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Schlimme Folgen

»Geben Sie mir die Lütte nur ruhig mit, Frau Professor,« sagte Fischer Jäger, der eben im Begriff war, mit den Netzen hinunter zum Strande zu gehen.

Schon seit Tagen hatte Pommerle sehnsüchtig danach verlangt, wieder einmal in einem Fischerboot hinaus auf die See zu fahren, aber bis jetzt hatte sich noch keine Gelegenheit dazu geboten. Heute war Herr Jäger, bei dem Benders wohnten, zum Professor gekommen, hatte gesagt, daß er hinausfahre, um Netze auszulegen, und Pommerle hatte mit Bitten nicht mehr nachgelassen.

»Mit dem Vater bin ich auch hinausgefahren,« sagte es mit verschleierter Stimme, »liebe, liebe Tante, bitte, laß mich auf die See!«

»Der Lütten geschieht nichts, Frau Professor,« sagte Fischer Jäger, als Frau Bender noch immer zögerte. »Ich bin ja dabei, ich nehme meine kleine Nichte, die Grete Bauer, mit, das ist ein liebes, artiges Ding.«

»Ich weiß,« erwiderte Frau Bender, »und wann bringen Sie mir das Pommerle zurück?«

»In knapp zwei Stunden sind wir wieder hier. Ich lege heute die Netze nicht weit hinaus, es ist ja auch ganz ruhige See, dem Kinde geschieht wirklich nichts.«

Pommerle machte einen Luftsprung, als es die Erlaubnis erhielt.

»Zieh dir rasch dein Strickjäckchen an, Pommerle, denn auf dem Wasser ist es kühl.«

Die Kleine lief ins Zimmer, holte die Jacke, wollte gerade dem Fischer nacheilen, der bereits an seinem Boote stand und es fertig zur Fahrt machte, da blieb sie plötzlich stehen. Nachdenklich ruhten die Augen des Kindes auf dem Wasser, dann lief es hurtig zurück, um wenige Augenblicke später über den Strand zu stürmen, hin zu dem Boote Jägers.

Als der Kahn mit Hilfe eines zweiten Fischers vom Strande ins Wasser geschoben wurde, Pommerle und Grete saßen bereits darin, kam Herbert Affmann am Strande daher und rief mit weithin hallender Stimme:

»Nimm mich mit zum Netzesetzen!«

»Meinetwegen, steig mit ein.«

Pommerle musterte den Knaben mit einem finsteren Blick. Das Kind hatte ihm den Betrug mit den Blaubeeren noch nicht vergessen. Die Tante hatte Herbert ausgescholten; doch der hatte ziemlich dreist dreingeschaut und nichts darauf gesagt.

Pommerle rückte mit Grete zusammen, während sich Herbert ihnen gegenübersetzte.

In dem Kahne lagen die Netze. Wie häufig hatte Pommerle diese Netze schon gesehen. Auch der Vater war oftmals mit seiner kleinen Tochter hinaus aufs Wasser gerudert, er hatte die Netze ausgelegt, daß man nichts weiter von ihnen sah als nur ein winziges Fähnchen, das auf den Wellen tanzte. Das war das Zeichen, daß hier bereits ein Netz versenkt war.

»Ich habe was,« flüsterte Pommerle seiner Freundin zu.

»Schokolade?«

»Nein,« sagte Pommerle noch leiser, »ich habe für den Vater was mitgenommen. Er ist doch hier in der Ostsee ertrunken.«

Es zog unter seinem blauen Strickjäckchen einen vertrockneten kleinen Kranz aus Feldblumen hervor.

»Den habe ich zum Geburtstag bekommen, den hat mir die Tante um die Tasse gelegt. Wenn ich ihn ins Wasser werfe, werden die Blumen wieder frisch und fallen herunter, wo der Vater gewesen ist. Die Blumen schenke ich ihm.«

Dann beugte sich das Kind weit über den Rand des Kahnes, und mit dem Kränzchen fielen ein paar Tränen aus seinen Augen ins Meer. –

Fischer Jäger begann bald zu erzählen. Da wurde Pommerle ganz besonders aufmerksam, denn sie hörte, daß Herr Jäger bereits früher auf einem ganz großen Schiffe um die ganze Welt gefahren sein.

»O Hannchen, was habe ich da nicht alles gesehen! Wenn man immerfort weiterfährt, durch den Ozean, um einen anderen Erdteil herum und wieder durch den Ozean, kommt man schließlich zu den Negern. Das sind Leute, die kohlschwarz sind.«

»Sag 'mal, Onkel Jäger,« fragte Pommerle, das wieder nachdenklich vor sich hingeblickt hatte, »wenn sich so ein Neger 'mal mit der Nadel in den Finger sticht, – was kommt denn dann 'raus?«

»Blut.«

»Ja,« sagte Herbert, »dann kommt schwarzes Blut heraus, so schwarz wie Tinte, ich habe das 'mal gesehen.«

»Ist ja Unsinn, du Großmaul, der Neger hat genau so rotes Blut wie du und ich.«

»Nee,« meinte Herbert, »das können Sie uns nu nicht vorreden. Ich hab's doch schon gesehen, und so stimmt es.«

»Ihr seid gewiß klüger als der Herbert,« meinte Fischer Jäger zu den beiden Mädchen, »laßt euch nichts von ihm vorreden. – Und jetzt will ich meine Netze auslegen. – Aber hübsch ruhig sitzen bleiben!«

»Die paar Netze lohnen ja nicht,« brummte Herbert, »mein Vater hat tausend Netze.«

»Was dein Vater hat, weiß ich besser als du.«

Während der Fischer fürsorglich die Netze auslegte, wies Herbert ins Wasser und sagte: »Seht 'mal, da schwimmen tausend Flundern.«

Die Kinder beugten sich über den Rand des Kahnes, doch Herr Jäger befahl sofort, sie sollten ganz ruhig sitzen, sonst werfe er sie alle zusammen in die See.

»Ich hab' keine Angst,« sagte Herbert, »dann gehe ich zur Stine und sage ihr, was Sie gemacht haben. – Wißt ihr auch, warum die Flundern so platt sind?«

»Die sind immer so gewesen, schon als sie noch ganz klein waren,« meinte Pommerle.

Dann beugte sich das Kind weit über den Rand des Kahnes, und mit dem Kränzchen fielen ein paar Tränen aus seinen Augen ins Meer.

»Gelacht,« meinte Herbert wegwerfend, »die Flundern sind früher auch 'mal Heringe gewesen, aber die Stine hat auf dem Meeresgrund so 'ne Art Waffeleisen. Da legt sie die Heringe hinein – – patsch, drückt sie zu, und dann sind die Flundern fertig.«

»Ach nein,« erwiderte Pommerle energisch, »du lügst 'mal wieder, der Vater hat mir erzählt, die Flundern sind schon als ganz kleine Fischchen so platt.«

»Hast recht, kleine Hanna,« schmunzelte Fischer Jäger. »Der Herbert erzählt euch Märchen, dem müßt ihr nicht alles glauben.«

»Ich weiß eine viel schönere Geschichte, die hat mir Tante Berta erzählt, die hab' ich dem Onkel und der Tante wiedererzählt. Ich weiß, warum das Meerwasser salzig ist.«

»Nanu, Hannachen, das weiß ich ja nicht 'mal, und ich bin doch schon ein großer Mann.«

»Soll ich dir die Geschichte auch erzählen, Onkel Jäger?«

»Aber freilich, ich möchte doch gern wissen, warum wir Salzwasser in der Ostsee haben.«

Pommerle rückte in die Mitte der Bank, faltete die kleinen Hände zusammen und begann mit wichtigem Gesichtsausdruck zu erzählen:

»Es war einmal ein kleiner, artiger Junge, der war sehr arm, er hatte keinen Vater und keine Mutter mehr. Eines Tages weinte er viel. Da kam eine schöne Fee, die sagte ihm: ›Hier hast du eine Kaffeemühle, die schenke ich dir, und wenn du daran drehst und sagst: O Mühle, Mühle, dreh dich fein, es soll ein Haufen Zucker sein, dann kommt gleich aus der Mühle der Zucker heraus.‹«

»Das ist ja gelogen,« schrie Herbert.

Pommerle ließ sich durch diesen Zwischenruf nicht stören.

»Die Fee sagte wieder: ›Wenn du genug von dem Zucker hast, dann mußt du sagen: O Mühle, Mühle, halte ein, es könnte jetzt genug wohl sein.‹ Alles, was sich der kleine Junge wünschte, konnte er aus der Mühle herauskriegen. Da war der kleine Junge sehr froh, und eines Tages fuhr er in die weite Welt hinaus. Er hatte die Kaffeemühle unter dem Arm und ging durch eine große Stadt, in der hungerten alle Leute. Alles schrie: ›Gebt uns Brot!‹ Da setzte sich der Junge auf den Marktplatz, drehte die Mühle und sagte: O Mühle, Mühle, dreh dich fein, es sollen große Brote sein!«

»Wirklich, eine sehr schöne Mühle,« sagte Fischer Jäger. Lächelnd hörte er der Erzählung Pommerles zu.

»Jeder Mann und jede Frau bekam ein Brot, und alle schrien: ›Das ist ein guter Junge, der soll unser Bürgermeister werden!‹ Da wurde der kleine Junge der Bürgermeister von der großen Stadt. Und wenn seine Leute was brauchten, drehte er die Mühle. Dann ging es allen Leuten sehr gut. Eines Tages fuhr der kleine Junge, der jetzt ein Bürgermeister war, über das Wasser, denn er wollte 'mal nach seinem kleinen Häuschen sehen. Aber unterwegs sagte der Koch plötzlich: ›O je, nun ist das Salz in der Küche alle geworden.‹ – Da ging der Bürgermeister in seine Kammer, holte die Kaffeemühle und sagte: ›O Mühle, Mühle, dreh dich fein, es soll 'ne Menge Salz heut sein.‹

Aber der Koch hatte den Bürgermeister belauscht und dachte: das ist eine feine Mühle, die muß ich haben. Und als der Bürgermeister 'mal 'raus ging, kam der Koch, wupp, hatte er die Mühle unter dem Arm und trug sie in seine Kammer. Der Bürgermeister kam zurück und schrie und jammerte nach seiner Mühle; aber weg war sie.«

»Da hätt' ich doch das Schiff durchsucht,« meinte Herbert.

»Die Mühle aber drehte sich weiter, immer mehr Salz kam heraus, der Koch wollte sie anhalten, aber es ging nicht, weil er den Spruch nicht wußte. Da war die ganze Kammer bald voller Salz, der Koch lief erschreckt hinaus, doch die Mühle drehte sich weiter. Und bald war das ganze Schiff voller Salz. Da kriegte der Koch mächtige Angst und schmiß die Mühle ins Wasser. Dort liegt sie immer noch und dreht sich und macht Salz. Und das ganze Wasser ist darum so salzig.«

»Das war wirklich eine schöne Geschichte, Pommerle. – Aber konnte der Bürgermeister den Spruch nicht sagen?«

»Nein, der war wohl so erschrocken, daß er gar nichts mehr sagen konnte.«

»Das ist 'ne dumme Geschichte,« sagte Herbert. »Die Mühle ist ja gar nicht mehr auf dem Meeresgrunde. Als mein Vater neulich fischte, ist sie im Netz hängen geblieben.«

Fischer Jäger schüttelte den Kopf. »Freilich, Herbert,« sagte er ärgerlich, »du hast die Mühle, – sie steht wohl bei dir zu Hause?«

»Natürlich!«

»Dann wundert es mich, daß du sie noch nicht gedreht hast.«

»Das werde ich jetzt schon machen. Wir haben nur den Spruch noch nicht gewußt.«

Hanna und Grete hatten große Augen gemacht. – Konnte es möglich sein, daß man die Mühle herausgefischt hatte?

»Ist das wirklich dieselbe Mühle?« fragte Pommerle ungläubig.

»Freilich, – blau und silbern.«

»Ja,« sagte Pommerle erregt, »blau und silbern ist sie gewesen. Tante Berta hat mir mal 'ne Mühle gezeigt. Sie sagte, genau so sei auch die Wundermühle gewesen.«

Herbert begann eine neue Geschichte zu erzählen, denn er wollte wieder die Hauptperson sein. Doch Pommerle und Grete Bauer dachten immerfort an jene Mühle, die jetzt im Besitze Herbert Affmanns war. Ob er wohl erlaubte, daß sie daran drehten?

Die Netze waren fertig ausgelegt, Fischer Jäger wandte seinen Kahn und fuhr wieder dem Strande zu. Pommerle war schweigsam geworden, Unglauben und Hoffnung kämpften in ihm. Und als der Kahn endlich ans Land stieß, als die Kinder ausstiegen, drängte sich Pommerle hastig an Herberts Seite.

»Kann ich auch 'mal an der Mühle drehen?«

»Dann schenke mir die Schwimmente, die du zum Geburtstag bekommen hast.«

»Meine schöne Ente?«

»Du kannst dir dann von der Mühle 'ne andere wünschen.«

»Du hast mich auch nicht belogen?«

»Nein, die Mühle habe ich.«

Pommerle war noch nicht völlig überzeugt. »Bring doch 'mal die Mühle her. – Dann wollen wir dran drehen, ich weiß doch den Spruch.«

»Erst schenkst du mir deine Schwimmente.«

Wieder kämpfte Pommerle einen schweren Kampf. Die schöne Ente sollte es hergeben? Aber wenn sich die Mühle wirklich drehte, wollte es sich zehn neue Enten wünschen.

»Ich hole sie dir, und du holst die Kaffeemühle.

»Du darfst aber der Frau Pommerle nichts davon sagen,« rief Herbert der Davoneilenden nach. »Das darf niemand wissen, sonst geht die Geschichte nicht!«

Das war schade! Pommerle hätte sich so gern zuerst bei der Tante erkundigt, ob die Mühle auch wirklich die richtige Kaffeemühle wäre, die bisher im Wasser gelegen hatte. Auch wurde es ihm nicht leicht, ohne Erlaubnis der Tante die schöne Ente zu verschenken. Aber der Wunsch, die Wundermühle zu sehen, war so riesenhaft, daß Pommerle auch diese Bedenken beiseite schob und in raschem Lauf dem kleinen Hause zueilte.

Es hatte die Ente ergriffen, aber als es zurück zum Strande wollte, traf es mit der Tante zusammen.

»Schon wieder zurück, mein Kind? Ich glaube, du warst nun genug am Wasser.«

»Ich will nur – – ich möchte nur – –« Pommerle wußte nicht recht, was es sagen wollte, und wurde glühend rot.

»Die Ente schwimmen lassen?«

»Ja,« sagte das Kind mit niedergeschlagenen Augen, »ich bin gleich wieder da.«

»In zehn Minuten kommst du zurück, Pommerle.«

»Jawohl, Tante.«

Wie der Wind eilte die Kleine davon. Pommerle wußte genau, daß es in diesem Augenblick der Tante die Wahrheit verschwiegen hatte. Das drückte auf das kleine Herz. Aber Herbert hatte gesagt, es sollte schweigen, sonst würde sich die Mühle nicht drehen. – Ob der Herbert schon mit der Wundermühle zurück war?

Er war noch nicht da. Pommerle setzte sich in den Sand und fühlte sich sehr bedrückt. Es wäre wohl doch besser gewesen, wenn es der Tante alles erzählt hätte. Aber jetzt war es zu spät. Denn dort kam schon Herbert Affmann in schnellem Laufe daher, der etwas Blaues im Arme hielt.

Es war wirklich die Kaffeemühle, genau dieselbe, wie sie damals bei Tante Berta in der Küche gestanden hatte, nur daß die blaue Farbe noch mehr abgekratzt war als damals. Aber das kam wohl daher, daß die Mühle so lange im Wasser gelegen hatte.

»Nun dreh sie und sage das Sprüchlein.«

»Hast du die Ente mitgebracht?«

»Ja, – hier ist sie.«

Herbert steckte das Tier hastig in seine Hosentasche.

»Was willst du denn von der Mühle haben?« fragte er.

»Zehn Schwimmenten.«

Der Knabe nahm die Mühle zwischen die Knie, lachte verschlagen vor sich hin und sagte:

»O Mühle, Mühle dreh dich fein,
Im Hause von Pommerle sollen zehn Schwimmenten sein.«

Pommerles Augen hingen gespannt an dem Mahlkasten, aus dem nichts herauskam.

»Es kommt ja nichts?«

»Die sind bei dir zu Hause, – die liegen alle in deiner Kammer auf dem Tisch.«

Ungläubig schaute das Kind den Spielgefährten an. Da aber Herbert nochmals mit aller Bestimmtheit versicherte, daß die Enten daheim wären, verabschiedete es sich hastig.

Herbert warf sich lachend in den Sand, griff nach nassen Schlingpflanzen, die das Wasser herausgeworfen hatte, und als sich Pommerle nochmals nach ihm umwandte, warf er die unsauberen Pflanzen der Kleinen ins Gesicht.

»Pfui, du garstiger Junge!« sagte Pommerle und wischte sich hastig das Gesicht ab. Dann steuerte es dem kleinen Fischerhause zu.

Im Vorgarten traf es den Onkel. Pommerle wollte möglichst schnell an ihm vorübereilen, um in sein kleines Zimmer zu kommen und die Enten zu sehen. Aber Professor Bender hielt die Kleine an.

»So eilig?« Er faßte Pommerle an beiden Händen.

»Ich hab' heute mit dem Onkel Jäger gerudert und – und – –«

Pommerle schloß die Lippen fest. Erst mußte es die Enten haben, dann durfte es alles sagen.

Bender tippte mit dem Finger der Kleinen auf die Stirn.

»Was hast du denn da?«

Pommerle fuhr erschreckt zusammen. Heute hatte es die gute Tante belogen. Die Tante hatte gesagt, daß der liebe Gott jede Lüge den Kindern aus die Stirn schreibt.

»Was ist denn das hier, Pommerle?« Bender fuhr mit dem Finger über die Kinderstirn. Dort war ein Schmutzfleck von der geworfenen Schlingpflanze zurückgeblieben. Aber Pommerle dachte nicht daran, die Lüge fiel ihm schwer aufs Herz, und der Onkel würde von der Stirn jetzt alles ablesen, was geschehen.

Pommerle kämpfte mit den aufsteigenden Tränen.

»Aber, mein Goldkind, was hast du denn gemacht?«

Obwohl diese Worte in gütigem Ton gesprochen waren, glaubte Pommerle doch einen strengen Vorwurf daraus zu hören. Es hob das tränenüberströmte Antlitz empor und sagte unter lautem Aufweinen:

»Na, da lies 'mal, was da steht.«

»Was hast du denn, mein liebes Kind?«

»Ich wollte ja nicht lügen, – – aber ich wollte doch, daß sich die Mühle dreht, – nun steht alles auf der Stirn. – Ach, Onkel, ich bin so unartig!«

Professor Bender überlegte einen Augenblick. Auch er war dabei gewesen, als seine Frau dem Pommerle davon erzählt hatte, daß eine Lüge von der Stirn der Kinder deutlich abzulesen sei. Daß aber sein Pommerle eine Unwahrheit sagte, war ihm ganz etwas Neues. Doch die große Reue der Kleinen, die bitteren Tränen, ließen ihn nicht streng werden. Er nahm das weinende Kind in die Arme und sagte herzlich:

»Ja, mein Pommerle, wenn ein Kind lügt, sieht man es ihm sogleich an, dann sind auch die Augen nicht so klar wie sonst. – Und jetzt erzähle mir, welche Mühle sich drehen soll.«

Er hob das kleine Mädchen auf seine Knie und ließ sich alles berichten.

»Und das hat mein Pommerle geglaubt? Die Geschichte von der Mühle ist doch ein Märchen, mein liebes Kind. Solch eine Mühle gibt es nicht. Der Herbert hat gemogelt. – Du mußt ihm nicht alles glauben, Pommerle!«

»Aber wenn er immerzu lügt, muß er doch seine Strafe haben.«

»Jawohl, Pommerle,« sagte Herr Bender sehr ernst. »Wenn der Herbert weiter so lügt, wird die Strafe auch nicht ausbleiben. Dann wird es dem Herbert noch einmal sehr schlecht gehen. Die schlimmen Folgen bleiben niemals aus.«

»Ich hab' aber auch gelogen.«

»Ja, es ist das erstemal, und es darf nicht wieder vorkommen. Willst du das dem Onkel versprechen?«

Das Kind legte beide Arme um den Hals des Professors, schmiegte sich an ihn und sagte in feierlichem Ernst:

»Ich tu's nicht mehr, es hat mich auch so bedrückt, – sei nicht mehr böse, Onkel. – Willst du die Schwimmenten haben?«

»Die sind ja gar nicht da, mein Kleines. Komm, wir werden sogleich nachsehen. Der Herbert hat gewiß die Kaffeemühle seiner Mutter genommen und dir etwas vorgeredet.«

Die Enten waren wirklich nicht da. Und so konnte Hanna Ströde nur den Verlust ihrer einen Ente beklagen. Aber das Kind ging jetzt von selbst zur Tante und erzählte ihr alles.

Wieder füllten sich die Blauaugen mit Tränen, und wieder war es ihm sehr ernst mit dem Versprechen, nicht mehr zu lügen.

Als man beim Abendessen saß, verbreitete sich durch Neuendorf eine schlimme Kunde. Man erzählte, daß Frau Affmann von einem großen Unglück betroffen worden sei. Man habe die Verunglückte vor zehn Minuten ins Krankenhaus bringen müssen.

»Was ist denn geschehen?« forschte Professor Bender.

Fischer Jäger zuckte die Schultern.

»Man weiß nicht recht, wie es gekommen ist. – Die Frau war in der Küche und wollte von einem Brett eine Kanne herunternehmen. Dabei ist die eine Krampe, die das Brett hielt, herausgegangen, und der schwere Messingmörser, der auf dem Brett stand, ist der armen Frau auf den Kopf gefallen und hat ihr die Schädeldecke zertrümmert.«

»Ist diese Frau Affmann die Mutter von dem Knaben, der mit unserem Pommerle so oft zusammen ist?«

»Ja, die Mutter des Herbert Affmann.«

Pommerle hatte diese Unterredung mit angehört. Das Kind machte ängstliche Augen. Es begriff nur, daß man Herberts Mutter ins Krankenhaus gebracht hatte und nun große Gefahr bestand, weil man fürchtete, daß sie sterben könnte.

»Weint der Herbert?« fragte Pommerle.

»Er wird natürlich sehr traurig sein, mein Kind.«

»Oh, dann ist es doch gut, daß ich ihm meine Schwimmente geschenkt habe. Dann kann er sich darüber freuen.«

Nach dem Abendessen nahmen Benders ihr Pommerle an die Hand und gingen noch ein wenig hinunter an den Strand. Es war heute ein gar so schöner Abend. Man wanderte immer weiter, bis an den Rand des Waldes.

»Nun wollen wir umkehren,« sagte der Professor. Aber plötzlich horchte er auf. Hinter einem Baume schlug heftiges Kinderweinen an sein Ohr. Auch Frau Bender und Pommerle hatten es gehört. Alle drei blieben stehen.

Der Professor ging der Stimme nach. Da saß Herbert Affmann zusammengekauert, beide Hände vor das Gesicht geschlagen.

»Ach, du bist es, mein lieber Junge.«

Obwohl Professor Bender den vorlauten Knaben nicht gut leiden mochte, empfand er doch tiefes Mitleid mit dem Kinde, da er wußte, daß man dessen schwerkranke Mutter heute fortgebracht und der besorgte Fischer sein Weib begleitet hatte. Nun war Herbert allein in dem kleinen Hause zurückgeblieben und in seiner Angst und Verlassenheit hierher gelaufen, um sich auszuweinen.

»Sei nicht traurig, mein Junge,« tröstete ihn der Professor, »es wird alles wieder gut werden. Die Ärzte sind geschickte Leute, die machen deine Mutter bald wieder gesund.«

Aber Herbert wollte keinen Trost hören. Er weinte nur noch verzweifelter und bohrte die schmutzigen Finger in die Augen.

»Komm ein Stückchen mit uns, Herbert.«

Auch Pommerle war herangetreten. Es tat ihm so leid, wenn jemand weinte.

»Kannst auch meine Schwimmente behalten,« sagte es mit kindlicher Zärtlichkeit in der Stimme.

»Ich will sie nicht,« rief Herbert leidenschaftlich und warf sich der Länge nach auf die Erde, »ich will gar nichts, – die Mutter soll zurückkommen!«

»Sie wird wiederkommen, Herbert, zuerst muß sie freilich wieder gesund werden.«

Der Schmerz des Knaben legte sich nicht. Professor Bender richtete ihn auf, sprach ihm tröstend zu; und da kam schließlich alles aus dem Kinderherzen hervor, was ihm so große Qualen bereitete.

»Ich wollte die Kaffeemühle vom Brett nehmen und hab' mich daran gehängt, weil ich sie sonst nicht bekam. Ich hab 'nen Klimmzug gemacht. Dabei wird der Haken wohl locker geworden sein und – – als dann die Mutter kam – – als die Mutter kam – –«

Er konnte nicht weiterreden vor Schluchzen.

»Dann ist alles heruntergefallen,« fuhr Professor Bender fort, »und der schwere Mörser fiel deiner armen Mutter auf den Kopf. – Weil du die Kaffeemühle haben wolltest, Herbert, weil du dem Pommerle vorgelogen hattest, daß die Mühle eine Wundermühle ist.«

»Weil ich gelogen habe – –«

»Ja, Herbert, nun hat dir der Himmel die Strafe geschickt. – Aber höre auf zu weinen. Wenn du diesen schlimmen Fehler ablegst, wenn du in Zukunft versuchst, brav zu sein und nicht mehr zu lügen, wird das deiner Mutter helfen.«

»Ich will heimgehen,« sagte Herbert, »meine Tante Pauline ist da. Ich werde ganz gewiß nicht mehr lügen, – aber die Mutter soll gesund werden.«

Man brachte Herbert Affmann bis zu dem kleinen Hause seiner Eltern. Dort nahm ihn eine alte Frau in Empfang.

Sehr schweigsam ging Pommerle heute zu Bett. Am Himmel strahlten die ersten Sterne auf. Aber Pommerle fand heute keine Ruhe. Es wälzte sich unruhig umher, bis schließlich die Tante bei ihm erschien.

Pommerle hatte die Vorhänge am Fenster nicht geschlossen, es schaute hinaus zu den funkelnden Sternen.

»Kannst du heute gar nicht einschlafen, mein kleiner Liebling?«

Pommerle hatte die Vorhänge am Fenster nicht geschlossen, es schaute hinaus zu den funkelnden Sternen.

»Jeder Stern ist ein Auge von einem toten Menschen?«

»Durch die Sterne schauen die Verstorbenen zu uns herab.«

»Und der Vater hat auch solch einen Stern zum Gucken?«

»Ja, mein Kind.«

»Dann zeig mir doch den Stern vom Vater?«

»Den weiß ich nicht, mein Kleines, aber einer dort oben ist es. Dadurch schaut er auf sein kleines Mädchen herunter und winkt ihm freundlich zu.«

Pommerles Augen suchten am Himmel umher.

»Tante, – jetzt weiß ich, dort ist das Auge vom Vater!« Das Kind wies auf einen der größten Sterne des nächtlichen Himmels. »Sieh doch, wie der Stern blinkert. – So hat der Vater auch manchmal mit den Augen gezuckt.«

»Jetzt schlafe ein, mein Kleines, – denke noch einmal über den heutigen Tag nach, dann wirst du bald schlafen.«

»Tante,« – Pommerle umschlang nochmals die sich zu ihm Niederneigende, »ich will lieber an einen anderen Tag denken. Heute war es nicht schön.«

»Deine Lüge ist verziehen und vergessen, mein Kleines. Beim Herbert hast du gesehen, was für schlimme Folgen es haben kann. – Und nun schlafe ein und träume süß!«

Frau Bender ging hinaus.

Aber Pommerle lag noch ein Weilchen mit offenen Augen im Bett und blinzelte den leuchtenden Stern an. Das war ein neckisches Spiel, wenn es versuchte, mit den Augen auch so zu zucken, wie es der Stern tat. Dann wurde es müde, streckte die Hände nochmals empor und sagte leise:

»Gute Nacht, lieber Vater, – guck 'mal nicht zu lange herunter, geh lieber auch bald schlafen!«


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