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Der Strunzer

Rosemarie war voller Freude. Heute, endlich, sollte der vom Lehrer versprochene Ausflug gemacht werden. Früh um acht Uhr mußten sich alle Kinder in der Schule versammeln, reichlich mit Butterbroten und etwas Trinkbarem versehen, denn, so hatte Herr Frese gesagt, sie kämen erst am späten Nachmittag wieder zurück.

»Gibst du mir auch etwas für meinen Geldknudden?« fragte Rosemarie die Mutter und hielt ihr die kleine Börse hin.

»Natürlich, mein Kind, euer Lehrer hat gesagt, ihr sollt fünfzig Pfennige mitbringen.«

»Gibst du mir zweimal fünfzig Pfennige?«

»Nein, Rosemarie.«

»Dirli-Mutti, du wirst mir gewiß zweimal fünfzig Pfennige geben. Ich habe dem Rudolf gesagt, er brauche kein Geld mitzubringen, alles gebe ich ihm. Er ist doch das arme Kind vom Krischan.«

»Ich glaube zwar, daß Herr Petersen dem Rudolf die fünfzig Pfennige geben wird. Wenn du sie aber dem Rudolf versprochen hast, sollst du gerne das Geld für ihn haben.«

»Ich wußte ja, daß du eine liebe Dirli-Mutti bist. Du bist meine liebe Mutti und eine schöne Heideblume, so wie ich.«

»Aber Rosemarie, wer wird denn so eitel sein!«

»Ich freue mich doch nur, daß ich ein Heidekind bin.«

»Nun rede nicht mehr so viel, sondern mach, daß du fertig wirst, sonst gehen die Kinder ohne dich fort.«

»Hab' keine Angst, Dirli-Mutti, ich komme schon zu rechter...«

Da ließ ein Pfiff Rosemarie jäh verstummen. Vor dem Hause standen Berta, Hanne und Margret Petersen, Geesche Alfken, Hinnerich Fokke und etwas abseits Rudolf, der Enkel des alten Krischan.

»Komm doch endlich«, rief Geesche, »sonst läuft uns der Herr Lehrer davon!«

Rosemarie umarmte nochmals die Mutter, dann schloß sie sich den Kindern an, die im Laufschritt der Schule zueilten. Als Rudolf nicht so schnell folgen konnte, blieb Rosemarie stehen, nahm ihn an der Hand und redete ihm gut zu, recht rasch zu gehen, weil er sonst den schönen Spaziergang in die Heide nicht mitmachen könnte.

Es waren siebzehn Kinder, mit denen der Lehrer Frese den Ausflug antrat. Sie gingen zum Bahnhof und fuhren ein Stück durch die Heide. Dann stiegen alle aus, und es begann nun eine wunderschöne Wanderung. Immer wieder wußte der Lehrer den Kindern etwas zu erzählen, und als sie schließlich durch eine lange Birkenallee kamen, rief Rosemarie stürmisch:

»Herr Lehrer, Herr Lehrer, du hast gesagt, du willst uns die Birkensage erzählen!«

»Gewiß, das will ich tun.«

Die Kinder drängten sich dicht an ihn heran. Rosemarie schlug bittend die Augen zu ihm auf. »Nimm doch den Rudolf ganz dicht zu dir heran, damit er alles gut hört.« Damit schob sie ihm den Knaben zu, den der Lehrer an die Hand faßte. Dann begann er zu erzählen.

»Wie ich euch schon gesagt habe, gibt es bei uns in der Heide noch große Moorflächen. Was ein Moor ist, wißt ihr doch alle?«

Vielstimmiges Gelächter setzte ein, denn sie kannten es ja alle.

»Das Moor ist aber gefährlich. Manch ein Mensch, manch ein Tier ist schon darin umgekommen. Fremde, die des Weges unkundig sind, kommen oft in Lebensgefahr. Früher, als hier in der Heide nur wenige Häuser standen, war es noch viel schlimmer.«

»Und noch früher, war es da am allerschlimmsten?«

»Du hast ganz recht, Rosemarie, ganz früher war es am allerschlimmsten. Darum hat der liebe Gott versucht, Abhilfe zu schaffen. Er besah sein Werk und ließ seine Englein ausfliegen, damit sie auskundschaften, ob auch alles auf der Erde in bester Ordnung sei. Alle Engel kamen froh und glücklich zurück, bis auf einen. Der schaute sehr traurig aus.«

»Was hatte er denn?«

»Vielleicht wollte er einen Buchweizenpfannkuchen haben«, meinte Berta.

»Er wird eine Hexe gesehen haben; vielleicht hat sie ihn auch geschlagen.«

»Nein Kinder, der traurige Engel erzählte dem lieben Gott von der Heide und von dem Moor, das der Teufel geschaffen hatte, um den lieben Gott zu ärgern. Der Teufel war gekommen – –«

»Herr Lehrer, – der Heideteufel?«

»Nein, der Teufel, der auf der ganzen Erde umgeht. Dem gefiel das Werk des lieben Gottes nicht. Überall versuchte er, das schlecht zu machen, was schön und gut war. So verwandelte er viel Land in einen schlammigen Sumpf. Besonders hier, in unserer Heide, hauste er arg.«

»Du wolltest doch von den Birken erzählen«, mahnte Rosemarie.

»Kleine Ungeduld, das gehört alles zu meiner Erzählung. – Also, nun weiter, hört nur gut zu. Auf diesem Moor wuchsen wunderschöne Gräser und prächtige bunte Blumen. Das hatte der Teufel so eingerichtet, um die Menschen anzulocken. Sie ahnten auch nicht, welche Gefahr ihnen drohte. Wenn sie den Sumpf betraten, kamen viele ums Leben, denn sie versanken im Schlamm. Das alles hatte der Engel gesehen, und darum war er so traurig. Der liebe Gott tröstete ihn liebevoll und sagte: »Ich will die Menschen warnen, damit sie nicht im Moor versinken.« Er holte daher aus seinem Paradiese einen kleinen Baum, der einen weißen Stamm hatte. Den gab er dem Engel und befahl ihm, den Baum in festen Grund, aber dicht am Rande des Moors zu pflanzen.«

»Warum denn?«

»Die weiße Rinde des Stammes leuchtete auch im Dunkeln und warnte den Wanderer. Der Baum aber trug Blüten und Samen, der ausgestreut wurde. Nun wuchsen um das Moor lauter kleine Birken, und die Menschen wissen, daß alles, was dahinter steht, gefährlicher Grund ist.«

»Ist es hier auch gefährlich?« fragte Rosemarie und zeigte auf die lange Reihe der Birken, die vor ihnen lag.

»Nein, manches Moor ist inzwischen trocken gelegt worden. Wir biegen jetzt gleich auf die große Wiese ab, dort wollen wir spielen.«

»Spielst du mit, Herr Lehrer?«

»Freilich!«

»Müssen wir sehr artig sein, Herr Lehrer, weil du dabei bist?« wollte Geesche wissen.

»Unartig dürft ihr natürlich nicht sein, aber recht fröhlich sollt ihr sein.«

»Herr Lehrer, willst du nicht auf der Straße bleiben und uns allein spielen lassen? Dann sind wir noch fröhlicher.«

Herr Frese hob Rosemarie, die diese Worte gesagt hatte, empor und drückte sie lachend an sich. »Ich will heute mit euch fröhlich spielen. Nicht als euer Lehrer, sondern wie ein richtiges Heidekind.«

»Ochotti jau«, jubelte Rosemarie, »das ist aber fein! Willst du mit uns ein kleiner Schuljunge sein?«

»Freilich, das will ich gerne sein, aber wenn wir morgen in der Schule sind, bin ich wieder euer Herr Lehrer.«

»Spielst du auch mit uns Suchen, Herr Lehrer?«

»Ja, gewiß!«

»Dürfen wir dich auch hauen, wenn du uns nicht findest?«

»Das dürft ihr auch, aber nur heute, weil ich heute eben ein Heidekind bin.«

Da brach ungeheurer Jubel los. Die Kinder wußten sich vor Freude kaum zu lassen. »Wir verhauen den Herrn Lehrer«, riefen sie immer wieder.

»Halt, halt«, rief Herr Frese, »so geht das nicht! Den Lehrer verhaut man nicht, nur den großen Jungen, der heute mit euch spielt.«

»Dann mußt du auch einen Namen haben«, sagte Geesche. »Wie heißt du denn, Herr Lehrer?«

»Wilhelm Früderk Frese. Das ist ein guter Name aus der Heide.«

»O ja«, rief eines der Mädchen, »mein Bruder heißt auch Früderk.«

»Hat dich dein Vadder auch so genannt, als du noch ganz klein warst?«

»Nein, als ich ein kleiner Junge war und noch nicht zur Schule ging, hat mich mein Vadder immer ›Strunzer‹ geheißen.«

»Strunzer! – Strunzer!« jubelten die Kinder. »Heute bist du bei uns der Strunzer!«

Rosemarie blickte verständnislos von einem zum anderen. »Warum nannte man dich Strunzer?« fragte sie.

»Das Stadtmensch weiß das nicht«, rief Hinnerich verächtlich, »sie ist eben kein Heidekind! – O, bist du dumm! Er ist eben ein Strunzer!«

»Ich bin nicht dumm«, rief Rosemarie mit flammenden Augen.

»Sie kann noch nicht viel heidisch«, warf Berta ein, um den Streit zu schlichten.

»Doch, ich kann heidisch!«

»Platt heißt das«, rief Hinnerich, »aber ein Stadtmensch weiß das nicht!«

»Nicht streiten, Kinder«, mahnte Herr Frese. »Also höre zu, kleine Rosemarie. Ich bin als Junge viel in der Heide umhergelaufen und rannte meinen Eltern oftmals fort, weil es außerhalb des Hauses allerlei zu sehen gab. Besonders wenn die Heide blühte, lief ich stundenlang draußen umher, wie ein richtiger Vagabund. Weißt du, was das ist?«

»Ja, – ein Stromer.«

»Ein Stromer heißt das nur in der Stadt«, mengte sich erneut Hinnerich ein, »ein Stromer ist ein Stadtstrunzer. Bei uns ist es eben ein Strunzer. Das ist viel schöner.«

Herr Frese legte dem vorlauten Knaben die Hand auf den Mund, dann fuhr er fort: »Weil ich soviel umherstreifte, wurde ich schließlich von allen Verwandten ›Strunzer‹ genannt.«

»Du bist der Strunzer! Der Strunzer spielt mit uns! Den Strunzer dürfen wir hauen, – o, das macht Spaß!« riefen die Kinder durcheinander.

Nun drängte man schnell zu dem Spiel. Geesche wußte etwas besonders Schönes. »Dem Strunzer werden die Augen verbunden, er steht mitten im Kreise; dann muß er versuchen, einen von uns zu greifen und sagen, wer es ist. Wenn er beim dritten Male nicht richtig rät, dürfen wir ihn verhauen.«

»Ja, dann verhauen wir ihn!«

»Ich werde euch schon erkennen«, sagte der Strunzer lachend. »Ich werde euch befühlen, dann weiß ich genau, wer vor mir steht.«

Geesche zwinkerte listig mit den Augen. »Na, dann befühle uns mal!« Darauf wandte sie sich flüsternd an Rosemarie. »Er wird uns nicht kennen. Paß mal auf. Wir spielen das oft.«

Die Kinder stellten sich im Kreise auf. Geesche zog ihr Taschentuch hervor, weil es aber unsauber war, weigerte sich der Strunzer, das Tüchlein vor die Augen zu nehmen.

»Nein, Kinder, wenn ihr kein sauberes Tuch habt, können wir nicht spielen.«

Einige der Kinder zogen die Taschentücher hervor, aber sie waren zu klein. So kamen sie auf den Ausweg, die Schürze von Margret Petersen zu nehmen, um damit dem Strunzer das Gesicht zu verbinden. Er mußte sich ins Gras setzen, wurde aber erst ein Weilchen hin- und hergezerrt, bis das schwierige Werk gelungen war.

»Kannst du kieken, Strunzer?« fragte ein Mädchen vorlaut.

»Nein.«

»Gut, – dann bleibst du hier ein Weilchen ganz still sitzen. Dann geht es los. Wir sagen es dir.«

Flüsternd gaben Geesche und Hinnerich Fokke die Anordnungen. Einige Knaben brachen Wacholderzweige ab, mit denen sie sich besteckten. Dann wurden die Überziehjacken der Kinder vertauscht. Berta Petersen zog sogar das Röckchen aus und stand in Höschen da. Rosemarie fand das herrlich und machte es ebenso.

»Er kennt uns nicht, – er kennt uns nicht«, flüsterte Geesche, »dann dürfen wir ihn verhauen!«

Margret wurde das unsaubere Taschentuch um das blonde Haar gebunden, denn der Strunzer würde sie an dem Lockenkopf sofort erkennen.

»Seid ihr noch nicht fertig?« rief Herr Frese.

»Nein, warte noch!« Immer neues Gelächter entstand unter den Kindern. Der Lehrer wartete geduldig, er wollte den Kindern den Spaß nicht verderben, denn er ahnte, daß sie eine kleine Maskerade ausführten.

Geesche und Hinnerich schritten den Kreis ab, um nachzusehen, ob alle gut verkleidet seien. Hinnerich blieb vor Rosemarie stehen. »Wie ein Heidekind siehst du nicht aus«, sagte er, eher wie ein Stadtmensch!«

»Ich weiß was«, rief Geesche, »gib ihr deine Stiefel, dann erkennt sie der Strunzer nicht.«

Hinnerk blickte auf seine großen Knabenstiefel. »Damit fällt sie hin. – Sie trägt nur Schuhe mit hohen Absätzen.«

»Hab' ich nicht«, rief Rosemarie, »und ein Stadtmensch bin ich auch nicht!«

»Na, dann lauf mal in meinen Stiebeln«, rief Hinnerich und zog die Stiefel von den Füßen, die Rosemarie hastig ergriff. Sie zog sie an und stapfte tapfer darin los. Hinnerich lachte aus vollem Halse und stellte sich selbst, ohne Schuhe, in den Kreis.

»Kannst kommen!« riefen sie dann.

Der Strunzer trat in den Kreis und ging zuerst gerade auf Geesche zu, die sich zusammengekauert hatte. Sie trug die rote Wolljacke von Berta Petersen, dazu den Ledergurt von Hinnerich Fokke.

Der Strunzer tastete das Kind ab und riet schließlich auf Berta. Lautes Freudengeschrei brach los.

»Falsch, – falsch! – Jetzt noch zweimal, dann kriegt der Strunzer Prügel.«

Wieder mußte Herr Frese zurück in die Mitte des Kreises. Die Kinder veränderten ihren Standort, dann durfte er losgehen. Er trat an Jan Krut heran, zog die Hände aber rasch wieder zurück, weil er in einen Busch Wacholderzweige gegriffen hatte. Die Kinderschar lachte wieder laut auf, da der Lehrer auch diesmal den Namen nicht nennen konnte. Nun mußte er zum drittenmal raten. Auf allen Gesichtern lag höchste Erwartung. Das Schönste dieses Freudentages wäre gewesen, wenn sie den Strunzer nachher verprügeln konnten.

Diesmal schritt Herr Frese erst einigemale im Kreise umher.

»Komm doch und klabastere nicht«, rief Rosemarie. Da ging er geradenwegs auf sie zu.

»Das ist also ein Junge«, sagte er, »ich fühle die Stiefel. Aber merkwürdige Hosen hat der Junge an. – Nun will ich mal den Kopf betasten.« Er tat es. »Ja, da weiß ich wirklich nicht, wer es ist, ein Junge mit einem Mädelkopf? Das könnte – – könnte – –«

Rosemarie zuckte vor Vergnügen. Wieder fuhr ihr der Strunzer in die Haare, und strich dann vorsichtig über ihr Gesicht. Da begann Rosemarie leise zu kichern.

»Nun will ich doch einmal sehen, ob sie richtige Heidehosen anhat, wie sie ein Heidejunge trägt.« Als Herr Frese an ihren Höschen zupfte, schrie Rosemarie vor Übermut laut auf. »Der Junge heißt – – Rosemarie Deste! Nun, habe ich diesmal richtig geraten?«

»Du Dösbartel!« schalt Geesche. »Warum mußt du so laut brüllen, Rosemarie? Das hat dich verraten!«

»Sie kann ihren Schnabel nicht halten«, rief Hinnerich. Er hatte sich so darauf gefreut, den Strunzer zu prügeln; nun war ihm dieser Spaß verdorben.

Der Strunzer nahm die Schürze vom Gesicht. Er begann herzlich zu lachen, als er die Vermummung der Kinder sah.

»Das habt ihr fein gemacht! Jetzt stellt euch alle zusammen, – so, wie ihr euch verkleidet habt. Dann mache ich ein Bild von euch.«

Das war gar nicht so einfach. Als Herr Frese schließlich energisch wurde und den Kindern Ruhe befahl, lachte ihn Berta einfach aus.

»Strunzer, du hast heute nichts zu sagen.«

»Dann bekommt ihr eben kein Bild.«

»Wir möchten aber ein Bild haben«, meinte Geesche und schaffte energisch Ordnung.

Als der Strunzer den Fotoapparat eingestellt hatte, fingen alle furchtbar an zu lachen. In diesem Augenblick knipste er.

»Ich glaube, das wird ein recht vergnügtes Bild werden. Und nun wollen wir frühstücken.«

Sie lagerten auf einer Wiese. Rosemarie setzte sich wieder zu Rudolf, nachdem sie die Stiefel abgegeben und den Rock wieder angezogen hatte.

»Strunzer, erzähle uns was«, baten die Kinder.

»Wißt ihr auch, daß der Wacholder sehr nützlich ist?« fragte er.

»Ja«, sagte Geesche, »wenn man einen Zweig in der Hand trägt, kommen keine Hexen.«

»Die kommen auch sonst nicht«, lachte der Strunzer, »aber an den Wacholder knüpfen sich allerlei Sagen und Bräuche. Das war schon immer so. Wacholder heißt eigentlich nichts anderes als Wacher, immergrüner Baum.«

»Nein, Strunzer«, rief Rosemarie, »der Wacholder ist der Andel, der verhext ist.«

»Aber nur in der Sage, mein Kind. Sonst gibt uns der Wacholder einen guten Tee, der gegen allerlei Leiden getrunken wird. Manche Männer machen auch einen guten Branntwein daraus. Andere sagen, wenn man Warzen an den Fingern hat, vertrocknen sie, wenn man einen Wacholderzweig darauf bindet und ihn über Nacht darauf liegen läßt.«

»Mein Großvater macht aus Wacholderholz Tabakpfeifen und kleine Männchen«, rief der Sohn des Gastwirtes Lerz.

»Ich habe die schönen Schnitzereien deines Großvaters gesehen«, entgegnete der Strunzer. »Man sagt auch, daß die aus Wacholder geschnitzten Pfeifen den Raucher vor Unheil bewahren.«

»Und wenn man ein Haus baut«, rief Berta, »legt man Wacholderzweige auf die Schwelle, weil dann keine Hexe ins Haus kommen kann.«

»Wir wollen jetzt wieder spielen«, verlangten einige der Kinder. »Jetzt spielen wir: der Mann, der nach Bremen geht. Du mußt nach Bremen gehen, Strunzer.«

»Kennt ihr das Spiel auch hier?« lachte der Lehrer. »Das haben wir daheim in Plattendorf immer gespielt. Aber der Wanderer möchte ich nicht sein, der bekommt zu viele Schläge.«

»Bitte, bitte, sei doch der Wanderer«, bat Rosemarie, »das ist so schön!«

›Das groot Untier‹ wollte jeder sein. Schließlich einigten sie sich darauf, daß es Jan Krut sein sollte. – Dann ging es los. Der Strunzer mußte die Straße an den Birken entlang gehen. Ein Knabe kam ihm entgegen, der von dem Strunzer gefragt wurde: »Wo geiht de Weg na Bremen?«

Der Knabe zeigte dorthin, wo hinter einem Busch das große Untier verborgen lag.

Gemächlich klabasterte der Lehrer seinen Weg weiter. Er ging sehr bedächtig und langsam. Als er den Busch erreicht hatte, sprang das große Untier hervor und überfiel den Strunzer. Der wehrte sich. Da brüllte das Untier auf, und nun stürzten von allen Seiten die kleinen Untiere herbei. Als es ihnen gelang, den Strunzer auf die Erde zu werfen, herrschte riesiger Jubel unter den Kindern. Dann bekam er seine Prügel. Aber keines der Kinder schlug grob zu, sie hatten nur ihre Freude daran, dem Strunzer leichte Schläge zu versetzen. Der Respekt vor dem Lehrer war doch zu groß. Sie hatten Herrn Frese auch viel zu gern, um ihm wehe zu tun.

Plötzlich sprang der Strunzer auf. Es war ihm gelungen, Rosemarie zu erfassen. Nach rechts und links stieß er die Kinder zurück, daß sie lachend die Böschung hinunterkollerten. Dann hob er Rosemarie auf seine Schultern, und im Laufschritt ging es davon.

»Der Strunzer hat mich gepackt«, rief Rosemarie lachend, aber sie wollte doch, daß man ihr half.

Die Kinderschar jagte unter lautem Geschrei hinter dem Strunzer her. Aber Herr Frese war viel schneller und gewann einen immer größeren Vorsprung. Endlich hielt er im Laufen inne und setzte seine kleine Reiterin ab. Dann brach er einen Stock ab und rief:

»Wer mich angreift, bekommt Prügel!«

Er gab sich den Anschein, als wäre er furchtbar grimmig und schwang den Stock. Da wagte niemand, ihn anzugreifen.

Kurz darauf wurde der Frieden wiederhergestellt. Sie setzten die Wanderung fort, denn Herr Frese wollte die Kinder noch zum Hochmoor führen, das nicht weit von hier entfernt war. Die Unterhaltung drehte sich zunächst um die Prügel, die der Strunzer bekommen hatte. Das war den Kindern die größte Freude gewesen. Ja, mit dem Strunzer ließ es sich wunderschön lachen und scherzen.

Am Hochmoor wurde das Mittagessen eingenommen. Die Kinder holten die Vorräte hervor, und allen schmeckte es herrlich. Herr Frese ging von einem zum anderen und sah nach, ob jeder auch genug mitgebracht hatte. Rosemarie wollte Rudolf eines ihrer Brote geben, weil der Knabe sein Mittagbrot hastig verzehrt hatte und längst fertig war, während die anderen noch aßen. Aber der Strunzer kam ihr zuvor und gab Rudolf eine große Scheibe Brot mit Schinken.

»Du bist ein guter Strunzer«, sagte Rosemarie. »Wenn ich erst groß bin, heirate ich dich!«

»Dann mußt du aber noch viel lernen, denn ich will einmal eine kluge Frau haben.«

»Ich werde viel lernen, dann hast du eine kluge Frau. O, ich könnte heute schon ein Schulmeister sein, denn ich habe schon so viel gelernt.«

»So – so –«, lachte der Strunzer. »Da wollen wir gleich mal ein wenig Schule spielen. Also, – du bist der Schulmeister, und ich bin der Schüler.«

Dieser Vorschlag wurde begeistert von den Kindern aufgenommen.

»Du –«, flüsterte Geesche dem Strunzer zu, »du mußt ein großer Dösbartel sein!«

»Wollen mal sehen.«

Rosemarie saß da und überlegte, was sie fragen sollte. Endlich hatte sie es gefunden. Sie erhob sich, machte ein wichtiges Gesicht und legte beide Hände auf den Rücken.

»Na, los«, rief der Strunzer.

»Ruhe in der Klasse, ich klabastere erst! – Ganz still gesessen! – So – Strunzer, steh auf! Jetzt haben wir Rechenstunde.«

Der Strunzer erhob sich in gebückter Haltung und machte ein dummes Gesicht. »Jawoll, Herr Lehrer!«

»Strunzer, – wenn ein Kind vom Vater fünf Äpfel bekommt und von seiner Mutter auch fünf Äpfel, und sie alle aufißt, was hat es dann?«

»Bauchweh, Herr Lehrer!« sagte der Strunzer.

Die Kinder schrien vor Vergnügen.

Rosemarie schüttelte mißbilligend den Kopf. »Du bist dumm, Strunzer, ich werde dich nicht versetzen können. – Jetzt sage mir, wie wird ein Neger, wenn er ins Wasser fällt?«

»Weiß!« sagte der Strunzer.

»Naß«, schrie Geesche übermütig lachend. »O, der Strunzer ist furchtbar dumm!«

»Ruhe in der Klasse«, befahl der neue Lehrer. »Strunzer, nenne mir ein Tier.«

»Eine Ützepogge.«

»Gut – Strunzer. Nenne mir noch ein Tier.«

»Noch eine Ützepogge!«

»Nein, ein anderes Tier.«

»Eine kleine Ützepogge.«

»O Strunzer, du bist so dumm! Jetzt sage mir das Einmaleins mit der Drei.«

Das sagte der Strunzer tadellos her.

»Siehst du«, sagte Rosemarie, »du kannst es schon, wenn du aufpaßt. Jetzt sage mir das Einmaleins noch einmal, aber umgedreht.«

Sofort drehte sich der Strunzer um, so daß er Rosemarie den Rücken zuwandte und sagte das Einmaleins auf.

Rosemarie seufzte tief auf: »Sage deinem Vadder, ich kann dich nicht versetzen. Du bleibst noch ein Jahr in unserer Klasse. Und jetzt ist die Schule aus.«

»Ja, ja, der Strunzer bleibt noch ein Jahr in unserer Klasse«, riefen die Kinder jubelnd durcheinander. Sie wollten noch weiter Schule spielen, aber Herr Frese drängte zum Aufbruch. Während die Schar weiter wanderte, sprach er von der Gefährlichkeit des Moores. Er erzählte den Kindern, daß die Pferde, die in den Moorgegenden ackern, Holzpantoffeln an die Füße bekämen, daß sie nicht so leicht einsinken könnten.

»Das weiß ich«, sagte Geesche, »der Onkel macht es mit seinen Pferden auch immer so. Er wohnt auch dort, wo viel Moor ist.«

So verging der Tag rasch. Herr Frese verstand es vorzüglich, die Kinder auf allerlei in der Natur aufmerksam zu machen, und Rosemarie stellte wieder einmal fest, daß es nirgends so schön sei wie in der Heide.

»Spielen wir morgen in der Schule auch was Schönes?« fragte Berta.

»Nein, Kinder, morgen wird wieder fleißig gelernt.«

»Morgen bist du kein Strunzer mehr?«

»Nein, morgen bin ich wieder der Herr Lehrer.«

»O, das ist schade«, meinten die Kinder.

»Heute habe ich euch einen fröhlichen Tag bereitet, dafür erfreut ihr mich morgen, indem ihr recht gut zuhört und fleißig lernt.«

»Beim Strunzer brauchen wir nichts zu lernen«, rief Jan Krut.

»Morgen bin ich nicht mehr der Strunzer«, sagte Herr Frese ernst, »ich hoffe, ihr werdet das verstehen. Ich kann mir nicht denken, daß Heidekinder so dumm sind und einen Freudentag mit einem Schultag verwechseln. Heute war ich ein Heidekind, wie ihr, morgen bin ich wieder der Lehrer. Begreift ihr das?«

»O ja, das begreifen wir«, sagte Rosemarie. »Morgen lernen wir wieder bei dir wie immer. Wenn du aber mal wieder einen Ausflug mit uns machst, bist du dann wieder der Strunzer?«

»Ja, aber nur dann. Und nun werde ich sehen, wer von euch klug ist und wer dumm.«

»Wir sind nicht dumm«, riefen die Kinder, »morgen bist du wieder unser Herr Lehrer!«

Sie versprachen ihm sogar beim Abschied alle, von jetzt an recht fleißig zu lernen, denn sie hatten ihren Lehrer heute noch viel lieber gewonnen als bisher.

Als sie am späten Nachmittag heimkamen, hatte Rosemarie so viel zu erzählen, daß der kleine Plappermund nicht stillstehen wollte.

Aber auch Herr Frese berichtete lachend von dem schönen Ausflug und von dem Spiel mit den Kindern.

Der alte Scholmester Holsten wiegte bedächtig den Kopf: »Werden die Kinder Ihre Freundlichkeit auch nicht mißverstehen, mein junger Freund? Wird man Sie nicht morgen auch »Strunzer« nennen?«

»Ich glaube es nicht«, sagte Herr Frese, »ich kenne meine Heidekinder zu gut.«

Der alte Schulmeister sagte nichts dazu. In den nächsten Tagen würde es sich erweisen, wer Recht behielt.

Am anderen Morgen trafen sich die Kinder wieder auf dem Wege zur Schule.

»Ich habe eine Quietschflöte mitgebracht«, sagte Jan Krut, »damit quietsche ich dem Strunzer heute etwas vor.«

Die anderen blieben wie erstarrt stehen. Mit bösen Blicken funkelten sie Jan Krut an. »Was willst du machen?« fragte Rosemarie.

Jan Krut wurde verlegen.

»Du, ich verhau dich«, rief Hinnerich. »Heute ist er wieder unser Herr Lehrer und nicht mehr der Strunzer. Das haben wir ihm versprochen. Wir sind nicht dumm, wir wissen, daß ein Lehrer nur beim Ausflug ein Strunzer ist.«

»Ich verhaue dich auch«, rief Rosemarie.

Noch nie waren die Kinder so brav und folgsam wie in den nächsten Tagen. Mit Dank dachten sie alle an den herrlichen Ausflug zurück und an die Güte ihres fröhlichen Lehrers.


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