Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Pommerle macht von sich reden

Die See zeigte heute ein böses Gesicht. Weit auf den Strand hinauf liefen die Wellen, nahmen den weißen Sand mit sich und rissen ihn zurück in die brodelnde Flut. Dort, wo das Wasser gegen die Steine des Ufers schlug, zischte es hoch auf, ein Sprühregen ergoß sich, neue Wellen lösten die alten ab, es schien, als sei das Meer von unsichtbaren Händen aufgewühlt.

Pommerle saß andächtig im Sande und betrachtete das wunderbare Schauspiel. Es war dem Kinde nichts Neues, aber es freute sich immer wieder daran, wenn sich das Wasser mit weißen Schaumköpfen krönte.

»Das Meer kocht über,« sagte Pommerle dazu und wünschte, daß es immer so bleiben möge. Freilich, an solchen Sturmtagen durfte es nicht ins Wasser hinein. Das hatten Onkel und Tante streng verboten. Trotzdem gab es vorwitzige Kinder, die nach den heranstürmenden Wellen haschten, die sich laut schreiend und lachend umwerfen ließen, um dann vollkommen durchnäßt wieder an den Strand zu klettern.

Seit einigen Tagen hatte Pommerle eine neue Spielgefährtin gefunden. Hella Wangler war eine Berlinerin, die mit den Eltern in Neuendorf während der Ferien weilte. Pommerle hatte das kleine Mädchen zuerst vor dem Zirkus gesehen, man hatte sich am nächsten Tage am Strande getroffen und noch viel von der Vorstellung erzählt. Hella meinte zwar, sie habe schon 'mal einen viel schöneren Zirkus gesehen, aber sie ließ es gelten, daß das weiße Pferd und das rosa Mädchen etwas ganz Besonderes gewesen wären.

Auch jetzt hatte sich Hella Wangler wieder zu Pommerle gesellt; die beiden Kinder saßen im Sande und schauten hinaus auf das brandende Meer.

»Ich wollte, ich wäre ein Fischer,« sagte Hella, »dann könnte ich mit dem Schiffe in das wilde Wasser hineinfahren. Die Jungen haben es doch viel besser als wir Mädchen.«

»Aber wenn du ein Junge bist, kannst du keine Zirkusreiterin werden, und das ist das Schönste,« meinte Pommerle.

»Ach, dann werde ich ein Clown, der immerzu Späße macht. – Ich möchte doch lieber ein Junge sein.«

Gegen Mittag flaute die See ein wenig ab, das Wasser wurde ruhiger, und am Nachmittag gestattete man dem Kinde, wieder an den Strand zu gehen.

Pommerle tat sehr geheimnisvoll. Es hatte schon vor Tisch aus dem Stanniolpapier seiner Schokolade allerlei Sterne ausgeschnitten, dann war das Kind zu Frau Jäger gegangen, hatte leise mit ihr verhandelt, und nach dem Essen ging die Kleine, einen Besen in der Hand, ein kleines Bündel unter dem Arm, hin zu dem aus dem Wasser aufragenden Steine.

Heute wollte man besonders schön spielen, denn auch Hella hatte sich bereit erklärt, Zirkus mitzumachen.

Die beiden Kleinen trafen sich. Der Besen wurde nun in den Sand gesteckt, der Bindfaden daran befestigt, dann begann die Toilette der beiden Mädchen. Sie wollten sich schön machen, um jener Zirkusreiterin zu gleichen. Hella hatte ein Sprungseil mitgebracht, wie man es bei dem rosa Fräulein gesehen hatte, Pommerle wickelte die Decke seines Puppenwagens aus, die aus Tüll angefertigt war. Mit Hilfe eines bunten Bandes band es die Decke am Kopfe fest, daß sie wie ein Schleier nach rückwärts herunterhing. Dann kam ein Stück alte Gardine hervor, das legte sich Pommerle um die Schultern, und daran befestigte das Kind mit Hilfe von Stecknadeln die silbernen Sterne, die es ausgeschnitten hatte. Auch Hella putzte sich mit einigen Bändern und einer Küchenschürze, so gut es ging, heraus, dann watete Pommerle durch das Wasser und bestieg den Stein.

Nun begann das Spiel. Hella war der Stallmeister, der das edle Roß mit lautem Hü und Hott anfeuerte, Pommerle aber sprang auf dem schlüpfrigen Steine umher. Bald hüpfte es auf einem Bein, streckte einen Arm hoch in die Luft, dann kauerte es sich zusammen, sprang auf, winkte und nickte dem nicht vorhandenen Publikum freundlich zu; und als Hella schließlich laut klatschte, verneigte sich Pommerle nach allen Seiten.

»Jetzt das Springseil,« rief Hella und schleuderte der Spielkameradin das Seil zu.

Pommerle ergriff das Seil, schwang es, sprang darüber, noch einmal, während Hella immer eifriger Hü und Hott schrie.

Da – ein lauter Aufschrei, Pommerle war ausgeglitten, fiel auf den feuchten Stein und schlug so unglücklich auf, daß ihm gleich zwei Zähne aus dem Munde flogen und die kleine Nase heftig zu bluten begann.

»Ein Zirkusunglück,« sagte Hella, »komm rasch 'mal 'rüber und halte den Kopf zurück, dann wird es gleich wieder gut.«

Und nun sah die Freundin, was geschehen war.

Pommerle hatte sich recht kräftig aufgeschlagen. Sogar die linke Wange war zerschrammt und schmerzte tüchtig. Das Kind verbiß sich aber tapfer den Schmerz und meinte nach einer Weile, es würde schon besser werden. So legte sich Pommerle in den Sand, um das Nasenbluten zu stillen, während Hella nun auch ihrerseits ihre Zirkuskünste zeigen wollte.

Der Stein war bald erreicht. Aber Hella war nicht so an die schlüpfrige Unterlage gewöhnt wie Pommerle, schon im nächsten Augenblick glitt die Kleine rücklings herab und fiel kopfüber ins Wasser.

Die wilde See hatte am Vormittag auf der einen Seite den Stein stark unterwühlt, den Sand fortgewaschen, so daß an der Stelle, an der Hella ins Wasser glitt, ein tiefes Loch entstanden war. Hella hatte somit keinen Grund unter den Füßen, sank sogleich unter, wurde aber von einer Welle wieder aufwärts gerissen und ein beträchtliches Stück mit hinaus in die See geworfen.

Ein wilder Schrei kam von den Lippen der Verunglückten. Pommerle, das die Augen geschlossen hatte, richtete sich bei dem Schrei sofort auf, sah den leeren Stein, hörte den lauten Schrei und bemerkte, wie die Freundin mit den Wellen rang.

Ein jäher Schreck erfaßte die Kleine. Pommerle wußte, daß Hella nicht schwimmen konnte, das Kind selbst vermochte es auch nicht. Hella war aber schon so weit vom Strande abgetrieben, daß Pommerle die Spielgefährtin nicht mehr erreichen konnte, auch wenn es sich mit den Füßen ins Wasser wagte.

»Ich ertrinke – ich ertrinke!« schrie Hella in größter Angst.

Pommerle sah, daß sich eine neue Welle heranwälzte – sie trieb Hella glücklicherweise weiter nach vorn. – Pommerle lief ins Wasser, streckte die Hand aus; aber schon wieder hatte die Welle die Verunglückte fortgerissen.

Obwohl das Blut dem kleinen Pommerle noch immer aus der Nase tropfte, suchte das kleine Mädchen nach einem rettenden Ausweg.

»Leute – Leute, wir ertrinken!« rief Pommerle ganz laut. So ertönte das Rufen der beiden Kinder zusammen. »Kommt doch, Leute!« Pommerle ließ nicht nach mit Schreien. Aber nur in weiterer Entfernung sah es einige Spaziergänger.

Was jetzt tun? Mit den Händen wischte sich die Kleine das rinnende Blut ab, die Augen glitten suchend umher. Da stand der Besen – dort lag das Sprungseil. Pommerle ergriff beides. Den Besenstiel in der einen Hand, das Ende des Seiles in der anderen, wagte es sich erneut ins Wasser hinein.

»Greif doch!« rief das verängstigte Kind der mit den Wellen kämpfenden Hella zu.

Hella streckte die Hände aus, fast hätte sie den Besen ergriffen, aber es gelang doch nicht.

»Leute – Leute, wir ertrinken!«

Die Wellen kamen und gingen, Hella war bald näher, bald weiter. Wenn man den Besen verlängern könnte – aber wie? Pommerle nahm das Seil und band es um den Besenstiel, dann warf es erneut den Besen aus. Jetzt – jetzt hatte Hella den Stiel erfaßt.

Es brauste in Pommerles Ohren – Hella hatte den Besen; aber als Pommerle diesen jetzt mit dem Strick ans Ufer ziehen wollte, glitt das Seil von dem Besenstiel ab. – Da lief Pommerle, ohne noch lange zu überlegen, tief ins Wasser hinein, es wollte den Besenstiel erfassen, es mußte Hella damit ans Land ziehen. – Das Wasser ging ihm plötzlich bis zu den Schultern, es war ihm, als schwinde ihm der Boden unter den Füßen – da – jetzt hatte es den Stiel ergriffen.

»Halt den Besenstiel fest – –« das war das letzte, was aus Pommerles Munde kam, dann war es selbst versunken.

Die Spaziergänger hatten die lauten Rufe des Kindes vernommen. Sie waren aufmerksam geworden. Ein Herr und eine Dame hatten das gefährliche Rettungswerk erschaut und eilten nun in raschem Laufe über den Strand.

»Wir kommen schon!«

Aber Pommerle hatte in seiner übergroßen Angst den Ruf nicht gehört, es vernahm auch nicht mehr die herankommenden schnellen Schritte der beiden, es galt jetzt, den Besen festzuhalten – doch das Wasser reichte schon bis zum Kinn.

Der Herr warf die Jacke und die Weste ab, beides flog in den Sand, riß die Schuhe von den Füßen und sprang ins Wasser.

»Halt den Besenstiel fest –« das war das letzte, was aus Pommerles Munde kam, dann war es selbst versunken.

Für einen Erwachsenen war das Rettungswerk hier nicht schwer, zumal dann nicht, wenn man schwimmen konnte. Außerdem war verschiedentlich noch Grund vorhanden, es gab hier nur vereinzelte tiefere Stellen im Meeresgrunde. Der Herr, der sich so mutig hineinstürzte, hatte zuerst Hella ergriffen, die ihn begleitende Dame holte das Kind vollends heraus, dann tauchte der Retter unter und brachte auch Pommerle ans Land.

Während Hella vor Aufregung und Angst ohnmächtig wurde, hatte Pommerle seine Besinnung behalten. Ganz schuldbewußt schaute es drein, denn wieder einmal war das Kleid vollkommen naß. Dazu kam, daß auch jetzt wieder das Blut aus der Nase floß und alles beschmutzte.

Pommerle zog die Schultern zusammen und sagte gar nichts. Es fiel ihm schwer aufs Herz, daß Onkel und Tante heute mittag warnende Worte zu ihm gesprochen hatten.

»Sei recht vorsichtig, Kind, wenn du am Strande bist, und spiele nicht immer so wild, du wirst dir noch einmal das Gesicht zerschlagen.«

Und Pommerle hatte darauf geantwortet, daß es sehr brav sein wolle. – Und nun?

Übermütig und wild war es auf dem großen Steine umhergesprungen und hatte Hella dazu verleitet, ein Gleiches zu tun. Zwei Zähne hatte es sich ausgeschlagen und die Wange stark zerkratzt. Was würden Tante und Onkel dazu sagen?

Allmählich hatten sich immer mehr Sommergäste angesammelt.

»Vor allem müssen wir die Kinder heimbringen, daß sie sich nicht erkälten.« Die hilfreiche Retterin bemühte sich um Hella, die sehr bald wieder die Augen aufschlug. Man rieb die Kinder so gut es ging, trocken und fragte, wo sie wohnten. Hella wies auf eines der Häuser, und zwei Damen führten die Gerettete fort.

Die Kunde, daß zwei Kinder im Wasser verunglückt seien, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Neuendorf. Alles strömte zum Strande, gerade in dem Augenblick, als Pommerle neben einer Dame dem Jägerschen Hause zueilte. Gar jämmerlich sah die Kleine aus. Die gehabte Aufregung hatte das frische Gesichtchen erblassen lassen, noch immer blutete die Nase, und auch das zerschrammte Gesichtchen bot keinen schönen Anblick.

»Die Kleine hat dem anderen Mädchen das Leben gerettet,« sagte erklärend die Begleiterin Pommerles. Eine beträchtliche Menschenmenge folgte dem Kinde, das mit gesenktem Köpfchen den Vorgarten betrat.

Herr und Frau Professor Bender eilten erschreckt heraus.

»Pommerle, was ist mit dir geschehen?«

»Sie haben ein heldenhaftes Töchterchen, gnädige Frau! – Wäre die Kleine nicht gewesen, hätten wir einen Todesfall.«

»Aber, Pommerle, wie siehst du denn aus? Komm, rasch zu Bett mit dir!«

Während Frau Bender das schweigsame Kind in den Arm nahm und fortführte, ließ sich der Professor erzählen, was sich soeben ereignet hatte. Er vernahm, daß Pommerle ein kleines Mädchen, das mit den Wellen gekämpft habe, mit eigener Lebensgefahr und mit Hilfe eines Besens, den das kluge Kind ins Wasser geschleudert hätte, vor dem Ertrinken bewahrt habe. Dabei sei das kleine Ding selbst in Lebensgefahr gekommen. Bei seinem Rettungswerk habe es sich anscheinend verletzt, doch habe es darauf gar nicht geachtet, sondern sei als kleine Heldin tapfer ins Wasser gegangen und habe immer wieder versucht, der Ertrinkenden beizustehen.

Und andere erzählten, daß Pommerle zur Lebensretterin der kleinen Hella geworden sei, daß es bei seinem Rettungswerk von spitzen Steinen verletzt worden wäre, daß es dabei seine Zähnchen eingebüßt habe, daß es ein gar tapferes und überlegtes Kind wäre, das keinen Augenblick den Kopf verloren habe.

Gerührt und sehr stolz hörte Professor Bender die Worte mit an. Es freute ihn, daß sein Pommerle sich so überlegt gezeigt hatte. Natürlich war es das Richtigste gewesen, einem Ertrinkenden etwas zuzuwerfen, wenn man ihn aus den Fluten retten wollte und selbst dazu nicht in der Lage war. Bei diesem Liebeswerk hatte sich sein kleiner Liebling verletzt. Jetzt wollte er dem kleinen Ding auch eine ganz besondere Freude bereiten, denn es war immerhin eine bedeutungsvolle Tat gewesen.

Er ging hinein. Die anderen Leute standen draußen in Gruppen zusammen, sprachen von dem tapferen Pommerle und seinem Rettungswerk.

Pommerle war inzwischen von der Tante zu Bett gebracht worden. Frau Bender hatte den kleinen Körper kräftig mit Frottiertüchern abgerieben, sie sorgte sich um ihr kleines Mädchen. Pommerle sah gar so blaß und verstört aus. Das Nasenbluten ließ sich bald stillen, bedauernd schaute Frau Bender auf die große Zahnlücke und die stark zerschundene Wange.

»Mein tapferes Mädchen!« Zärtlich strich sie über das Blondhaar der Kleinen.

Pommerle schluckte mehrmals kräftig. Es sah aus, als wollte es etwas sagen, es verzog das Gesichtchen, man hätte meinen mögen, es wolle weinen.

»Nein, nein, mein kleiner Liebling, jetzt sollst du mir gar nichts erzählen. – Zunächst ganz ruhig liegen und kein Wort sagen. – Ich weiß schon alles – oh, die armen Zähnchen.«

»Tante – – Tante – –«

Frau Bender drückte dem Kind einen Kuß auf die Stirn.

»Ganz ruhig liegen, sonst kommt das Nasenbluten wieder.«

Da trat der Professor ein. Er griff nach Pommerles Händchen und tätschelte sie.

»Ordentlich stolz kann ich auf mein Mädelchen sein.« Er wandte sich an seine Frau. »Höre, was sie mir draußen erzählt haben. Unsere Hanna hat ein kleines Mädchen aus dem Wasser gezogen – mit eigener Lebensgefahr – dabei hat sie sich die Zähne ausgeschlagen, an den Steinen das Gesicht zerrissen. Sie wollte helfen und hat an nichts gedacht. – Bist ein gar wackeres Kind, mein liebes Pommerle, es ist sehr brav von dir, daß du nur daran gedacht hast, der Spielgefährtin zu helfen. Dafür erträgst du auch die Schmerzen gern.«

»Ich hab' ja gar nicht – – ich bin – –« Nun begann Pommerle bitterlich zu weinen.

Frau Bender legte beschwichtigend die Hand auf die Stirn des erregten Kindes.

»Wirst doch nicht weinen, kleine Heldin – wir freuen uns alle über unser mutiges Töchterchen.«

»Und eine ganz besondere Belohnung gibt es auch noch dafür,« ergänzte der Professor.

»Weil die Nase blutet und die Zähne fort sind?« fragte das Kind heftig schluchzend.

»Nein, weil du die kleine Hella aus dem Wasser gerettet hast. – Und für die ausgeschlagenen Zähne gibt es auch noch was.«

»Da müßt' ich,« weinte Pommerle, »da müßt' ich – – ach – da müßt' ich Prügel für kriegen.«

»Du sprichst noch nicht, Pommerle! Du machst jetzt die Augen zu, legst dich ruhig hin, bewegst auch das Köpfchen nicht, ich koche dir einen heißen Tee, denn die kleinen Hände sind eiskalt. – Du versprichst mir, daß du ganz ruhig liegen bleibst!«

»Ich möchte aber so gern noch was erzählen.«

»Nein, das kannst du uns später erzählen. – Jetzt bleibst du ganz ruhig liegen. – Bist doch unser artiges Kind, und nachher bringe ich dir den Tee.«

Herr und Frau Bender entfernten sich. Sie standen zusammen in der kleinen Küche und sprachen flüsternd miteinander.

»Hoffentlich hat ihr die Aufregung nichts geschadet! – Mein Himmel, was wäre geschehen, wenn nicht im letzten Augenblick jemand zu Hilfe gekommen wäre. Erkundige dich nur nach dem freundlichen Retter. Wie konnte sich die kleine Hella nur so weit ins Wasser wagen.«

In der nächsten Stunde war es sehr unruhig im Jägerschen Hause. Es kamen allerhand Neugierige, die das kleine, tapfere Mädchen sehen wollten, andere verlangten zu hören, wie sich alles abgespielt habe, und wieder andere wollten Benders erzählen, was vorgefallen sei.

Man erfuhr, daß Pommerles Lebensretter ein junger Student gewesen sei, der auch als Sommergast in Neuendorf weilte. Es war für Herrn Bender nicht schwer, die Adresse des jungen Mannes zu erfahren; er nahm sich vor, ihn noch heute aufzusuchen, um ihm zu danken.

Zu allererst aber wollte er seinem tapferen Pommerle eine Freude bereiten. Das geschah wohl am besten, wenn er der Kleinen eine große Tüte mit Süßigkeiten kaufte. Die hatte sich die kleine Lebensretterin verdient.

Währenddessen lag Pommerle mit offenen Augen im Bett und blickte gedankenvoll zur Zimmerdecke empor. Man lobte es, weil es sich Mühe gegeben hatte, die kleine Hella aus dem Wasser zu ziehen. Man glaubte aber auch, daß es sich dabei das Gesicht beschädigt und die Nase verletzt hatte. Es bedrückte Pommerle, daß es diesen Glauben der Tante noch nicht zerstört hatte, daß es seine eigene Unfolgsamkeit noch nicht eingestehen konnte. Aber die Tante hatte gesagt, es solle zunächst still und ruhig liegen bleiben, späterhin möge Pommerle alles erzählen.

Ob Hella Wangler auch im Bett lag? Wenn Pommerle an die ausgestandene Angst dachte, die es empfunden hatte, als Hella immer wieder vergeblich nach dem Besenstiel griff, wurde ihm jetzt noch eiskalt. Was zuletzt gewesen war, wußte es gar nicht. Es hatte viel Wasser geschluckt, dann war ein fremder Mann bei ihm gewesen, und es hatte am Strande gelegen. Wahrscheinlich war es selbst ganz ins Wasser gefallen, so wie damals der Vater. Aber da war niemand gekommen, der ihn herauszog und auf den Strand legte.

Pommerles Lippen begannen zu zittern. An den Vater durfte es noch nicht denken. Im vorigen Jahre hatte man gemeinsam in dem kleinen Zimmer gesessen, das Kind hatte zugesehen, wie er die Netze durch die Hände gleiten ließ – – das kleine Häuschen – ganz unten am Strande. Das hatte Pommerle noch nicht einmal wiedergesehen. Ob dort noch das große Sofa mit den roten Blumen stand, und ob darüber noch das schöne Bild hing mit dem Kahn, und ob der Zettel noch immer auf dem Tische lag, den es kurz vor dem Abschied geschrieben hatte, damit der Vater, falls er doch noch zurückkehrte, wisse, wohin es gekommen sei? – Und Tante Bertha hatte es auch noch nicht wiedergesehen. So viele hatten Pommerle hier in Neuendorf begrüßt, nur Tante Bertha nicht.

Da ging die Tür wieder leise auf, Frau Bender erschien mit dem Tee, ihr folgte Herbert Affmann.

»Ich bring' dir Besuch, kleines Pommerle, Herbert hat gehört, wie mutig du gewesen bist, nun kommt er, nach dir zu schauen.«

Pommerle streckte dem Knaben die Hände entgegen. Herbert hatte unter den Arm eine Zigarrenkiste geklemmt, die er auf das Bett des kleinen Mädchens stellte.

»Ich hab' dir was Schönes mitgebracht.«

Neugierig machte Pommerle den Deckel auf. Drei große, schwarze Käfer krochen darin herum.

»Drei schöne Mistkäfer,« sagte Herbert stolz, »ich habe sie für dich aus dem Walde geholt.« Bei diesen Worten nahm er einen der Käfer aus der Kiste und setzte ihn Pommerle aufs Bett.

»Oh, sieh nur, Tante,« jubelte Pommerle, »das ist der Fauna von der Ostsee!«

»Und hier hast du noch zwei Faunas,« sagte Herbert stolz, indem er auch die beiden anderen Käfer auf die Decke setzte und dann die Kiste wieder unter den Arm klemmte.

Pommerle empfand gar keinen Abscheu vor den großen Käfern, die auf der Bettdecke umherkrochen.

»Sind das nicht süße Tierchen, Tante?«

Frau Bender war nun gerade nicht dieser Meinung.

»Ich denke, Herbert, du nimmst die drei Käfer wieder mit hinaus und trägst sie zurück in den Wald.«

»O nein,« sagte Herbert strahlend, »ich habe die Fauner für die Hanna mitgebracht, sie soll sie behalten. Darüber kann der Herr Pommerle auch ein Buch schreiben.«

»Ja, die nehme ich mit nach Hirschberg und setze sie in den Garten.«

Frau Bender verlangte etwas energischer, daß Pommerle den Tee trinke.

»Du hast sicherlich Zeit, mein Junge, du kannst Pommerle noch ein wenig Gesellschaft leisten, denn ich habe jetzt draußen zu tun. Und nun trinke.«

Pommerle trank den Tee, stippte mit dem Finger in die Tasse und hielt den feuchten Daumen dem einen Käfer hin.

»Er soll wenigstens 'mal dran lecken.«

»Vielleicht trägst du die Käfer doch erst zurück in den Wald, Herbert.«

Aber Pommerle bat so herzlich, daß man ihr zunächst die drei Käfer noch ließ.

Frau Bender war aus dem Zimmer gegangen.

»Ich wollte dir noch 'nen Salamander bringen, Hanna, aber den habe ich nicht gekriegt. Aber ich schenke dir noch einen. Wenn die Mutter zurückkommt, hole ich ihn.«

»Ist der kaputte Kopf deiner Mutti nun wieder zusammengewachsen?«

»Der alte Ehlert sagte, die Ärzte haben die Stücken zusammengeklebt, nun geht es wieder.«

Pommerle horchte auf. »Womit kleben sie denn?«

»Ich weiß das nicht.«

»Der Onkel klebt mit Leim.«

»Da werden sie wohl auch so etwas haben, was sie sich aus der Apotheke holen. Dem einen haben sie 'mal ein Loch im Kopfe zusammengenäht, aber der Ehmke sagte, wenn der Kopf hinten kaputt ist, können sie nicht nähen.«

»Nein,« sagte Pommerle, »dort ist es zu fest, dort müssen sie kleben. – Wird deine Mutti nun wieder gesund?«

»Ja, aber es dauert noch eine Weile.«

»Na, dann sei froh!«

Während die beiden Kinder noch über Herberts Mutter sprachen, erschien Professor Bender mit einer großen Tüte.

»Onkel,« rief ihm Pommerle begeistert entgegen, »in meinem Bett krabbelt der Fauna von der Ostsee!«

Der Professor lachte, als er die drei Käfer sah. »Die könnt ihr nachher wieder in den Wald bringen.« – –

»Willst du nicht zuerst darüber schreiben, Onkel?«

»Das hab' ich schon getan, Pommerle, dieselben Käfer haben wir auch im Riesengebirge. Wenn wir erst wieder in Hirschberg sind, zeige ich dir das Bild in dem großen Buche.«

»Die Käfer haben wir nur hier,« rief Herbert entrüstet, schlug sich aber sogleich wieder auf den Mund und sagte leise: »Und im Riesengebirge, ich weiß schon.«

»Mistkäfer sind es, Onkel, süße, liebe Mistkäfer! Aber sie riechen gar nicht nach Mist.«

»Schau 'mal, mein Kleines, was ich dir mitgebracht habe. Weil du so tapfer warst, bekommst du diese Tüte.«

Pommerle blinzelte mit den Augen. »Ach, Onkel,« sagte das Kind seufzend, »wenn du mir die Hälfte davon gibst, werde ich mich sehr freuen. Die andere Hälfte habe ich nicht verdient.«

»Nimm doch die ganze,« rief Herbert.

»Warum hast du denn nur die halbe verdient, Pommerle?«

»Ich wollte es euch schon vorhin sagen, aber da mußte ich stille sein. – Wegen der Hella hab' ich mir doch gar nicht das Gesicht zerschlagen, und die Nase hat auch schon vorher geblutet. Ich hab' es nur nachher nicht mehr gewußt, weil ich so in Angst war. Als ich auf dem Stein gehüpft bin, bin ich ausgerutscht – da hat die Nase mächtig geblutet. Da ist dann die Hella aufgestiegen – –«

»Auf deine Nase?«

»Nein – auf den Stein, ich hab' im Sande gelegen und geblutet, und auf einmal ging es patsch – und da war sie weg!«

»Du willst also damit sagen, daß das übermütige Pommerle wieder 'mal recht wild gewesen ist?«

»Ja, Onkel! Aber dann hab' ich der Hella doch den Besen zugeworfen. Die halbe Tüte könntest du mir schon geben.«

Professor Bender ließ sich ausführlich erzählen, was das Kind erlebt hatte. Es war allerdings ein wenig anders, als man ihm das Rettungswerk berichtet hatte. Aber das stand fest, die Kleine hatte sich auf jeden Fall so überlegt und tapfer gezeigt, hatte gleich an die richtige Hilfe gedacht, daß dem Kinde die Tüte zur Belohnung gegeben werden konnte.

»Deine Strafe für das wilde Spielen hast du schon weg, vielleicht wäre die kleine Hella erst gar nicht ins Wasser gefallen, wenn du nicht vorher auf dem Stein herumgesprungen wärest. – Du darfst trotzdem die ganze Tüte nehmen, denn durch deine Überlegung hast du doch deiner kleinen Freundin das Leben gerettet.«

Nun war Pommerle zufrieden. Die schwere Last hatte es sich von der Seele gewälzt, und trotzdem wurde es noch gelobt. Es griff sofort in die Tüte, nahm sich zuerst selbst einen großen Bonbon heraus, reichte einen zweiten dem Herbert und legte einen dritten auf die Bettdecke für die Käfer.

Da Professor Bender sah, daß das kalte Bad seiner kleinen Pflegetochter nichts zu schaden schien, war es wohl das Beste, wenn Pommerle bald wieder aufstand und man von der Sache nun nicht mehr redete, denn zu viel Lob war für ein Kindergemüt nicht gut.

Aber es kam ganz anders. Gegen Abend erschien Besuch, und zwar verlangten die Eltern des geretteten Mädchens Pommerle und die Professorseheleute zu sprechen.

Frau Jäger kam ins Zimmer zu Pommerle und fragte nach Tante und Onkel. Beide waren für kurze Zeit ins Dorf gegangen, um einzukaufen.

»Pommerle, da ist der Herr Oberstaatsanwalt Wangler und seine Frau, sie wollen dich sprechen.«

»Oh,« sagte Pommerle nur und legte die Puppe, mit der es soeben gespielt hatte, zur Seite. Wenn in Hirschberg Besuch kam, wollte er stets zum Onkel oder der Tante. Aber heute kamen Erwachsene zu ihm. »Wir lassen die Herrschaften bitten, einzutreten.« So sagte die Tante immer, wenn Anna Besuch anmeldete.

Was wollte der Ober? – Pommerle griff wieder nach der Puppe, als könne es bei ihr eine Stütze finden. Es hatte eben noch den Schädel des Puppenkindes untersucht und festgestellt, daß man den Schädel nicht nähen könne, daß man ihn wirklich leimen müsse, wenn er 'mal kaputt sei.

Herr und Frau Wangler betraten das Zimmer, Pommerle legte sich hastig im Bettchen um, zog die Decke bis an die Nase und schaute den Eintretenden neugierig entgegen.

»Der Herr Professor muß jeden Augenblick zurückkommen, er ist mit der gnädigen Frau nur rasch in die Nebenstraße gegangen,« sagte Frau Jäger, »ich will 'mal hinaussehen.«

»Du bist also das prächtige kleine Mädchen, das unserer Hella das Leben gerettet hat?«

»Das bin ich,« sagte Pommerle leise.

»Wir sind gekommen, mein liebes Kind, um dir von ganzem Herzen zu danken.«

Pommerle richtete sich ein wenig im Bett auf und schaute auf das eigenartige Tier, das Oberstaatsanwalt Wangler unter dem Arme trug. Es war ein großer, grüner Gummifrosch.

»Was hast du denn da?« fragte Pommerle voller Interesse.

»Das haben wir dir mitgebracht, kleines Pommerle. Der Frosch kann im Wasser schwimmen, du sollst mit ihm spielen.«

»O je –« Herr Wangler hatte den Frosch auf das Bett der Kleinen gelegt. Pommerle griff danach und drückte das große Gummitier ans Gesicht. »Ich danke dir, Onkel – – oh, heute kommt der ganze Fauna zu mir. – Die süßen kleinen Mistkäfer hat der Herbert leider wieder in den Wald tragen müssen, aber morgen gehe ich sie besuchen. – Nu aber der Frosch!«

Auch Frau Wangler drückte Pommerle in herzlicher Dankbarkeit an sich. Aber Pommerle hatte weit mehr Interesse für den schönen Frosch.

»Schwimmt er denn wirklich?«

»Aber natürlich!«

»Onkel, gieß doch 'mal in die Waschschüssel 'nen Haufen Wasser, und dann schmeiß den Frosch 'rein, und dann zeig es mir!«

Lachend erfüllte der Oberstaatsanwalt den Wunsch des Kindes, er brachte sogar die Waschschüssel an das Bett. Der große Gummifrosch hatte kaum Platz darin.

Pommerle drückte ihn voller Begeisterung herunter, aber sogleich kam er wieder nach oben. Pommerle jubelte, riß den Frosch aus dem Wasser, ein Sprühregen ergoß sich über die Decke, Herr und Frau Wangler wichen zurück, aber Pommerle küßte das nasse Gummitier begeistert.

Gerade in diesem Augenblick, als Pommerle den Frosch wieder hochwarf, damit es recht sehr im Wasser klatschte, betraten Benders das Zimmer.

»Tante,« rief Pommerle fast atemlos, riß das nasse Schwimmtier empor und hielt es Frau Bender entgegen.

»Pommerle, das Bettchen ist ja schon ganz naß!«

Dann gab es eine herzliche Begrüßung zwischen beiden Ehepaaren; doch Pommerle kümmerte sich gar nicht darum, was die Erwachsenen sagten. Es hatte seinen herrlichen Frosch, den es sorgsam mit dem Taschentuche abtrocknete.

»Hast du gehört, Pommerle?«

Nein, Pommerle hatte nichts gehört, es hatte sich mit dem Frosch unterhalten, die Gäste waren ihm Nebensache.

»Wie wäre es, Pommerle – willst du einen Tag lang in Berlin mit der kleinen Hella spielen? Willst du bei unseren lieben Gästen nun Mittag essen und bis zum Abend dortbleiben?«

»Und ihr auch?«

Frau Wangler trat wieder an das Bett des Kindes heran.

»Dein Onkel und deine Tante werden in Berlin Freunde besuchen, sie werden dich vorher zu uns bringen, dann bleibst du bis zum Abend bei uns. Du wirst mit Hella spielen, sie wird dir manches zeigen, und am Abend holen dich Onkel und Tante wieder ab. Am nächsten Morgen fahrt ihr dann nach Hirschberg weiter.«

»Soll ich morgen schon nach Berlin fahren?«

»Nein, Pommerle, wir bleiben nur noch vier Tage hier, du bleibst noch zehn Tage hier; aber wenn ihr abfahrt, müßt ihr doch über die große Stadt Berlin. Dann sollst du einige Stunden bei uns sein.«

So wurde verabredet, daß Benders auf der Rückreise Pommerle zu Wanglers brachten, weil der Professor und seine Frau verschiedene Besuche zu machen hatten, zu denen man die Kleine nicht mitnehmen konnte. Für Pommerle würde die Großstadt unendlich viel Neues bieten, und bei Wanglers wußte man die Kleine gut aufgehoben.


 << zurück weiter >>