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Der neue Lehrer

Der Sohn des Gastwirtes Lerz lief mit großen Schritten über die Heide zu dem Häuschen des Kunstmalers Deste. Er wollte seiner siebenjährigen Freundin Rosemarie etwas ganz Wichtiges erzählen. Es war Hinnerk unmöglich, für sich zu behalten, was er eben erlauscht hatte. Alle mußten erfahren, daß beim Vater soeben der Schulmeister Holsten gewesen war und einen neuen Lehrer für die kleine Schule in Unslohe mitgebracht hatte. Dieser neue Lehrer würde schon morgen sein Amt antreten, so daß dann die größeren Kinder von den kleineren getrennt werden sollten.

Hinnerk rannte immer schneller, je näher er dem kleinen Heidehause kam. Im Garten erblickte er mehrere Kinder, darunter seine Freundin Rosemarie, die Tochter des Malers.

»Ich weiß was, – ich weiß was!« rief er atemlos vom schnellen Laufen schon von weitem.

Bei Rosemarie waren gerade die beiden Kinder des Großbauern Alfken zu Besuch. Der dreizehnjährige Gottlieb lief Hinnerk entgegen, um zu hören, was es gäbe. Die neunjährige Geesche hatte es nicht so eilig; sie ließ sich im Spiel mit ihren Puppen nicht stören.

»Ich weiß was Feines«, wiederholte Hinnerk und betrat den Vorgarten. »Ich habe ihn gesehen!«

»Wen, – den Heideteufel?« fragte Gottlieb, und sein Gesicht fing an, vor Spannung zu glühen.

»Den neuen Lehrer!«

Nun horchten auch Geesche und Rosemarie auf.

»Er war bei meinem Vater. Der Scholmester hat ihn mitgebracht. Morgen kommt er in die Schule. Weil wir in Unslohe so viele Kinder geworden sind, braucht unser Scholmester noch einen. Da ist ein neuer Herr Lehrer dazu gekommen.«

»Ach, das ist gar nicht schön«, meinte Geesche. »Wenn zwei da sind, können sie viel mehr auf uns aufpassen. Beim Herrn Lehrer Holsten konnten wir viel dummes Zeug machen.«

»Er wird bald wieder weggehen«, meinte Gottlieb und zuckte mit den Schultern. »Wir haben schon mal einen hiergehabt, der ist nicht lange geblieben. Mein Vater sagte, den konnten sie nicht gebrauchen, weil wir ihn nicht verstanden hätten.«

»Warum habt ihr ihn nicht verstanden?« fragte die blondhaarige Rosemarie.

»Weil er ein Schwabe war, sagte mein Vater. Wenn er mit uns redete, verstanden wir ihn nicht.«

Rosemarie lachte hell auf. »O, was redest du da wieder, Gottlieb! Ein Schwabe kann überhaupt nicht sprechen. Ein Schwabe kriecht auf der Erde und ist ein scheußliches Tier. Beim Bäcker sind welche.«

»Dösbartel! – Unser Lehrer war ein anderer Schwabe, einer, der aus Schwabenland kommt. Das liegt weit weg von hier. Dort sprechen die Leute ganz anders.«

Geesche fing an zu lachen. »O ja, da sprechen die Leute ganz anders! Der Vater weiß es noch ganz genau. Er redet immer, wie der Lehrer gesprochen hat, wenn wir im Herbst die Nistkästen für die Vögel ausräumen.«

»Was hat der Schwabenlehrer gesagt?« forschte Rosemarie.

Gottlieb legte die Hände auf den Rücken, spazierte vor den Mädchen auf und ab, fuhr sich mehrmals langsam mit der Hand durch das kurzgeschorene Haar und sagte mit tiefer Stimme: »Die Nischtkäschte müsset mir naushänge, des ischt s'schönschte ond s'beschte Nescht.«

»Ja«, lachte Geesche, »so hat er gesagt. ›Die Nischtkäschte‹!«

Rosemarie klatschte in die Hände. »Die Nischtkäschte, – die Nischtkäschte! – O, das ist fein! Nischtkäschte für den Lünk.«

»Nein«, rief Geesche, »nicht für den Sperling! Die Nischtkäschte sind das beschte Nescht für Meisen, Rotschwänzchen und viele andere Vögel. Der Lünk kann in Mauerlöchern bauen, er ist nicht nützlich.«

Immer wieder lachte Rosemarie. »Die Nischtkäschte, die Nischtkäschte! – Ob uns der neue Lehrer auch von den Nischtkäschten erzählt oder ob er heidisch spricht, wie wir hier in der Heide?«

»Ja«, meinte Hinnerk, »er kommt aus der Heide, er gehört zu uns, das habe ich alles vom Vater gehört. Er hat schon mit ihm gesprochen. Immer nur platt, der versteht uns! Seine Eltern haben einen Hof bei Plattendorf, dort, wo die vielen Moore sind. Der kann uns viel erzählen.«

»Wenn er schöne Geschichten weiß«, rief Rosemarie, »ist er ein feiner Lehrer. Immerfort muß er uns was erzählen.«

»Er soll nur die kleinen Kinder haben. Alle, die über zehn Jahre alt sind, kommen zu unserem alten Scholmester.«

»Wie sieht er denn aus?« forschte Geesche.

»Sehr alt ist er nicht; er wird wohl gerade mit seiner Schule fertig geworden sein. Aber da er auch ein Heidjer ist, mag es schon gehen.«

Unter den Kindern wurde noch ein ganzes Weilchen über den neuen Lehrer gesprochen, dann kehrten Gottlieb und Geesche gemeinsam mit Hinnerk heim, während Rosemarie ins Haus eilte, um den Eltern die Neuigkeit mitzuteilen.

Kunstmaler Deste und seine Frau lauschten lachend dem Geplauder ihres einzigen Töchterchens, das sofort die Neuigkeit überbrachte.

»Es ist sehr gut, Rosemarie«, meinte der Vater, »daß ihr einen zweiten Lehrer bekommt. Es war für Herrn Holsten wirklich schwer, alle Kinder allein zu unterrichten. Die Zehn- und Zwölfjährigen haben längst alles gelernt, was man euch erst beibringen muß. Jetzt werdet ihr in Klassen eingeteilt, das ist für alle von großem Vorteil.«

»Ich möchte aber wieder neben Hanne Petersen sitzen.«

»Das wird wohl möglich sein, da Hanne in deinem Alter ist.«

Am nächsten Morgen gingen die Kinder mit besonderer Erwartung in die Schule. Das kleine Schulhaus von Unslohe hatte nur zwei Schulzimmer. Lehrer Holsten bewohnte im Dachgeschoß zwei winzige Räume. Sie genügten für ihn und seine Frau. Schon lange war er vorstellig geworden, daß ein zweiter Lehrer für den kleinen Heideort notwendig sei, weil er die zweiundfünfzig Kinder nicht allein mehr unterrichten könne. So hatte man ihm endlich einen ganz jungen Lehrer geschickt, der in Unslohe seine Tätigkeit beginnen sollte. Wilhelm Frese war ein Kind der Heide, es war ihm daher besonders lieb, in einem Heideort anzufangen.

Als alle Kinder in dem größeren Schulzimmer versammelt waren, kam Lehrer Holsten mit seinem jungen Helfer herein. Aller Augen richteten sich gespannt auf den noch sehr jungen Mann. Rosemarie Deste nickte befriedigt mit dem Kopf. Sie stieß Hanne Petersen in die Seite und sagte laut:

»Ja, den wollen wir behalten.«

Die Verteilung der Kinder auf zwei Klassen wurde zunächst vorgenommen.

»Wir haben heute den Rudolf zum erstenmal mitgebracht«, flüsterte Trine Petersen Rosemarie zu. »Du weißt doch, das ist der Dösbartel.«

»Ich weiß«, rief Rosemarie, »er ist das Enkelkind von meinem lieben Krischan. – Wo ist er?«

Hinter Gottliebs Rücken saß ein zehnjähriger Knabe, bleich und mager, mit einem stumpfen Gesicht und müden Augen. Der Knabe sah aus wie ein Siebenjähriger; durch Krankheit war er so weit zurückgeblieben. Er saß gebückt auf seinem Platz; sein Gang war unsicher und schleppend.

»O, er läuft wie der Krischan«, sagte Rosemarie, nachdem sie das kranke Enkelkind ihres geliebten Schäfers aufmerksam betrachtet hatte.

»Und dumm ist er auch«, flüsterte Trine, »er weiß gar nichts.«

»Er ist immer krank gewesen«, entschuldigte Rosemarie. »Der Krischan hat mir erzählt, daß er ein bißchen dumm ist und nichts lernen konnte, weil er hier oben«, sie tippte auf die Stirn, »nicht ganz richtig ist.«

»Er kann nicht lesen und schreiben, er kommt zu den ganz Kleinen und ist doch schon zehn Jahre alt.«

»Laß mal«, meinte Rosemarie begütigend, »der Herr Lehrer aus unserer Heide wird ihm das schon beibringen.«

»Dat glöw ick nich, – er ist ein Dösbartel!«

Rosemarie wollte den Knaben begrüßen, aber da ertönte die Stimme des Lehrers, der den kleinen Kindern gebot, mit dem Herrn Lehrer Frese in das andere Schulzimmer zu gehen. Verschiedene größere Mädchen wollten sich mit durchdrängen, denn der neue Lehrer gefiel ihnen besser als der alte. Aber Holsten hielt sie zurück.

»Ihr bleibt bei mir!«

Endlich waren die Großen von den Kleinen geschieden. Der neue Lehrer bekam siebzehn Kinder in seine Klasse. Der Älteste von ihnen war Rudolf Garbein, ein unglücklicher, kranker Knabe, der über ein halbes Jahr in einem Kinderpflegeheim zugebracht hatte, weil er weder körperlich noch geistig gesund war. Maler Deste war es gewesen, der dem elternlosen Knaben dieses Unterkommen verschafft hatte, denn der Großvater Rudolfs, der alte Schäfer Krischan, besaß nicht die Mittel dazu. Nun war sein Enkelkind hierher gekommen und hatte beim Großbauer Petersen Aufnahme gefunden. Petersen mit seinen fünf Kindern meinte, der zehnjährige Knabe würde sich inmitten seiner Kinderschar gewiß wohlfühlen und manches lernen können. Es zeigte sich aber bald, daß Rudolf tatsächlich sehr beschränkt war und kaum etwas begriff. Man mußte unendliche Geduld aufbringen, um ihm das Einfachste beizubringen.

Lehrer Frese wies seinen Kindern die Plätze an. Rosemaries Bitte, neben Hanne Petersen zu sitzen, wurde erfüllt. Nun saßen die beiden Mädchen am Ende der ersten Bank und warteten voller Neugier darauf, was ihnen der neue Lehrer erzählen würde.

Lehrer Frese sah den forschenden, fragenden Blick der kleinen Rosemarie. Das Mädchen mit den großen Blauaugen gefiel ihm gleich. Außerdem kannte er das berühmte Bild des Malers Deste, der seine Tochter im vorigen Jahr gemalt und das Bild ausgestellt hatte.

»Du bist also Rosemarie, das Heidekind?« fragte er freundlich, »und willst viel in der Schule lernen?«

»Herr Lehrer, kannst du auch heidisch sprechen?« fragte Rosemarie.

»Du meinst, ob ich platt verstehe?«

»Ja, – aber ich sage heidisch. – Rede mal heidisch.«

»Man to«, lachte er, »aber dann möt wi glicks 'n bäten Schol hollen. – Na, hast du mich verstanden?«

Rosemarie nickte. »För'n Anfang all ganz god«, meinte sie befriedigt. »Ja, du kannst heidisch, aber der Herr Lehrer Holsten hat gesagt, in der Schule müssen wir Schreibdeutsch sprechen, und das wollen wir machen. Ist nur gut, daß du heidisch kannst.«

»Ich will auch wissen, ob du heidisch kannst«, rief Hanne, erhob sich von ihrem Platz und zeigte mit dem Finger aus dem Fenster. »Was is dat för'n Bom? Dor achter!«

»Machandelbom sünd dat!«

»Is god!« erklärte Hanne befriedigt.

»Aber nun sagt mir einmal, wer ihr eigentlich seid; ich möchte euch gerne alle kennenlernen.«

»Ich bin die Hanne Petersen. Mein Vater hat einen großen Hof da hinten. Wir sind fünf Kinder, die Trina, der Albert, die Berta, dann komme ich, und dort ist die Margret. Siehst du sie?« Hanne hatte sich umgewandt und zeigte auf ein kleines Mädchen auf der letzten Bank hinten.

»Natürlich sehe ich sie. – Und wer bist du, kleines Heidekind?«

»Das ist die Rosemarie«, rief ein anderes Mädchen, »die Rosemarie kann viel erzählen.«

»Ja, ich kann viel erzählen«, meinte Rosemarie. »Ich war zuerst in Hamburg bei meinem Onkel und bei meiner Tante, weil meine Mutter im Himmel ist. Dann holte mich mein Vater hierher in sein Heidehaus. Zuerst war es ein trauriges Haus, weil ich auch noch krank wurde. Dann kam Dirli-Mutti. Sie hat mich wieder gesund gemacht und ist nun meine Mutti geworden. Jetzt sind wir ein fröhliches Haus. Mein Vater malt schöne Bilder, mich hat er auch gemalt, denn ich bin Rosemarie, das Heidekind. Dann habe ich noch viele gute Freunde: den Schäfer Krischan und all seine Schnucken. Ich habe auch zwei Schnucken, das Weißli und das Beißli. Der da«, Rosemarie wandte sich um und zeigte hinüber zur zweiten Bank, »das ist das Enkelkind von meinem lieben Krischan.«

»Er ist ein Dösbartel«, rief Hanne.

»Herr Lehrer, du wirst ihn schon klug machen«, meinte Rosemarie. »Und jetzt erzähle ich dir die Geschichte von der Esse-Mühle und den Wichtelmännern. Hast du schon mal einen Wichtelmann gesehen?«

»Einen lebenden noch nicht.«

»Aber eine Hexe hast du doch schon gesehen, Herr Lehrer«, rief ein Blondkopf.

»Auch noch nicht.«

»O, – und du bist schon so alt! – Aber den Heideteufel hast du doch sicher gesehen?«

»Nein, ich habe auch den Heideteufel noch nicht gesehen. Es gibt gar keinen.«

Da brach großer Tumult los. Alle Kinder schrien dem Lehrer zu, daß es doch einen Heideteufel gäbe, der immerfort in der Heide umherliefe und lauter böse Sachen mache.

»Herr Lehrer, wenn er mal zu dir kommt, mußt du einen Mistelzweig nehmen und ihn damit hauen, dann kann er sich nicht mehr rühren, dann tut er dir nichts.«

Rosemarie deckte beide Hände über das Gesicht und kicherte leise vor sich hin. Sie dachte daran, wie sie einmal einen harmlosen jungen Burschen tüchtig geprügelt hatte.

Wieder fingen die Kinder an, laut durcheinander zu rufen; alle wollten dem neuen Lehrer etwas erzählen. »Kennst du die Sagen aus der Heide? Die Sage vom Wacholder, vom Pferdeei und von der Kiste, die der Teufel versteckt hat?« Jedes Kind wollte das andere überschreien, es war ein tolles Durcheinander.

Da wehrte Lehrer Frese energisch ab: »Jetzt wollen wir erst etwas lernen! Später könnt ihr mir dann nacheinander eure Geschichten erzählen. Aber die Sagen von dem Wacholder, von der Esse-Mühle und dem Pferdeei kenne ich auch, denn sie sind in der ganzen Heide bekannt; jedes echte Heidekind weiß davon.«

»Wo kommst du denn her, Herr Lehrer?«

»Aus Plattendorf, dort hat mein Vater auch so einen Hof, wie ihn viele von euren Eltern haben. Nur ist es bei uns etwas anders als hier. Bei uns ist das große, große Moor; überall Torfgeruch, denn bei uns wird Torf gestochen. Wenn unsere Pferde durch das Land gehen, bekommen sie Holzpantoffeln an, damit sie in die lockere Erde nicht einsinken. An manchen Abenden steigen dichte Wolken mit den seltsamsten Farben aus den Mooren auf. Zuweilen sieht man auch kleine Flämmchen über das Moor hüpfen, das sind die Irrlichter. Sie sind aber nur an ganz gefährlichen Stellen zu finden, niemand darf dorthin. – So, nun wollen wir einmal hören, wie die anderen Schüler und Schülerinnen heißen.«

Rosemarie hob artig den Finger empor.

»Was möchtest du noch, kleines Heidekind?«

»Wie die anderen Kinder heißen, sagen wir dir später. Jetzt erzähle uns lieber die Geschichte von den Wolken, die aus dem Moor aufsteigen, und von den kleinen Flammen, die über das Moor hüpfen.«

»Das erzähle ich euch ein anderes Mal.« Dann wandte sich der Lehrer an Rudolf: »Wie heißt du, mein Junge?«

Aber Rudolf erhob sich nicht von seinem Platz. Er blieb ruhig sitzen und starrte zur Zimmerdecke hinauf.

»Er ist ein Dösbartel«, rief eins der Kinder, »den brauchst du nicht zu fragen, Herr Lehrer, der weiß nichts.«

Frese trat an den Knaben heran und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Du wirst doch wissen, wie du heißt, mein Junge?«

»Rudolf – –«

»Siehst du, das ist schon etwas. Wir beide werden gewiß gute Freunde werden.«

Während Herr Frese sich nacheinander mit den anderen Kindern beschäftigte, vernahm er aus der zweiten Bank lautes Gelächter und gleich darauf den zornigen Ruf aus Rudolfs Munde:

»Das ist keine Kuh!«

»Hahaha – eine Kuh! – Herr Lehrer, jetzt habe ich ihm den Buchstaben Q auf die Tafel gemalt und ihm gesagt: das ist ein Q!«

»Das ist keine Kuh«, beharrte Rudolf.

Die Kinder wandten sich dem Knaben zu und lachten übermütig.

»Ich weiß noch was«, sagte Hanne Petersen. »Darf ich mal an die Tafel gehen?« Dann schrieb sie ein N und ein T an die Tafel.

»Was ist das?« fragte sie. Und da niemand eine Antwort wußte, erklärte sie: »Das ist eine Ente.«

»Das ist keine Ente«, riefen alle.

»Doch, – das ist N und T, also zusammen: Ente!«

Da wurde das Gelächter noch stärker. Schließlich mußte Lehrer Frese laut und energisch Einhalt gebieten. Er hatte bereits erkannt, daß der zehnjährige Rudolf, der in seiner Klasse saß, sehr zurückgeblieben war, aber er konnte nicht dulden, daß der unglückliche Junge von den andern Kindern verlacht wurde. Sie meinten es gewiß nicht böse. Er kannte die Art der Heideleute, er wußte, daß sie weder gehässig noch bösartig waren, aber es machte den Kindern anscheinend Spaß, ihren Übermut an dem Kinde auszulassen. Das wollte er ihnen langsam abgewöhnen. Es war wohl am richtigsten, wenn er heute noch nicht mit dem Unterricht begann, sondern erst ein wenig von seiner Heimat erzählte, um auf diese Weise das Vertrauen der Kleinen zu gewinnen. –

Endlich war der erste Schultag mit dem neuen Lehrer beendet. Die Kinder machten sich auf den Heimweg. Die sechsjährige Margret nahm Rudolf an die Hand und wanderte dem elterlichen Hofe zu. Die anderen standen noch beisammen und unterhielten sich über den neuen Lehrer, der ihnen allen gut gefiel.

Als Rosemarie nach Hause kam, lief sie zuerst zu ihrer Mutter, um ihr von Herrn Frese zu erzählen. Auch der Vater wurde über den neuen Lehrer genau unterrichtet.

»Ich glaube, er ist ein guter Lehrer. Es macht Spaß, mit ihm zu reden. Er kann sogar heidisch sprechen. Sage mal, Vater, haben wir auch Nischtkäschte?«

»Was sollen wir haben?«

»Wir müsset Nischtkäschte naushänge, denn des ischt s' schönschte ond beschte Nescht.«

»Was ist denn das wieder?« lachte der Vater. »Euer neuer Lehrer ist wohl ein Württemberger?«

»Nein, das war doch der alte, der war ein Schwabe! Denke mal, ein richtiger Schwabe!«

Wieder erzählte Rosemarie von dem, was sie von Gottlieb und den Petersen'schen Kindern gehört hatte. Dann begann sie laut zu lachen. Sie holte einen Zettel herbei und schrieb dem Vater darauf die beiden Buchstaben: N und T.

»Rate mal, was das ist!« fragte sie.

»Das sind zwei Buchstaben aus dem Alphabet.«

»Falsch, – das ist eine Ente!«

»Kein Gedanke, Rosemarie! Das sind zwei Buchstaben.«

»Und was ist das?« Sie malte den Buchstaben Q auf das Papier.

»Auch ein Buchstabe.«

»Das ist eine Kuh!«

»Kleiner Dummbart!«

»Wir haben den Rudolf damit geärgert! Weißt du, den Dösbartel! Dann haben wir so lange gelacht, bis es uns der Lehrer verbot. – O, ist der dumm!«

»So, – ihr habt also den Rudolf ausgelacht?«

»Feste, Vater!«

Maler Deste hob sein Töchterchen auf die Knie und zog seine Taschenuhr heraus. »Was ist das?«

»Das ist eine Uhr.«

»Wenn ich die Uhr auf die Erde werfe, was ist dann?«

»Dann ist sie kaputt!«

»Ja, Rosemarie, dann ist sie kaputt, denn das Räderwerk ist verbogen, und der Uhrmacher muß die Uhr auseinandernehmen, er muß ein neues Rädchen einsetzen und sie ölen, damit sie wieder gut geht. – So ist das auch mit dem Rudolf.«

Rosemarie blickte den Vater verständnislos an.

»Der arme Rudolf ist einmal, als er noch ganz klein war, auf die Erde gefallen und hat sich sehr den Kopf aufgeschlagen; da ist in seinem Kopf auch etwas kaputt gegangen. Es war aber kein richtiger Arzt da, der dem Rudolf gleich helfen konnte. So ist der arme Rudolf krank geblieben und begreift alles das nicht so rasch, was andere Menschen mit ihrem gesunden Kopf sogleich verstehen. Das ist sehr traurig, mein liebes Kind! Viele Menschen, die in ihrer Kindheit einen Unfall hatten und dadurch Schaden erlitten, kranken oft ihr ganzes Leben lang daran. Alle andern, die gesund blieben, müssen daher sehr dankbar und glücklich sein. Sie dürfen aber die kranken Menschen nicht auslachen oder gar verspotten; im Gegenteil, man muß sehr lieb zu ihnen sein und viel Geduld mit ihnen haben.«

»Da ist bei dem Rudolf also im Kopf ein Rädchen nicht in Ordnung? Muß es der Doktor dann auch ölen, wie es der Uhrmacher bei der Uhr macht?«

»Das ist ja nur ein Vergleich, Rosemarie, aber es war damals kein Arzt da, der alles wieder in Ordnung bringen konnte.«

»Konnte der Krischan das nicht machen?«

»Nein, mein liebes Kind, das konnte der Krischan nicht, das kann nur der Arzt. Aber der Krischan würde zu weinen anfangen, wenn er hörte, daß sein Enkelkind von euch ausgelacht wird. Du weißt doch, er hat damals auch geweint.«

»O ja«, sagte Rosemarie kummervoll, »er hat geweint. Ich will aber nicht, daß der Krischan wieder weint. Mein Hart hat damals furchtbar gepuckert.«

»Darum dürft ihr den armen Rudolf, auch wenn er noch so falsche Antworten in der Schule gibt, nicht auslachen. Es ist schon möglich, daß er noch etwas lernt, aber man muß viel Geduld mit ihm haben.«

»Freut sich der Krischan, wenn der Rudolf etwas lernt?«

»Freilich, er würde sogar eine sehr große Freude darüber haben.«

»Ach, Vater, dann helfe ich dem Rudolf, so viel ich nur kann. Wenn sich der Krischan doch darüber freut, will ich sehr viel Geduld haben.«

»Denke immer daran, mein Kind, daß der Rudolf schwer begreift; es wird sehr lange dauern, bis er auch lesen und schreiben lernt.«

»Ja, weil er ein bißchen kaputt im Kopfe ist.«

»Wenn also die Kinder in der Schule über den armen Rudolf lachen, mußt du ihnen sagen, daß sie das nicht tun dürfen, denn der Rudolf ist ein kranker Junge. Seid froh und glücklich, daß ihr alle gesund seid. – – Rosemarie, denkst du immer daran?«

Herr Deste nahm dem Kinde rasch die Uhr fort, denn Rosemarie drückte ihren Finger auf das Räderwerk der noch immer geöffneten Uhr.

»Ich wollte nur mal sehen, wie die Räder gehen.«

»Beinahe wäre es der Uhr wie dem armen Rudolf ergangen. Merke dir, all solche Sachen muß man behutsam anfassen, und zu Menschen und Tieren, die krank sind, soll man besonders lieb und rücksichtsvoll sein. Willst du mir das versprechen?«

»Natürlich, Vater! Der Rudolf soll ein kluger Junge werden, ich helfe ihm bei seinen Schularbeiten, und auslachen darf ihn niemand. – Jetzt komm, Vater, jetzt hängen wir die Nischtkäschte im Garten auf und machen des schönschte und beschte Nescht!«

»Kleines dummes Mädchen, für die Nischtkäschte ist es viel zu spät. Pfingsten ist vorüber; da haben alle unsere Vögel schon längst ihre Nester.«

»Das ist schade! Aber machst du mir dann im Herbst viele Nischtkäschte, Vater?«

»Das will ich gerne tun.«

»Weil wir jetzt so fröhlich sind, sollen auch alle Vöglein fröhlich sein und viel singen.«

»Das werden sie sicher tun.«

»Ja, Vater, dat glöw ick!«


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