mal was gesagt?«

Trine streckte entsetzt beide Arme aus. »Nein, ich fürchte mich vor ihm.«

»Wie sagt man es ihm denn?«

»Beim Vollmond, – am Kreuzweg.«

»Ochotti jau, – das ist gruselig!«

»Ja, das ist gruselig! – Aber manche Menschen gehen auch bei Vollmond nach dem Kreuzweg, wo die drei großen Wacholder stehen. Dort sagen sie es ihm.«

»Kommt er dorthin?« forschte Rosemarie voller Spannung.

»Ja, – meinem Großvater hat er auch geholfen. Der schrieb auf einen Zettel, was er wollte, dann hat er den Zettel mit einem Hölzchen vor dem großen Wacholder in die Erde gespießt. Aber hui, dann ist er gelaufen!«

»Und der Zauberer hat den Zettel gelesen und geholfen?«

»Ja, das hat er! Das Vieh beim Großvater war krank, und der Zauberer hat es wieder gesund gemacht.«

»Wenn ich ihm heute was aufschreibe, hilft er mir dann auch?«

»Heute? – Nein!«

»Warum denn nicht?«

»Weil man nur bei Vollmond seine Wünsche aufschreiben darf und vor den Wacholder stecken muß.«

»Dann bitte ich Dirli-Mutti, daß sie es für mich tut.«

»Nein, das geht auch nicht. Wenn du einen Wunsch hast, mußt du das alles alleine tun und ganz heimlich zum Kreuzweg gehen. Niemand darf etwas davon wissen. Auf dem Weg darfst du auch kein Wort sprechen, sonst kommt der Zauberer aus Ülzen nicht.«

»Dat Hart puckert mir!«

»Ja, es ist schrecklich schaurig! Viele Menschen machen es nicht, weil sie Angst haben.«

»Aber er hilft immer?«

»Ja, er hilft immer, denn der Zauberer sagt: Wer zu mir kommt, der ist ein mutiger Mensch, dem muß man helfen.«

Rosemarie nickte. »Ja, der Vater hat auch gesagt, den Menschen, die Mut haben, wird es gut gehen im Leben.« –

Was sie von Trine gehört hatte, beschäftigte Rosemarie stark. – Ob sie den Eltern davon erzählte? Aber Trine meinte, man müsse so etwas ganz heimlich tun.

Am nächsten Tage sprach sie erneut mit Krischan und fragte ihn, ob es wirklich für ihn eine große Freude wäre, wenn der Rudolf klug würde. Krischan faltete fromm die Hände und meinte:

»Das wäre für mich die größte Herzensfreude und das größte Glück, denn dann könnte ich ruhig sterben.«

Rosemarie beschloß, dem Krischan diesen Herzenswunsch zu erfüllen. Sie wollte dem Zauberer schreiben, er solle den Rudolf klug und gesund machen. Wenn sie aber daran dachte, daß sie bei Vollmond allein zum Kreuzweg laufen sollte, um dort einen Zettel vor den großen Wacholder in die Erde zu stecken, schlug ihr das kleine Herz bis zum Halse hinauf.

An diesem Abend betrachtete sie lange den Mond, der fast rund war. »Tust du mir auch nichts, wenn ich zum Kreuzweg gehe?«

Der Mond schien freundlich zu lachen. Er sah gar nicht schlimm aus, und der Kreuzweg war nicht allzu fern. Schon oft war sie dort gewesen.

Am nächsten Tage wurde der Vater befragt, wann Vollmond wäre.

»Am Sonnabend ist Vollmond«, sagte er, »dann steht der Mond wie eine kreisrunde Scheibe am Himmel und schaut zu uns herab.«

»Am Sonnabend?« wiederholte Rosemarie, und die Zähne schlugen ihr aufeinander.

Am Freitag und Sonnabend holte sie sich bei Krischan wieder Mut. Sie fragte ihn noch einmal, ob es ihn wirklich freuen würde, wenn der Rudolf klug wäre. Und Krischan versicherte dem kleinen Mädchen ahnungslos, daß er der glücklichste Mann wäre, wenn Rudolf ein gesundes und kluges Kind würde.

Rosemarie seufzte tief auf. Am Nachmittag saß sie in ihrem Zimmer und schrieb auf einen Zettel:

»Lieber Zauberer! Mach doch, daß der Rudolf ganz klug wird. Bitte, mach ihn gesund, ich bin das Heidekind.«

Diesen Zettel trug sie in der Tasche mit sich herum, und als es Abend wurde, ging ihr Blick immer ängstlicher zum Mond, der bereits am Himmel stand.

»Aber Kind, was hast du heute?« forschte die Mutter. »Brennt wieder etwas in deinem kleinen Herzen?«

»Dirli-Mutti, ich will dem Krischan eine Freude machen.«

»Das ist recht so, der gute Krischan verdient es.«

Um sieben Uhr aßen sie Abendbrot. Aber Rosemarie wollte es heute nicht recht schmecken. Ihre Gedanken weilten bei dem schrecklichen Vorhaben, aber sie konnte es ja nicht länger aufschieben, weil nur in der Vollmondnacht der Zauberer die Wünsche der Menschen erfüllte. Nach dem Essen brachte die Mutter Rosemarie, wie jeden Abend, zu Bett.

»Nun schlafe brav«, sagte die Mutter. »Deine Eltern müssen heute ins Wacholderhaus gehen. Dort sind gute Bekannte vom Vater angekommen, die er begrüßen will. Ingeborg wird nach dir sehen, ob du schläfst.«

Rosemarie atmete schwer. Trotzdem schien es ihr ein großes Glück, daß die Eltern gerade heute ausgingen. So konnte sie das Haus unbemerkt verlassen. Wenn Ingeborg kam und nach ihr sah, ging; sie zurück in die Küche und wusch das Geschirr ab. Später merkte sie dann sicherlich nicht, wenn Rosemarie durch die vordere Tür das Haus verließ.

Heute lachte der Mond nicht so freundlich, wie gestern, heute machte er ein Gesicht wie der Wichtelmann, wenn er den Mund verzog.

Rosemarie lag lange Zeit ruhig im Bett. Sonst schlief sie rasch ein, aber heute mußte sie sich munter halten, bis es draußen dunkel war. Ihr Herz klopfte gewaltig.

»Ich muß dem Krischan eine ganz große Freude machen, er soll sich furchtbar freuen«, sagte sie vor sich hin. »Lieber Zauberer, du tust mir doch nichts, wenn ich zu dir komme?«

Als Ingeborg nach einer halben Stunde den Kopf durch die Tür steckte, lag Rosemarie ganz ruhig im Bett, so daß das Mädchen glaubte, sie schliefe bereits. Leise wurde die Tür wieder geschlossen.

»Es wird immer dunkler«, sagte Rosemarie, stieg aus dem Bett und betrachtete den Mond. Draußen war es eigentlich gar nicht dunkel, aber alles sah so verändert aus, sogar die Bäume im Garten bekamen eine Gestalt und sahen aus wie Menschen, die mit erhobenen Armen vor dem Hause Wache hielten.

Rosemarie ging zum Tisch, holte unter der Decke den geschriebenen Zettel hervor und nahm dann aus der Kommode das Holz, mit dem sie den Zettel in die Erde stecken wollte. Darauf kleidete sie sich zitternd vor Angst an.

»Krischan, mir puckert dat Hart! Aber der Rudolf soll doch klug werden.«

Die Blicke des Kindes gingen vom Bett hin zum Mond. Sollte sie wirklich gehen? Sollte sie nicht lieber hierbleiben? – Vielleicht wurde der Rudolf auch klug, wenn sie ihm recht oft half. Aber er war ja krank, da konnte nur der liebe Gott oder der Zauberer aus Ülzen helfen.

Sie faltete fromm die kleinen Hände. »Lieber Gott, vor dir habe ich keine Angst, aber vor dem Zauberer aus Ülzen. Willst du nicht den Rudolf klug machen? Dann brauche ich nicht erst zum Kreuzweg zu gehen. Sag' es mir doch, lieber Gott!« Aber alles blieb still.

Da zog Rosemarie ihr Kleidchen über, griff nach dem Zettel und dem Hölzchen und öffnete leise die Tür.

Auch der Hausflur war vom Mondenlicht hell beleuchtet. Aber Rosemarie, die noch nie so spät ins Freie gegangen war, fühlte sich bedrückt und verängstigt. Sie hörte das Klappern von Porzellan aus der Küche. Da lief sie hastig zur Haustür, die nur angelehnt war.

Nun stand sie im Garten. Ein Schauer überflog sie. Den Zettel und das Holz hielt sie fest in der Hand.

»Krischan, lieber Krischan«, sagte sie leise, »ich will doch nur, daß du eine große Freude hast, dann mache ich einen großen, dicken Strich auf das gelbe Blatt. Ach, Krischan, ich habe solche Angst!«

Was hatte ihr Trine gesagt? Man müsse ganz still sein. Sie durfte daher nicht mehr reden, sondern mußte tapfer alle Angst hinunterschlucken, sonst half der Zauberer aus Ülzen nicht. Vielleicht hielt er sie am großen Wacholder fest, prügelte sie durch oder nahm sie gar mit nach Ülzen.

Noch ein kurzes Zögern, dann stürmte Rosemarie so rasch sie ihre Füße trugen, hin zum Kreuzweg. Es war ein Weg von knapp zehn Minuten, aber heute dünkte er ihr eine Ewigkeit. Sie sah mit Grauen die drei Wacholder, die im Mondlicht lange gespenstische Schatten warfen. Waren das Bäume oder stand dort der Zauberer mit zwei anderen Zauberern? Es war ihr, als ob jemand neben ihr hämmerte und klopfte. Sie wußte nicht, daß es ihr eigenes Herz war.

Wenn sie nur erst wieder im Hause wäre! Am liebsten wäre sie im letzten Augenblick wieder umgekehrt.

Die drei Wacholderbüsche kamen immer näher. Rosemarie blieb stehen und sah sich ängstlich nach allen Seiten hin um. Totenstille überall! Kein Mensch weit und breit! Sie hätte lieber Trine mitnehmen sollen. Trine würde wissen, was man mit dem Zauberer reden müsse, wenn er plötzlich aus dem Wacholder herauskam.

Schritt für Schritt ging Rosemarie weiter. Sie glaubte allerlei sonderbare Geräusche zu hören, aber, wenn sie stehenblieb, um zu lauschen, vernahm sie nichts mehr. Der Vater hatte gesagt, sie solle mutig sein, sie dürfe sich nicht fürchten, dann ginge es ihr gut im Leben. Auch der Zauberer half nur den Mutigen. Wenn sie sich recht beeilte, war in wenigen Minuten alles getan.

Nur noch wenige Schritte geradeaus. Sie schloß die Augen und stapfte mutig den drei Wacholdersträuchern zu. – Jetzt war sie da. Sie zog das Holz aus der Tasche, kniete auf der Erde vor dem Wacholder nieder, breitete den Zettel aus, und schloß wieder die Augen, weil sie fürchtete, der Zauberer könne erscheinen. Dann stieß sie mit aller Kraft das Holz und den Zettel tief hinein in das Erdreich, denn der Zettel durfte ja vom Winde nicht fortgeweht werden.

Noch immer hielt sie die Augen fest geschlossen. So, jetzt war es geschehen. Rosemarie tastete mit der Hand nach dem Holz, es ragte nur wenige Zentimeter aus dem Erdboden heraus und saß fest. Dann wollte sie sich erheben, um recht rasch das Elternhaus zu erreichen.

Doch was war das! – Jemand hielt sie fest? Jemand zerrte sie am Röckchen? Das konnte nur der Zauberer sein, der nach ihr griff. Noch einmal versuchte Rosemarie aufzustehen. Wieder spürte sie das Zerren an ihrem Rock. Sie preßte die Augen noch fester zu; das böse Gesicht des Zauberers wollte sie nicht sehen.

»Mach – – den Rudolf – – klug! Bitte, bitte, laß mich gehen!« So jammerte sie; angstvoll kamen die Worte aus ihrem Mund.

Aber der Zauberer hielt sie fest.

Da versuchte sie nicht mehr, sich zu erheben. Der Zauberer hatte seine Hand an ihrem Rock, er würde sie nicht mehr freilassen.

Aber nach wenigen Augenblicken raffte sie sich in ihrer Angst noch einmal zusammen. »Laß los, – laß los – –« schrie sie schrill auf. »Laß mich los! – Laß mich los!!«

Wieder versuchte sie, sich loszumachen, noch einmal schrie sie in ihrer Angst: »Laß mich los, böser Zauberer!« Dann sank sie erschöpft um. Die Aufregung war zu groß gewesen. Eine Ohnmacht hatte sie erfaßt, der kleine Körper fiel vorne über. Nun lag das Heidekind regungslos, totenblaß vor den drei Wacholderbüschen. –

Bauer Fokke, der im Nachbardorf gewesen war und heimkehrte, lauschte. War das nicht ein Schrei? Das war kein Tier, das mußte ein Mensch sein. – Noch einmal vernahm er diesen Angstruf. Er beschleunigte seine Schritte und sah am Kreuzwege die zusammengesunkene Gestalt des Kindes. Er trat hinzu.

»Das ist doch Rosemarie aus dem Malerhause«, stellte er fest.

Er beugte sich nieder und wollte das Kind aufheben, sah aber, daß das Kleid mit einem Holzstab am Erdboden festgesteckt war. Er sah daneben auch einen Zettel. Er zog das Holz heraus und steckte den Zettel zu sich in die Tasche.

»Rosemarie, was soll das? Was hast du in der Nacht hier am Kreuzwege zu suchen? Ohnmächtig ist das Kind. – Was fällt dem Mädchen ein?«

Behutsam trug er Rosemarie auf seinen Armen davon. Wenn er in das totenblasse Kindergesicht sah, überkam ihn inniges Mitleid. Er kannte Rosemarie sehr gut. Damals, als ihm das Feuer alles genommen hatte, war das Heidekind mit ihrem Vater zu ihm gekommen und hatte ihm einen Apfel aus Porzellan gereicht, in dem die Geldmünzen klapperten. Das sei ihr Erspartes, so sagte sie. Sie wollte es Onkel Fokke und dem Uwe geben, damit er wieder ein Haus und einen Stall bekäme. Fokke hatte damals das kleine Mädchen stumm an sich gedrückt, dann aber dem Maler den Apfel wieder zurückgeben wollen. Aber er hatte die Gabe des Kindes behalten müssen, und noch heute stand die kleine Sparbüchse in Apfelform als Erinnerung an das gute Herz des kleinen Mädchens in seinem Glasschrank.

Aber noch an etwas anderes erinnerte sich der Bauer Fokke, während er mit dem Kind auf den Armen dem Malerhause zuschritt. Seinem vierzehnjährigen Sohne hatte Rosemarie einmal ein kleines Sträußchen blauer Erika geschenkt, weil Uwe ein treuer Junge sei.

Nun lag Rosemarie ohnmächtig in den Armen des Bauern. Wie kam sie nur zu so später Stunde an den Kreuzweg? Was wollte sie hier?

Das Malerhaus war endlich erreicht. Fokke mußte erst mehrere Male klopfen, bis ihm aufgetan wurde. Ingeborg machte entsetzte Augen, als sie das Kind in den Armen des Bauern erblickte. Da schlug Rosemarie die Augen auf. Aber als sie das bärtige Männergesicht über sich sah, kam erneut die Angst über sie.

»Der Zauberer!« schrie sie.

Erst als sich Ingeborg um sie bemühte, erkannte das Kind den Bauer Fokke.

»Wo ist der Zauberer?« fragte sie.

»Rosemarie, was soll das heißen? Wo kommst du her?« zürnte Ingeborg.

Rosemarie war so verstört, daß sie keine Antwort zu geben vermochte. Da erzählte der Bauer, wo er sie gefunden hätte.

Während Ingeborg das zitternde Kind ins Bett brachte, entfernte sich Bauer Fokke. Daheim las er den Zettel, er las ihn kopfschüttelnd mehreremale: ›Lieber Zauberer! Mach doch, daß der Rudolf ganz klug wird. Bitte, mach ihn gesund, ich bin das Heidekind.‹

Fokke stützte den Kopf in die Hand. Dieser Zettel sagte ihm alles. Sicher hatte jemand dem Kind erzählt, daß in der Vollmondnacht der Zauberer aus Ülzen am Kreuzweg alle Wünsche erfüllte. Da hatte das gute Herz das Heidekind in die Nacht hinausgetrieben, und dann war das Unglück geschehen. Mit dem Holz hatte sie nicht nur den Zettel, sondern auch ihr Kleid an dem Erdboden festgesteckt. Wahrscheinlich hatte Rosemarie geglaubt, der Zauberer halte sie fest, als sie nicht aufstehen konnte.

Er stand auf, ging zum Glasschrank und betrachtete den Porzellanapfel. Über ihm falteten sich seine Hände. »Herr Gott, du kennst das Herz dieses Kindes. Behüte es vor allzu großem Leid, denn das verdient er nicht!«

Morgen, in aller Frühe, würde er ins Malerhaus gehen und den Eltern alles erklären.

Ingeborg saß indessen noch am Bett des Kindes, als Herr Deste und seine Frau heim kamen.

Rosemarie zitterte noch immer. Zu schrecklich war es gewesen, als der Zauberer sie festgehalten hatte. Immer wieder erzählte sie mit zuckenden Lippen das Erlebnis.

Beide Arme streckte sie aus, als sie die Mutter in der Tür erblickte. Dann kam ein Tränenstrom, der das Kind sichtlich erleichterte.

Frau Deste ließ sich alles berichten. Sie machte Rosemarie keine Vorwürfe, nahm sich aber vor, am morgigen Tage in aller Ruhe mit ihrem Kinde zu sprechen.

Als am anderen Morgan in aller Frühe Bauer Fokke kam und den Zettel mitbrachte, waren sich Rosemaries Eltern darüber einig, daß hier keine Vorwürfe am Platze waren. Freilich, das heimliche Fortgehen mußten sie ihrem Kinde unter strengen Strafen ernsthaft verbieten, aber der Grund, der Rosemarie aus dem Hause getrieben hatte, war so gut, daß sie für diese unbesonnene Tat nicht bestraft werden durfte.

Die erste Frage, die Rosemarie am Morgen an die Eltern stellte, war die, ob der Rudolf schon klug sei und ob sie zu Krischan gehen dürfe, um dem Schäfer die Freude mitzuteilen.

Der Vater nahm seine kleine Tochter auf die Knie und erzählte ihr, daß nicht der Zauberer ihr Kleid festgehalten sondern daß sie es selbst in ihrer Angst mit dem Holz festgesteckt hätte. Rosemarie schüttelte ein wenig ungläubig den Kopf: »Ich glaube, Vater, er war doch da! Ach, wenn er nur dem Rudolf helfen möchte!«

Rosemaries nächtliche Wanderung zu den Wacholdern war bald in Unslohe bekannt geworden. Dafür sorgte allein Bauer Fokke, der das gute Herz des Kindes nicht genug loben konnte. Die Folge davon war, daß man das Heidekind überall noch mehr liebte als bisher und daß sie überall, wo sie sich auch zeigte, freundliche Worte hörte. Sogar Hinnerich kam zu ihr und sagte:

»Vielleicht bist du doch eine richtige Heidjerin.«

Dieser Ausspruch war für Rosemarie die schönste Anerkennung. Hinnerich durfte sich von ihrer roten Strickjacke einen goldenen Knopf abreißen, nach dem er schon lange begehrlich getrachtet hatte.

Als Krischan die Heldentat seines Sünnenschienchens erfuhr, legte er still das Gesicht in die Hände und weinte. Und als Rosemarie kam und ihm freudestrahlend sein Buch zeigte, nahm er sie schweigend in die Arme und drückte sie lange an sich.

»Sünnenschienchen, mein liebes Sünnenschienchen!« sagte er gerührt.

»Sieh her, Krischan«, rief Rosemarie freudig, »sieh dir mal das gelbe Blatt an. Zuerst hat der Vater einen ganz dicken Strich darauf gemacht, und dann hat Dirli-Mutti auch noch einen dicken Strich gemacht. Der Bauer Fokke hat gesagt, er macht auch noch einen Strich darauf. Ist das schwarze Blatt jetzt nicht mehr so schlimm?«

»Sünnenschienchen, mein Sünnenschienchen!«

»So ein dicker Strich ist doch viel besser als kleine dünne Striche, nicht?«

»Ja, Sünnenschienchen.«

»Machst du mir nun auch einen Strich auf das gelbe Blatt?«

Krischan kramte in seiner Jackentasche und zog ein Stück Holzkohle heraus.

»Was ist das, Krischan?«

»Sonst ist es eine Medizin für die Schnucken, wenn sie sich den Magen verdorben haben; dann streue ich ihnen auf ihr Futter etwas Holzkohle, aber heute ist das für dich, Sünnenschienchen.«

Darauf nahm Krischan das gelbe Blatt und machte mit der Holzkohle einen fingerbreiten Strich auf das gelbe Blatt. Von oben bis unten.

»O, Krischan!«

»Ja, Sünnenschienchen, das ist viel besser als das ganze schwarze Blatt. Den Strich, den kann der liebe Gott sogar von oben sehen und jetzt weiß er, daß er sein Sünnenschienchen bis in alle Ewigkeit behüten und beschützen muß.«


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