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Das Licht im Herzen

»Ich möchte dich begleiten, Dirli-Mutti.«

»Es ist noch früh am Tage, Rosemarie. Ich will nur nach dem kranken Heidekind sehen und hören, was der Arzt gestern abend gesagt hat.«

»Da will ich mit dir kommen und auch nach dem kranken Heidekind sehen.«

»Ich weiß etwas viel Besseres, Kind. Da du schon aufgestanden bist, kannst du die Mutti begleiten. Ich setze dich bei Petersens ab, und dort wartest du auf mich.«

»Warum soll ich nicht zum kranken Heidekind mitgehen, Dirli-Mutti?«

»Du kannst inzwischen Blumen pflücken und machst einen hübschen Strauß. – Sag' mal, wem bringen wir den?«

»Dem Vater!«

»Nein, diesmal nicht. – Denke einmal nach, was ich gestern zu dir gesagt habe.«

»Ochotti jau, – du hast gestern so viel zu mir gesagt!«

»Wer könnte wohl heute, am Sonntag, Blumen bekommen? Strenge mal dein Köpfchen an.«

Rosemarie legte den Finger an die Stirn. »Ich denk' und denk', aber ich weiß nicht, wem ich Blumen bringen soll.«

»Kleiner Dummpeter, – wer feiert heute seinen fünfundsechzigsten Geburtstag?«

»Der Scholmester«, rief Rosemarie, »jetzt weiß ich es wieder! Dirli-Mutti, ich bringe dem Scholmester die Blumen!«

»Ja, das wollen wir machen. Vielleicht schläft er sonntags etwas länger als sonst. Dann legst du ihm den selbstgepflückten Blumenstrauß auf das Fensterbrett der Schulstube. Später gehen wir dann beide hin und sagen ihm unseren Glückwunsch.«

»Die Berta Petersen muß mit mir kommen, auch Blumen pflücken und sie dem Scholmester bringen.«

So kam es, daß Frau Deste am zeitigen Morgen mit ihrer kleinen Tochter durch die Heide ging. Als sie beim Gastwirt Lerz vorüberkamen, blieb Rosemarie stehen.

»Horch, Dirli-Mutti, der Wichtelmann hämmert schon wieder. O, ist der fleißig!«

Aus dem Schuppen vernahm man ein leises Klopfen.

»Dirli-Mutti, jetzt sagen wir dem Wichtelmann guten Morgen. O, der kann wunderschöne Sachen machen! Er will mir ein kleines Männchen zurechtschneiden, mit einer roten Zipfelmütze. Wollen wir gleich mal nachsehen, ob das Männchen schon fertig ist?«

»Ich glaube, wir dürfen Herrn Gribbe jetzt nicht stören, Rosemarie.«

»Es stört ihn nicht, ich sehe ihm oft zu. – O, er hat so viele kleine Messerchen, damit schnippelt er am Holz herum. Dann wird ein kleines Männchen daraus. – Dirli-Mutti, anfassen dürfen wir nichts, du auch nicht. Ich nehme immer die Hände fest auf dem Rücken zusammen, weil ich sonst doch was anfasse.«

Bevor Frau Deste etwas erwidern konnte, lief Rosemarie durch den Garten des Gastwirtes zum Schuppen hinüber. Neugierig steckte sie den Kopf durch die geöffnete Tür.

»O, du liebes Wichtelmännchen, – guten Morgen! – Bist du schon an der Arbeit? Ich bin auch schon aufgestanden.«

»Da ist ja unsere Rosemarie!«

»Schnitzelst du schon an meinem Männchen?«

»Nein, Kind, an einem Pfeifenkopf.«

»O, ein Pfeifenkopf!« sagte Rosemarie. »Machst du ihn aus Wacholder?«

Inzwischen war auch Frau Deste hereingekommen. Sie ging gern zu dem Holzschnitzer, der so schöne Sachen arbeitete. Auch diesmal blieb sie mit Rosemarie ein ganzes Weilchen im Schuppen, um seine neuen Arbeiten zu bewundern.

»Warum schnippelst du eigentlich, Wichtelmännchen?«

»Weil es eine Freude für mich ist.«

»Geh doch lieber in die Heide, das macht noch viel mehr Freude!«

»Wenn man alt ist, kleines Mädchen, kommt man nicht mehr recht auf den Beinen fort; dann muß man sich eine andere Freude suchen. Alte Leute brauchen etwas fürs Herz, sonst trocknen sie ein!«

»Puckert dann dat Hart nicht mehr?«

»Nur sehr langsam und verdrießlich. Der aber, dessen Herz freudig und froh ist, der lebt auch im Alter ein zufriedenes Leben. Das kannst du noch nicht verstehen, mein Kind. Wenn man jung ist, gibt es gar viele Freuden, da ist das Leben ein einziger Sonnentag. Aber wir Alten, wir müssen uns schon ein Licht anzünden, damit unser Inneres hell bleibt. Sonst sind wir arm.«

Rosemarie kniff die Augen zu und wiederholte in Gedanken die Worte des Wichtelmannes, die sie nicht recht verstand.

»Deine Wichtelmannsprache kenne ich nicht. Bist du nicht arm, wenn du hier sitzest und schnippelst?«

»Nein!«

»Und wenn du dir ein Licht angezündet hast, bist du nicht mehr arm?«

Der Holzschnitzer lachte. »Nein, du liebes Mädchen. Ich fühle mich glücklich und zufrieden, wenn ich meine Figuren schnitzen kann. Dann ist es, als leuchte in mir ein helles Licht, und dieses Licht macht das Alter froh.«

»Muß jeder alte Mensch so ein Licht haben?«

»Er müßte es haben. Wer klug und weise ist, der hat es auch. Dann erleuchtet es seinen Lebensweg und, vor allem, sein Alter.«

»Wie machst du das, wenn du dir innen ein Licht anzündest? Das verstehe ich nicht. – Dirli-Mutti, verstehst du das?«

»Ja, mein liebes Kind. Unser guter Meister Gribbe meint, im Alter muß sich der Mensch etwas schaffen, woran er Freude hat, das ihn beschäftigt und beglückt. Dann ist es hell und sonnig in ihm.«

»Aber zuerst muß er ein Licht verschlucken?«

Der Wichtelmann lachte: »Ja, ja, kleiner Sonnenschein, ich habe ein großes Licht verschluckt, darum ist mein Alter freudig und glücklich.«

»Und wenn man nur ein kleines Licht verschluckt?«

»Kann man auch freudig und glücklich sein.«

»Komm, Rosemarie«, mahnte die Mutter, »Herr Gribbe will arbeiten, wir dürfen ihn nicht länger mit deinem Geplapper stören.«

Nur ungern trennte sich Rosemarie von dem Wichtelmann. Er gefiel ihr gar so gut. Sie hätte gern noch mehr darüber gehört, wann er das Licht verschluckt habe und wie es angezündet worden sei.

Bald hatten sie das Petersen'sche Haus erreicht. Die Kinder, die alle Frühaufsteher waren, spielten bereits im Hofe. Frau Deste bat Frau Petersen, ob sie Rosemarie eine halbe Stunde dort lassen dürfe. Vielleicht könne sie mit Trine oder Albert einen schönen Blumenstrauß auf der Wiese pflücken, den sie dem Lehrer Holsten bringen wollten.

»Die Kinder können aus dem Garten Blumen holen und einen schönen Strauß für den Schulmeister zusammenbinden.«

Frau Deste dankte und ging davon, um nach dem kranken Heidekinde zu sehen. Trine, Hanne, Berta und Margret liefen in den Garten, um mit Rosemarie Blumen zu pflücken.

»Mir ist gar nicht gut«, sagte Hanne plötzlich, »der Bauch tut mir weh.«

»Trinke Kamillentee«, meinte Rosemarie altklug. »Der Krischan sagt, Kamillen sind immer gut. Wenn das Bähli oder eine andere Schnucke Bauchweh haben, fressen sie auch Kamillen.«

»Das nützt nichts.«

»Ich weiß noch was anderes«, sagte Rosemarie wichtig. »Der Wichtelmann hat ein Licht verschluckt, dann ist es hell und gut in ihm geworden.«

»Warum hat er ein Licht verschluckt?« fragte Trine.

Rosemarie berichtete, was sie gehört hatte. Wenn man alt sei und immer glücklich sein wolle, müsse man sich innen ein Licht anzünden, dann würde alles gut. Der Wichtelmann hätte auch ein großes Licht in seinem kleinen Bauch, darum wäre er auch immer froh und könnte niemals arm werden.

»Ich möchte auch nicht arm werden«, meinte Trine, »aber ein Licht mag ich nicht verschlucken. Das schmeckt nicht!«

»Hast du schon mal eins gekostet?«

»Nein.«

»Vielleicht schmeckt ein Weihnachtslicht gut, ein blaues Glückslicht. Aber das ist klein. Dirli-Mutti hat in einer Stube drei ganz große Lichte stehen. Wenn die einer aufißt, da wird es aber hell in ihm sein.«

Die Blumen waren schnell gepflückt, und da stellte sich auch Dirli-Mutti wieder ein, um ihr Töchterchen abzuholen. Rosemarie war sehr stolz auf den schönen Strauß, den sie in der Hand hielt.

»Jetzt gehen wir ganz leise zum Schulmeisterhause, damit er uns nicht hört. Dann legen wir ihm die Blumen aufs Fenster. Du mußt aber nur auf den Zehen gehen, Dirli-Mutti, sonst hört er uns. – Aber nein, er hört ja nicht gut. In der Schule müssen wir immer ganz laut bei ihm sprechen. – Warum hört er nicht gut, Dirli-Mutti?«

»Bei vielen älteren Menschen wird das Gehör schlecht, andere wieder haben schlechte Augen. Manch einer bekommt schwache Füße. So ist es eben, wenn der Mensch alt wird.«

»O, dann möchte ich nicht alt werden.«

Bald war das Schulhaus erreicht. Obwohl Rosemarie wußte, daß Lehrer Holsten etwas schwerhörig war, bat sie Dirli-Mutti erneut, recht leise zu gehen. So schlichen beide hin zu dem Fenster jenes Zimmers, in dem Holsten wochentags Schule hielt. Das Fenster war weit geöffnet, vom Lehrer aber war nichts zu sehen.

»Er ist schon weggegangen«, sagte Rosemarie. »Wo legen wir nun die Blumen hin?«

»Wir legen sie hier aufs Fenster, er wird sie schon finden.«

»Sieh mal, Dirli-Mutti, was für eine schöne Blume er dort im Garten hat. Die gefällt mir aber gut!«

»Das ist eine Lilie.«

»Wollen wir mal hingehen und sie uns genau ansehen?«

»Gewiß, Rosemarie, du darfst aber nichts anfassen.«

Beide gingen durch die kleine Pforte in den Garten hinein. Rosemarie bewunderte die weiße Lilie. Plötzlich verstummte der kleine Plappermund. »Dirli-Mutti, – horch mal!«

Ganz am Ende des Gartens stand eine Laube. Aus dieser Laube hörte man die Stimme des Schulmeisters.

»Tschip – tschip – tschip!«

»Er macht wie ein Vogel«, sagte Rosemarie.

»Willst du frühstücken? – Nein, du hast genug? Der Kasten wird jetzt zugemacht. – Aber, wer klopft so unartig dagegen? – Und du! – Komm mal her! So – – das ist brav von dir! – Nun kannst du dir auch ein Körnchen nehmen!«

»Was ist das?« fragte Rosemarie flüsternd.

»Herr Holsten beschäftigt sich anscheinend mit den Vögeln.«

»Ach, das möchte ich sehen.«

»Dann werden die Vögel davonfliegen.«

»Bitte, Dirli-Mutti, ich möchte doch sehen, was er mit den Vögeln macht.«

Wieder vernahmen beide die lockende Stimme des Lehrers. Da war Rosemarie nicht länger zu halten. Ganz leise schlich sie weiter, bis sie den Eingang zur Laube erreicht hatte. Dort blieb sie wie gebannt stehen. Der Schulmeister saß auf einem Gartenstuhl, auf seiner Schulter hüpfte ein Fink umher, ein zweiter saß in seiner Hand und pickte eifrig. Vor Holsten auf dem Tisch stand ein geschlossener Blechkasten. Ein Fink saß davor und pickte mit dem Schnabel energisch auf den Deckel. Noch andere Finken hüpften zu Füßen des Alten in der Laube umher.

Ein ganzes Weilchen verharrte das Kind regungslos, dann stieß es ein jubelndes »Ah!« aus.

Die Vögel schwirrten davon, Lehrer Holsten schaute auf und sah das kleine Mädchen.

»O, die lieben Vöglein!«

Frau Deste kam nun auch näher heran, um die Neugier ihrer Tochter zu entschuldigen. Zunächst gratulierten beide dem Lehrer und wünschten ihm Glück und Gesundheit für sein ferneres Leben. Rosemarie lief davon, holte die Blumen und reichte dem Lehrer den Strauß. Dann wollte sie mehr von den Vögeln hören.

»Kommen sie wieder?« fragte sie.

»O ja, wenn ich sie rufe.«

»Dann rufe sie, bitte, Herr Lehrer!«

»Du darfst hier aber nicht stehen bleiben, Rosemarie. Setze dich mit deiner Mutter hinten in die Laube, dann kannst du zusehen. Du mußt dich aber ganz still verhalten, denn die Vögel kennen dich nicht.«

»Kennen sie dich?«

»Ja, mich kennen sie ganz genau.«

»Dann sollen sie mich auch kennen lernen. – Ach, ich möchte auch so liebe Vögel haben, die mir auf der Schulter sitzen.«

»Das geht nicht so rasch, mein Kind. Es dauert Monate, bis man einen Vogel, der im Freien lebt, so zahm macht. Wenn es aber so weit ist, dann halten sie gute Freundschaft mit den Menschen. Nun setze dich dort hin und gib acht.«

Es dauerte gar nicht lange, da kamen die zahmen Finken wieder herbei. Herr Holsten konnte mit den Tierchen reden, es störte sie nicht. Rosemarie sah mit großen Augen zu, wie die Finken dem Lehrer die Körner fortnahmen, die er zwischen die Lippen nahm. Ein Vogel flog ihm auf die Schulter und pickte an seinem Ohrläppchen. Da lachte Rosemarie hell auf, und – die Finken flogen davon.

Aber sie kamen bald wieder.

»Nun wollen wir mal sehen, ob sie auch zu dir kommen«, sagte der Lehrer. »Strecke einmal deine Hand aus. Du mußt sie aber ganz ruhig halten.« Er schüttete dem Kinde einige Körner in die Hand.

»O, mein Hart puckert vor Freude!«

Die zahmen Finken, die es gewohnt waren, daß ihnen der Lehrer jeden Morgen Futter gab, flogen auch tatsächlich auf Rosemaries Hand. Sie wurde hochrot vor Freude, als ein Fink Körnchen für Körnchen aus ihrer Hand pickte. Dann legte Herr Holsten einige Körner auf Rosemaries Schulter. Es kam auch wirklich ein Fink geflogen, der sie von dort fortholte.

»Hast du gesehen, Dirli-Mutti«, rief Rosemarie aufgeregt.

Herr Holsten erzählte nun dem kleinen Mädchen, daß die Vögel schon früh am Morgen kämen und mit den Schnäbeln gegen die geschlossenen Kästen pickten, die er hier in der Laube stehen ließ.

»Siehst du dort den Frechling? Der hämmert schon immerfort gegen den Blechkasten, der will noch mehr haben.«

Dirli-Mutti drängte zum Aufbruch, aber Rosemarie bat, sie möchte sie noch hierlassen. So ließ Frau Deste ihre kleine Tochter beim Schulmeister.

Das Heidekind saß mäuschenstill und lauschte den Worten des Lehrers.

»Wenn du viel Geduld hast, Rosemarie, wenn du täglich um dieselbe Zeit die Finken rufst, wird es dir auch gelingen, sie zu zähmen. Finken sind in der Heide nicht scheu. Du mußt aber nicht glauben, daß sie schon nach drei Tagen kommen. Kinder müssen ja auch lange in die Schule gehen, bis sie etwas lernen.«

»O, ich habe schon Geduld!«

»Ja, das habe ich schon gehört. Du bist ein liebes Mädchen; versuche es einmal mit den Finken!«

»Wie soll ich das machen?«

Lehrer Holsten gab dem Kinde Anweisungen, und Rosemarie hörte ihm aufmerksam zu. Sie wollte von nun an auch zahme Finken haben, die ihr auf die Hand flogen oder gar die Körner aus ihrem Munde nahmen.

»Das macht aber Freude! Hast du auch viel Freude daran, Herr Lehrer?«

»Ja, mein Kind. – Mit dieser Freude beginne ich immer meinen Tag. Ich bin ein alter Mann und schon ein wenig müde. An den Freuden der Jugend kann ich nicht mehr teilhaben, da muß ich mir meine eigenen Freuden schaffen.«

»Damit es hell in dir wird?«

»Ja, kleines Mädchen, das hast du ganz richtig gesagt.«

»Wenn man alt wird, muß immer ein Licht in einem brennen, das man sich anzündet.«

Der Lehrer legte seinen Arm um das Kind und zog es an sich: »Kleines Mädchen, wer hat dir diese Lebensweisheit gesagt? Aber es ist so! Man muß sich beizeiten eine innere Freude schaffen, damit man kein trauriger alter Mensch wird, den keiner leiden kann. Man muß etwas haben, woran man sich im Alter erfreut. Ganz einerlei, was es ist. Der eine lebt von Erinnerungen, der andere zähmt sich seine Vögel, wie ich – –«

»Und der Wichtelmann schnippelt kleine Männerchen. Da wird er nie arm. Er hat ein Licht in sich, das brennt.«

»Ja, das erleuchtet sein Leben. Solch ein Licht habe ich mir auch angezündet, das sind meine Vögel. Viele wissen es gar nicht, daß ich jeden Morgen mit meinen Tieren rede. Aber ich bin dadurch ein glücklicher und zufriedener Mann geworden und kann leicht die Last des Alters tragen.«

»Und bist du auch kein armer Mann?«

»Nein, kleine Rosemarie, – so ein Licht, das in einem alten Menschen brennt, macht reich.«

»Und wenn das Licht in einem jungen Menschen brennt?«

»Der junge Mensch lebt noch im Licht, der braucht das nicht, das ist nur etwas für die Alten. Aber wohl dem, der sich schon beizeiten Freuden sammelt, der vorsorgt, damit er später viel innere Helle hat.«

»O, ich weiß schon! Mein Vater muß auch so ein Licht haben, damit er reich wird.«

»Dein Vater hat seine Kunst, die Malerei.«

»Macht ihn die hell und reich?«

»Ja!«

»Und der Krischan?«

»Das ist ein ganz seltener Mann! Obwohl er furchtbar arm ist, gehört er zu den reichsten Männern unserer Heide. Der Krischan hat so viel Licht in seinem Innern, daß die Dunkelheit gar nicht an ihn herankommen kann. Und du, Rosemarie, hast ihm schon viel Licht und Freude gebracht.«

»Ja, ich habe ihm eine neue Jacke geschenkt.«

»Sieh dir den Krischan nur einmal recht genau an! Wenn du ein friedliches Gesicht sehen willst; er hat es. Wenn er bei seiner Herde sitzt und in den blauen Himmel hinaufschaut, ist alles an ihm Friede und Ruhe. – Ja, der Krischan ist ein seltener Mann, der das Licht, das in seinem Innern brennt, sogar auf andere ausstrahlen läßt.«

»Er freut sich immer, wenn er hört, daß der Rudolf bei mir etwas gelernt hat.«

»Das ist brav von dir, Rosemarie! Wenn du weiterhin anderen Menschen hilfst, dann wird einmal in dir ein Licht sein, das nie verlöschen kann.«

Das Licht im Innern des Menschen beschäftigte das Kind noch lange auf dem Heimwege. Es war doch etwas Schönes, ein Licht im Herzen zu haben, das hell leuchtete.

Am Nachmittag durfte sie zum Krischan gehen. Diesmal stellte sie sich erst eine Zeitlang vor den Schäfer hin und betrachtete ihn lange aufmerksam.

»Sünnenschienchen«, sagte der Alte und lachte, »was hast du denn an mir zu sehen?«

»Ich will mir dein Gesicht genau ansehen, ob ein Licht aus dir leuchtet.«

»Sünnenschienchen, wat snakst du?«

»Der Scholmester hat es gesagt.«

»Na, der muß es wissen«, lachte der alte Schäfer.

Dann fragte Rosemarie, warum es ganz besonders hell in ihm sei und ob er ein Licht in sich hätte.

»Seit mein Enkelkind wieder hier lebt, ist mir die helle Sonne ins Herz gefallen, und wenn ich mein Sünnenschienchen gesund weiß, ist soviel Licht in mir, daß es überall aus mir her ausleuchtet.«

Rosemarie nickte zustimmend. Genau so hatte der Scholmester gesprochen. »Ach, Krischan, ich möchte auch, daß ein Licht hell in mir leuchtet.«

»Sünnenschienchen, das tut es ja! Wo du hinkommst, wird es hell um die Menschen sein. Aus dem traurigen Hause deines Vaters hast du ein fröhliches Haus gemacht, und dem alten Krischan bringst du die helle Sonne mit, wenn du zu ihm kommst. Der Rudolf freut sich auch, wenn er dich sieht und viele andere Menschen auch. – Bleibe immer so, mein Sünnenschienchen.«

»Werde ich dann im Alter auch reich sein?«

»Ja, Sünnenschienchen, dann wirst du ein frohes und glückliches Alter haben, dann brauchst du nur daran zu denken, wieviel Gutes du den Menschen getan hast. Das macht dich froh und glücklich.« –

Am späten Nachmittage fragte Rosemarie die Mutter, ob sie nicht ein Weihnachtslicht übrig hätte.

»Was willst du damit?«

»Essen!«

»Ein Licht essen? – Aber Rosemarie, du bist nicht gescheit, da wirst du krank.«

Das Kind lachte hell auf: »O nein, der Wichtelmann, der Scholmester und auch der Krischan, alle haben Lichter gegessen; darum sind sie so froh und so reich. – Dirli-Mutti, gib mir ein Licht!«

Frau Deste mußte lachen. »Jetzt weiß ich, was du willst! Der Wichtelmann hat dir davon erzählt, daß er sich ein Licht im Innern – anzündete. Aber deswegen hat er doch kein Licht gegessen. Er meinte damit, daß man sich im Alter Freuden schaffen muß, die einen Menschen glücklich machen.«

Rosemarie sagte nichts mehr, aber der Wunsch nach einem Licht blieb in ihr.

Am nächsten Tage vertraute sie sich Berta Petersen an und erzählte ihr, daß man reich und glücklich würde, wenn man ein Licht äße. Der Krischan hätte das auch gesagt.

Berta pflichtete der Freundin bei, nur meinte sie, Wacholderbeeren wären ebenso gut und schmeckten besser. Wenn einer nachts um zwölf Uhr Wacholderbeeren äße, die er bei Mondenschein gepflückt hätte, könnte ihm keine Hexe etwas antun. Aber weder sie noch der Albert und die Trine hätten bisher gewagt, um Mitternacht zu einem Wacholderbusch zu gehen, weil manchmal der Heideteufel umginge. Er verhexe den Menschen dann zu einem Wacholderbaum. Ein Licht essen sei daher nicht so gefährlich, wie nachts die Wacholderbeeren holen, und ein Licht könne sie der Freundin schon verschaffen. Im Küchenschrank läge eins.

Am nächsten Tage brachte Berta wirklich eine Sterinkerze mit in die Schule. Sie war angeknabbert, und Berta meinte: »Pfui, sie schmeckt scheußlich!«

Rosemarie fing sofort an, die Kerze zu benagen. Erst spuckte sie das Sterin aus, dann nahm sie sich zusammen und schabte mit den Zähnen weiter an dem Licht. Man mußte schon etwas wagen, um im Alter reich und glücklich zu sein. So leicht ließ sich das nicht erreichen.

Als Berta sah, daß Rosemarie immer wieder kleine Bröckchen aß, verlangte sie die Hälfte der Kerze. Das Licht ließ sich aber nicht durchbrechen, denn der Docht hielt beide Teile zusammen.

»Ich will später auch einmal reich sein und einen Großbauern heiraten«, sagte die Petersen'sche Tochter, während sie weiter an der Kerze herumbiß, »aber ein Großbauer heiratet mich nur, wenn ich viel Geld habe.«

Abwechselnd und mit Widerwillen wurde die Kerze benagt.

In der Pause sah es Trine. »Was macht ihr da?«

Mit wichtiger Miene erzählte Rosemarie von dem Licht, das man essen müsse, damit es hell in einem würde.

Trine schrie vor Lachen: »Ihr Dösbartels! Vielleicht verschluckt ihr hinterher noch ein Streichholz. – Ach, seid ihr dumm! – Holt euch lieber um Mitternacht Wacholderbeeren.«

Rosemarie ließ sich nicht beirren. Immer wieder nahm sie die Kerze zur Hand, und es gelang ihr auch wirklich, einen Teil davon aufzuessen. Sie schluckte in der Pause das Sterin zusammen mit ihrem Frühstück hinunter.

»Ich bin doch klein«, meinte sie, »ich brauche nur ein kleines Lichtchen. Ich glaube, ich habe jetzt genug gegessen. – Brr, es schmeckt mir gar nicht!«

Trotzdem steckte sie die Kerze wieder in den Schulranzen, um sie nach und nach völlig zu verspeisen. Sie konnte sich damit ja Zeit lassen. Der Krischan hatte gewiß auch längere Zeit an seinem Licht herumgegessen.

In der nächsten Stunde wurde sie wegen besonderer Aufmerksamkeit von Lehrer Frese gelobt. Das machte sie sehr glücklich. Auch Rudolf, der eine richtige Antwort gab, erhielt ein Lob. Da konnte Rosemarie nicht länger an sich halten.

»Ich merke schon das Licht! Es ist warm und hell in mir! Wenn es nur nicht so schlecht schmecken würde!«

»Was hast du denn?« fragte der Lehrer erstaunt.

Aber Rosemarie lächelte geheimnisvoll und beschloß, niemandem etwas zu sagen, bis die Kerze völlig verspeist war.

Am Abend, als sie im Bett lag, wurde noch ein erhebliches Stück von dem Licht abgenagt. Dann schlief das Kind beglückt ein.


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