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Von Indianern, Räubern und vom Rübezahl

Anfang August war Jule, der Spielgefährte Pommerles, alltäglich ins Haus des Professors Bender gegangen und hatte bei Anna, dem Hausmädchen, angefragt, ob denn Pommerle noch immer nicht von dem gräßlichen Wasser zurückkäme.

Obwohl Anna dem fünfzehnjährigen Knaben mitteilte, daß Benders erst am zehnten August zurückkehrten, lief Jule häufig zum Bahnhof, paßte auf, wer mit den Zügen ankam, und ging, wenn er Pommerle nicht sah, enttäuscht heim.

Anna mußte mehrfach den erregten Knaben beruhigen. Als dann aber am zehnten August der Bescheid kam, daß Benders erst am elften August heimkehrten, wurde Jule geradezu wütend.

»Sagen Sie dem Professor, ich käme überhaupt nicht mehr her, er soll sich seine Steine alleine suchen. Er kommt morgen ja auch nicht!«

Dann zog Jule aus seiner Hosentasche eine Zuckerpfeife, pfiff darauf ganz entsetzlich und sagte schließlich verärgert:

»Dem Pommerle wollte ich sie schenken, aber nun esse ich sie selber.«

Am Abend umkreiste er mehrfach das Haus des Professors, immer wieder vor sich hinmurmelnd:

»Wozu bist du solch mächtiger Berggeist, Rübezahl, verekle ihnen doch die Ostsee. – Sie sollen hierbleiben. – Wenn ich doch nicht mit darf!«

Am nächsten Morgen war er schon zum ersten Zuge an der Bahn. Es kamen nur wenige Fahrgäste mit, und Jule schleuderte verärgert einen Stein gegen die Lokomotive, dann rannte er im Sturmschritt davon.

Der zweite Zug, der aus der entgegengesetzten Richtung kam, sah wieder den Jule auf dem Bahnhof. Und als Benders auch jetzt nicht kamen, lief er nach der Villa.

Anna war gerade damit beschäftigt, die Türschlösser zu putzen, denn alles sollte blitzblank sein. Höhnisch lachte Jule auf.

»Wozu machen Sie sich denn die Arbeit, die kommen ja doch nicht. Ich war schon am Bahnhof.«

»Aber, Jule, die Herrschaften kommen erst heute nachmittag gegen fünf Uhr.«

Endlich war es fünf geworden. Jule trat von einem Fuß auf den anderen. Um fünf Uhr sollten sie kommen, so hatte ihm die Anna gesagt, und nun kam überhaupt kein Zug. Aber jetzt sah er Anna langsam über den Platz vor dem Bahnhof kommen.

»Ich hab's ja gesagt, sie kommen überhaupt nicht,« schrie er ihr entgegen.

»Schwatz keinen Unsinn, Jule, in sieben Minuten sind sie da.«

Noch sieben Minuten! Diese kurze Zeitspanne schien dem Knaben eine Ewigkeit zu sein. Aber dann kam dampfend der Zug herein, Jule stürzte durch die Sperre.

»Deine Karte!«

Jule hörte nicht. Seine Augen hingen an der fauchenden Lokomotive. Ein Bahnbeamter trat an den Knaben heran.

»Du bist ohne Karte durchgelaufen.«

»Sie kommen – sie kommen!«

»Kommst du zurück!«

Da Jule ziemlich rauh angefaßt wurde, begann er sich energisch zu wehren. Aber der Knabe hatte jetzt an einem der Fenster sein liebes Pommerle erblickt, da war er nicht zu halten. Währenddessen verhandelte Anna, und man ließ Jule laufen.

»Pommerle, – Pommerle!«

Obwohl der Zug noch nicht hielt, war Jule schon auf das Trittbrett gesprungen.

»Jule!« jauchzte die Kleine.

Der Knabe riß die Tür auf, versperrte den Ausgang und sagte jubelnd: »Na, endlich bist du wieder da, ich warte schon seit Monaten auf dich. Nun fährst du doch nicht wieder weg? – Pommerle, die Katze hat Junge gekriegt, und ein weißes Karnickel habe ich jetzt auch.«

»Ach, Jule, – ich bin auf einer Bergbahn gefahren, immer 'rauf und 'runter, und dann habe ich mich in einem Spiegel gesehen – –«

»Nun, Jule, du siehst uns wohl gar nicht?« sagte Professor Bender.

»Jawohl, – und einen zweiten Karnickel soll ich auch noch bekommen. Meiner hat rote Augen.«

»Willst du uns nicht wenigstens aussteigen lasten, Jule?«

Da trat er vom Trittbrett herunter, faßte aber sogleich nach Pommerles Hand. Er schien zu fürchten, daß sie ihm wieder entschwinden könnte.

»Und jetzt mache ich ihm einen Stall mit einer Drahttür. Kommst du gleich mit, ich zeig' dir alles?«

Aber auch Pommerle hatte dem Gespielen sehr viel zu erzählen. Es drückte ihm fast das Herz ab, daß Jule noch nichts wußte von all den Wundern der Großstadt.

»Denk dir, Jule, ich habe Indianer gesehen – –«

»Mit ganz langen Ohren – – ganz weißen Ohren,– – fein, Pommerle.«

»Nein, sie hatten so kleine Ohren wie andere Menschen. Und die Türen in der Bahn gehen von alleine zu.«

»Ich will nur eine Tür machen, den Draht habe ich schon dafür. Und wenn der Karnickel 'raus will – –«

»Kommt jetzt, Kinder, wir können doch nicht bis zum Abend auf dem Bahnhof stehenbleiben.«

Wieder faßte Jule angstvoll nach Pommerles Hand und hielt sie krampfhaft fest.

»Nun, Jule,« sagte Frau Bender, »wie ist es dir denn in der Zeit ergangen?«

»Schlecht, – es hat sich keiner um mich gekümmert.«

»Du hast doch deine Mutter.«

»Nu ja, – aber die anderen, die fahren weg, – – und dann bleiben sie so lange. – Na ja!«

Das Gepäck wurde besorgt, Pommerle wies auf den Sandsack.

»Ich wollte dir so was Schönes mitbringen, Jule, so schöne Steine und so schönen Himbeersaft. – Nun ist alles weg.«

»Na irgendetwas wirst du doch für mich haben?«

»Nein, Jule.«

»Dann ist es ja gut, daß ich die Pfeife aufgegessen habe,« tröstete sich der Knabe.

Es war für Jule ganz selbstverständlich, daß er sogleich mit in die Villa des Professors ging. Benders hatten nichts dagegen, da sich die Kinder viel zu erzählen hatten. So einfach war das freilich nicht, denn jeder wollte seine Neuigkeiten zuerst loswerden. So schrien beide durcheinander, daß man nicht klug daraus wurde.

Als aber Pommerle jetzt von seinen Spielgefährtinnen, von Hella, Grete Bauer und Herbert Affmann berichtet, wurde Jule wütend.

»Das sind ja alles Gänse, – du sollst nicht mit denen spielen!«

»Der Herbert Affmann war zuerst unartig, er hat so viel gelogen – –«

»Mit so einem Jungen spielt man überhaupt nicht,« rief Jule, »du brauchst dich nicht belügen zu lassen, Pommerle. Du hättest mich schon mitnehmen sollen. Wir beide hätten viel schöner zusammen gespielt. Ich hätte dir hundert Schiffe gebaut – –«

»Das ist ja nicht wahr, Jule.«

»Wenn der Herbert oder die Grete 'mal herkommen, dann schmeiße ich sie 'raus.«

»Du, die Hella hat einen kleinen Wagen, mit dem kann man im Garten herumfahren, und ihr Vater hat ein Auto.«

»Ich kann dich auch 'rumfahren, ich hab' 'ne Karre. Wir wissen überhaupt viel besser zusammen zu spielen. Wir sind 'ne ganze Horde. Wir haben 'ne feine Wohnung, ganz im Stroh, in einem großen Strohschober.«

»Au fein!« Pommerle hatte schon im vorigen Herbst die hohen Strohmieten bewundert, die auf den Feldern zusammengestellt waren. In den Augen des Kindes waren das richtige Häuser, die man aus den ausgedroschenen Garben errichtet hatte, und manchesmal war Pommerle zu diesen Strohschobern hinausgelaufen, um sie anzustaunen. »Wo habt ihr denn die Wohnung?«

Jule berichtete erregt. Er und mehrere andere Mädchen und Knaben hatten sich solch eine große Miete ausgesucht, hatten Garben an der einen Seite herausgezogen und sich dadurch ein großes Loch geschaffen. Allmählich war dieses Loch erweitert worden, und jetzt bot es einen bequemen Aufenthalt für eine Schar von fünfzehn bis zwanzig Kindern.

»Wir spielen dort Räuber. Die Mädchen werden gestohlen, die machen sich jetzt in dem zweiten Strohschober ihre Wohnung. Wir umschleichen sie und nehmen sie gefangen.«

Pommerle war begeistert. Das würde ein feines Spiel werden.

»Kann ich da auch mitmachen?«

»Ja – aber die anderen Affen von deiner Ostsee dürfen nicht dabei sein. Wenn die kommen, lasse ich sie nicht mitspielen. Ich bin nämlich der Räuberhauptmann.«

»Und ich bin der Indianer! Ach, Jule, die Indianer waren so schön!«

»Gut,« sagte Jule, »dann bekämpfen die Räuber die Indianer. Komm 'mal gleich mit.«

Das wurde nun aber von Benders nicht erlaubt. Morgen war noch ein schulfreier Tag, da konnte Pommerle, nachdem es seine Schulsachen zurechtgelegt hatte, am Nachmittag mit Jule ausgehen. Heute sollte es daheim bleiben.

»Also morgen,« sagte Jule, »ich werde den Mädchen sagen, daß sie jetzt alle Indianer sein müssen. Mit den Prinzessinnen ist das nischt. Wir spielen Räuber und Indianer. Aber ich bin der Hauptmann.«

»Und ich bin die Indianerfrau-Hauptmann.«

»Meinetwegen. – Wenn ich dich besiegt habe, heirate ich dich.«

Pommerle schlug jubelnd in die Hände. Das würde ein herrliches Spiel werden. Jetzt mußte es daran denken, sich indianermäßig anzuziehen. Anna würde ihm gewiß helfen.

Jule blieb nicht mehr lange bei Benders. Er bildete sich ein, daß er für das morgige Spielen noch zu viel zu tun hätte, denn die Mädchen mußten unterrichtet werden, daß sie von nun an Indianer sein sollten. Wenn also morgen das Spielen begann, sollte ein regelrechter Kampf zwischen beiden Lagern stattfinden. Da die beiden Strohmieten auf dem Felde standen, das an einer Seite von einer breiten Landstraße begrenzt war, konnte man ungehindert lärmen und toben, denn der Lärm schallte nicht bis in die Wohnungen der Hirschberger.

In der alten vertrauten Umgebung hatte Pommerle seinen Abschiedsschmerz von der geliebten Ostsee bald überwunden. Es hatte so viel zu erzählen, und Anna hörte ihm willig zu. Manchmal stellte sie sich freilich ungläubig, aber Pommerle berichtete so lebhaft, daß Anna schließlich glauben mußte, daß es verhexte Wagen gäbe und daß es ganz hoch in die Berge mit einem kleinen Wagen gefahren sei.

Dann zog das Kind eine Zeitung hervor, legte sie vor Anna nieder, tippte mit dem Finger auf eine Stelle und sagte strahlend:

»Hat von dir schon 'mal eine Zeitung geschrieben? Lies 'mal, das hier bin ich.«

Anna las und lobte das beherzte Kind.

»Der Jule muß es auch wissen, das zeige ich ihm morgen.«

Am nächsten Tage ließ sich Pommerle von Anna, so gut es ging, ausschmücken. Anna flocht Pommerle aus bunten Federn einen Kopfputz, klebte aus Pappe und Silberpapier eine Axt, gab dem Kinde eine rote Schürze, die es sich um die Schultern hängen sollte, und ein blaues Band als Gürtel, in den die Streitaxt gesteckt werden sollte. Dann wurden aus Perlen zwei Ketten gefädelt, und der Indianer war fertig.

Pommerle wollte in diesem Schmuck durch die Straßen von Hirschberg gehen, doch Anna erlaubte es nicht.

»Du kannst dich draußen von deinen Indianern anziehen lassen. Das macht der Häuptling immer so.«

Das leuchtete dem Kinde denn auch ein.

Herr und Frau Bender hatten nichts dagegen, daß die Kleine mit den Schulkameradinnen draußen vor der Stadt spielte, doch wurde ihm eingeschärft, recht artig zu sein und pünktlich wieder heimzukehren.

Jule holte das Pommerle ab. Er trug ihm die Sachen, die das Kind sorgsam in der roten Schürze eingewickelt hatte. Auch Jule hatte sich noch Verschiedenes mitgebracht. Er hatte sich aus schwarzem Papier eine Gesichtsmaske gefertigt und in den Mundausschnitt eine lange, rote Zunge eingeklebt. Das gefiel der Kleinen derartig, daß sie sich für morgen etwas Ähnliches anfertigen wollte.

Auf dem Felde war eine Schar von etwa dreißig Kindern versammelt. Die merkwürdigsten Kostüme waren sichtbar. Jule hatte dafür gesorgt, daß jeder einen bunten Lappen umgebunden hatte; manche waren mit Holzschwertern erschienen, andere hatten Stöcke, einer der Knaben sogar eine Kinderpistole. Die Mädchen hatten bunte Schärpen, bunte Tücher, viele trugen Federn in den Haaren; die kleine Schar sah recht drollig aus.

Man führte Pommerle zu der Strohmiete. Hier hatten Kinderhände freilich eine arge Verwüstung angerichtet. Man hatte zahlreiche Garben herausgerissen und eine große Höhle geschaffen, in die sich die Menge hineindrängte. Die Garben lagen achtlos umhergeworfen auf der Stoppel. Alle Kinder schrien und lärmten durcheinander, aber Jule schrie am meisten.

»Wir sind jetzt Räuber und Indianer,« sagte er, »wir sind in der ganzen Welt gefürchtet. Wehe dem, wer sich unserem Lager nähert!«

Mit diesen Worten schwang er seinen Stock und rollte mit den Augen.

»Das ganze Gebirge, alle Straßen, alle Wälder gehören uns. Wir nehmen gefangen, wer uns nicht paßt!«

Einer der Knaben begann zu rufen: »Ich weiß was Feines! Wenn jetzt jemand auf der Straße kommt, stürzen wir mit Geschrei auf ihn los, dann bekommt er 'nen Schreck und rennt davon.«

Mit Jubel wurde dieser Vorschlag angenommen, und schon begaben sich zwei Knaben auf Späherposten.

»Dort kommt eine Frau,« schrie einer.

»Knechtsseelen,« rief Jule, »Untertanen, folgt mir! Auf zum Angriff! Aber nur bis zur Straße! Dann kehren wir zurück in unser Versteck, denn der Feind ist groß und stark.«

»O je,« sagte Pommerle, »es ist doch nur eine alte Frau, die wird aber erschrecken.«

»Jetzt ist sie gleich da,« rief der Späher.

»Auf, ans Werk, Räuber und Indianer, unser Kriegsruf lautet: I–u–a–hi–huuu–oaoa!«

Schon stürzten die ersten hervor. Pommerle nahm das große Kriegsbeil, schwang es in der Luft und schrie, so laut es konnte: »I–u–a–hi–!« Ein Höllenlärm ging los, als die Rotte von Kindern nach der Landstraße stürmte.

Das alte Weiblein, das einen Korb am Arme trug, begann laut zu schreien.

»Der Rübezahl – ist hinter mir her!«

»I–u–a–hi–huuu–oaoa,« tobte es.

Die Alte begann zu laufen. Da ließ Pommerle seine Streitaxt sinken.

»Ach je,« sagte es, »sie hat Angst, sie wird die Puste verlieren.«

Nochmals gellte der Schlachtruf, dann zog sich der lärmende Haufen wieder zurück.

Nun aber lachten sie alle, sie waren stolz auf ihre Heldentat. Der Überfall war gelungen, Jule erzählte von hundert Gefangenen, die man gemacht habe.

»Knechtsseelen, ihr habt eure Aufgabe glänzend gelöst, jetzt gilt es, noch mehr Gold und Silber zu erbeuten.«

»Da kommt ein Wagen,« rief einer der Knaben.

Es war ein Bauernwagen, auf dem mehrere Säcke lagen. Ein Schimmel zog das Fahrzeug.

Die Augen der Kinder glühten vor Begeisterung.

»Eine schwere Aufgabe steht uns bevor,« rief der Anführer Jule, »jetzt auf, ans Werk, Leute, ihr kennt eure Pflicht!«

Behutsam schlich man um die Miete herum, manche hockten sich hinter die umherliegenden Garben, denn noch war der rechte Augenblick nicht herangekommen. Man wollte dem Wagen gerade in die Flanke fallen. Der Mann auf dem Bocke saß mit gesenktem Haupt da, vielleicht schlummerte er sogar ein wenig.

Da sprang Jule aus. Zum Zeichen des Angriffs hob er den Stock, dann ertönte ein gellendes: »I–u–a–hi–uuuu–oaoa!« Pommerle war eine der ersten, die der Straße zustürmten.

Ein Höllenlärm ging los, als die Rotte von Kindern nach der Landstraße stürmte.

Der Fuhrmann schrak zusammen, riß die Zügel zurück, aber auch das Pferd war von dem plötzlich einsetzenden Geschrei gescheut, es bäumte sich hoch auf, nahm dann den Kopf nach vorn herunter, die Leine entglitt den Händen des Fuhrmannes, und während die Kinder ihr wildes Geschrei wiederholten, jagte das Pferd in schnellstem Galopp davon.

Die Kinder lachten und wollten sich nicht beruhigen. Dann befahl Jule den Rückzug. Aber schon wieder riefen einige Knaben:

»Da kommen drei!«

Es waren drei Herren, anscheinend aus Hirschberg, die einen weiteren Spaziergang gemacht hatten. Den Kindern war es höchst einerlei, wer des Weges kam. Der neue Überfall wurde vorbereitet, und wieder ging es mit dem Schlachtrufe zum Angriff vor.

Man hatte erwartet, daß die drei Herren ebenfalls Reißaus nehmen würden. Aber sie blieben stehen, einer von ihnen sprang über den Graben und hielt die zunächst Stehende fest. Das war Pommerle, das drohend seine Pappaxt gegen den Angreifer schwang, sie aber schon im nächsten Augenblick wieder sinken ließ, denn es hatte in dem Überfallenen seinen Lehrer Massow erkannt.

Daneben stand der Apotheker Lincke.

»O je – –.« Das war alles, was die Kleine zu sagen wußte.

»Was treibt ihr denn hier?«

Pommerle wandte sich hilfesuchend um, sah aber nur noch die eiligst davonlaufenden Kameraden, die im Innern der Strohmiete Schutz suchten.

»Ich bin der Indianerhauptmann,« sagte Pommerle leise.

Die drei Herren schritten über das Stoppelfeld der Miete zu.

»Sie kommen,« rief der Späher. Und schon brach der Haufen aus der Miete hervor, um nach rückwärts zu entfliehen.

Aber der Apotheker und die beiden Lehrer hatten doch mehrere der Kinder erkannt. Man rief sie an, und sehr langsam kamen sie zurück. Kein Heldenmut war mehr an ihnen zu bemerken. Im Gegenteil, sie machten den Eindruck der Besiegten.

»Schämt ihr euch nicht, solchen Höllenlärm zu machen und ahnungslose Spaziergänger zu erschrecken? – Wer hat denn diesen Unsinn angezettelt?«

Tiefes Schweigen herrschte.

»Wartet nur,« sagte der Lehrer Massow, »morgen werde ich der Sache weiter auf den Grund gehen. Ihr könnt das größte Unglück anrichten. Wer hat euch erlaubt, das Stroh so herumzuwerfen?«

Die Masken mußten abgenommen werden, die beiden Lehrer betrachteten sich die Missetäter eingehend.

»Da ist ja fast die ganze Klasse dabei,« sagte Herr Massow. »Morgen sprechen wir uns wieder.«

Damit hatte das herrliche Spiel ein rasches Ende gefunden. Die drei Herren gingen des Weges, nachdem Herr Apotheker Lincke gesagt hatte, daß er es dem Inspektor melden wolle, wie man den Strohschober zugerichtet habe.

Wortlos kroch ein Kind nach dem anderen in die Höhle hinein.

»Da kommt wieder eine Frau, eine ganz alte, die tut uns nichts,« sagte einer der Knaben. Aber weder der Räuberhauptmann noch der Indianerhäuptling verspürten noch Lust zu neuen Angriffen.

»Jetzt schickt er uns noch den Inspektor auf den Hals,« sagte Pommerle nach längerem Schweigen, »nun werden wir nochmals ausgezankt.«

Alle schauten ängstlich zu Boden.

Einer der Anwesenden machte den Vorschlag, die Spuren des Spieles zu beseitigen und die Garben in die Höhle zu schaffen.

»Wenn sie uns mit unseren Larven sehen?«

Jule war der erste, der seine Maskerade in die Miete legte, viele andere folgten seinem Beispiel, und auch Pommerle trennte sich schließlich von seinem schönen Pappbeil. Dann begann man mit der Arbeit. Die Kinder sammelten das Stroh zusammen, um damit die herrliche Wohnung wieder vollzustopfen. Alle waren eifrig an der Arbeit, dann aber mußte man sich eilen, um heimzukommen, da die Abendbrotstunde herannahte.

Auf der Landstraße gab es einen neuen Schreck. Um die erste Wegbiegung herum stand ein Wagen. Er hatte ein Rad zerbrochen. Er war anscheinend scharf gegen den Baum geschleudert worden. Einige Säcke lagen neben dem Wagen. Von Pferd und Fuhrmann war nichts zu sehen.

Einer flüsterte es dem anderen zu, daß das derselbe Wagen sei, den man vorhin überfallen habe. Wahrscheinlich war das Unglück geschehen, weil das Pferd scheu geworden war.

Eine Weile standen die Kinder stumm um den Wagen herum, dann gingen sie bedrückt weiter. So kam es, daß Pommerle sehr still und verlegen am Abendbrottisch erschien.

Während des Essens fiel Benders das verstörte Aussehen der Kleinen auf.

»Nun, Kind, hast du dich mit deinen Spielgefährten veruneinigt?«

»Nein,« sagte Pommerle, »aber mit dem Lehrer.«

»Was hast du denn getan?«

»Wirklich, Onkel, ich wollte ihn mit meinem Beile nicht erschlagen, ganz wirklich nicht – ich hab' nur so getan. Aber er hat geglaubt, ich wollte es tun.«

»Was wolltest du? Erzähle 'mal vernünftig, Pommerle.«

»Ich war doch der Indianeroberhäuptling, da mußte ich doch der erste mit dem Beile sein. Dann ist das Pferd durchgegangen, und nun hat der Wagen nur noch drei ganze Räder.«

Nach längerem Fragen erfuhr man von dem wahrheitsliebenden Kinde, was sich heute nachmittag zugetragen hatte.

Frau Bender schaute ihren kleinen Schützling sehr ernst an.

»Wer ersetzt jetzt dem Fuhrmanne den Schaden, mein Kind? War es recht, daß ihr die alte Frau so erschreckt habt und daß der Fuhrmann das Pferd nicht mehr halten konnte? Ist der Mann vielleicht selbst zu Schaden gekommen? – Hast du dir das alles überlegt, mein Kind?«

»Wir wollten doch unseren Spaß haben.«

»Das war ein schlimmer Spaß, Pommerle! Du siehst, was daraus geworden ist. Herr Massow wird euch morgen noch tüchtig bestrafen, und das mit Recht. Du darfst spielen, so viel du willst, mein Kind, aber Spiele, die andere schädigen, sind Unarten, und du solltest das nicht mitmachen.«

Dem kleinen Mädchen war das Herz heute recht schwer. An die üblen Folgen dieses schönen Spieles hatte es gar nicht gedacht. Der Wagen war entzwei, der arme Mann mußte ihn wieder ganz machen lassen. Es tat Pommerle bitter leid, derart gespielt zu haben.

»Was machen wir nun, Tante?«

»Das überlege dir selbst, mein Kind.«

»Kann ich mir zu Weihnachten was wünschen?«

»Das wird darauf ankommen, ob du artig oder unartig gewesen bist.«

»Wenn ich artig gewesen bin, dann schenke mir ein neues Wagenrad, aber schon recht bald, das machen wir dem Manne an den Wagen.«

»Du wirst heute sogleich nach dem Abendbrot zu Bett gehen, und morgen kannst du dir in der Schule die verdiente Strafe holen. Inzwischen wird sich der Onkel erkundigen, wer der Mann ist, den ihr so erschreckt habt.«

Von Herrn Apotheker Lincke erfuhr Professor Bender am Abend alles Nähere. Der Apotheker lachte allerdings herzlich über die übermütige Schar, bedauerte es freilich, daß der Überfall für den Fuhrmann und für die alte Frau Schauder schlimme Folgen gehabt habe. Frau Schauder sei so erschrocken gewesen, daß sie sich habe ins Bett legen müssen, die Tochter habe ihr Baldrian zur Beruhigung aus der Apotheke geholt.

»Der Fuhrmann hat allerdings größeren Schaden. Er hat es der Polizei gemeldet. Da werden Sie wohl in die Kasse greifen müssen, verehrter Herr Professor.«

»Es wird meinem Pommerle eine gute Lehre sein.«

Am nächsten Tage gab es in der Klasse eine Strafarbeit, ferner mußten die Kinder eine volle Stunde nachsitzen.

Das schmerzte Pommerle, denn es war das erstemal, daß ihm solch eine Strafe zudiktiert wurde. Darüber schämte es sich sehr.

Auch der Lehrer sagte den Kindern, daß der Fuhrmann die Polizei benachrichtigt habe.

Da wurden die Gesichter der Kleinen sehr blaß. Pommerle sah sich in Gedanken bereits im Gefängnis sitzen, und eine Träne tropfte aus seinen Augen.

Während des Nachsitzens schweiften Pommerles Gedanken hin zu Jule. Der war nicht mehr in der Schule, er hatte die Strafpredigt nicht mit angehört. Er würde nun sicherlich von der Polizei geholt werden. Vielleicht steckte man ihn schon jetzt ins Gefängnis. Das Herz der Kleinen schlug bis zum Halse hinauf.

Und nun geschah noch ganz etwas Schlimmes. Der Herr Direktor kam, Pommerle kauerte sich ganz zusammen. Es war doch schrecklich, daß der Direktor sah, daß es nachsitzen mußte. Das Kind hatte den größten Respekt vor dem Manne mit der goldenen Brille.

Er begann zu reden, sprach von dem Unfug, von dem angerichteten Schaden, den die Kinder dem Fuhrmanne und jener alten Frau zugefügt hatten.

»Der Fuhrmann verlangt, daß ihr ihm den Schaden ersetzt. Ihr werdet daheim den Eltern sagen, daß ihr Geld mitzubringen habt. Ich werde euch in den nächsten Tagen wissen lassen, was es kostet. Keiner von euch darf seinen Eltern verheimlichen, was er getan hat. Es bekommt jeder eine Notiz in sein Aufgabenheft. Eure armen Eltern müssen für eure Unarten nun noch Geld ausgeben.«

Pommerle wagte nicht mehr zu atmen. In ganz Hirschberg würde man wissen, was es getan hatte. Das war ja noch viel schlimmer als das mit dem Herbert Affmann. Vielleicht kam ihre Unart nun auch in die Zeitung, und dann wußte man es in der ganzen Welt, daß Pommerle mit daran Schuld hatte, daß der Wagen kaputtgegangen war.

Als die Stunde des Nachsitzens endlich vorüber war, verließen die Missetäter scheu das Schulhaus. Pommerle verbarg die Schulmappe, so gut es ging, weil es glaubte, daß ihm ein jeder ansehen mußte, daß es nachgesessen habe.

»Meine Eltern haben kein Geld zum Bezahlen,« sagte eines der kleinen Mädchen.

Und plötzlich, stand Jule mitten unter ihnen. Seit einer Stunde wartete er auf Pommerle.

»War's schlimm?«

»O ja,« sagte das Kind, »sehr schlimm! Sogar der Herr Direktor hat uns ausgescholten. Nun sollen wir Geld mitbringen, du mußt auch welches bringen – wir alle.«

So ein Rad kostete gewiß furchtbar viel Geld. Die Tante hatte erst neulich gesagt, daß alles sehr teuer sei und das Geld knapp wäre. Wenn man nur wüßte, wie man den Wagen ganzmachen konnte.

»Vielleicht der Rübezahl?« meinte Jule nachdenklich.

Die gesenkten Kinderköpfe hoben sich.

»Er könnte es schon, wenn er nur wollte. Er kann aus Steinen Gold machen, und Leuten, die ihn bitten, hilft er. Bald ist der Tag wieder da, an dem er kommt. Zu Bartholomäi macht er Hochzeit, dann ist er in besonders guter Laune. – Wenn er sich da rufen ließe?«

»Vielleicht bringt er uns dann gleich Geld mit, damit der Onkel nichts zu geben braucht.«

»Das macht er schon,« sagte Jule überzeugt, »man muß ihn aber rufen.«

Pommerle wandte sich an die Mitschülerinnen. »Wollen wir ihn rufen? Er hat mir schon einmal geholfen, ich habe mich 'mal verirrt. Da ist er gekommen und war sehr gut zu mir. Dann hat er mich zu Leuten getragen.«

Flüsternd berieten die Kinder. Jule erklärte aber, daß der mächtige Berggeist nur immer am Abend käme, und auch nur an einem Kreuzwege. Da müßte man des Abends hinausgehen, wenn der Mond voll am Himmel stände, dann dort drei Holzstäbe in die Erde stecken und dazu sagen: Rü–be–zahl!

Während man noch zusammenstand, kam um die nächste Ecke ein Polizist. Jäher Schrecken bemächtigte sich der Kinder, dann rannten sie wie gehetzt nach allen Seiten auseinander; man fürchtete, er käme schon, um die Missetäter einzusperren.

Atemlos kam Pommerle daheim an.

»Nachgesessen?« fragte die Tante ernst.

Pommerle nickte, die Tränen saßen ihm im Halse.

»Hole dir das Essen, Kind.«

Am heutigen Tage mußte Pommerle zum ersten Male allein sein Mittagessen verspeisen.


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