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Pommerle hat Geburtstag

Immer wieder huschte ein vorwitziger Sonnenstrahl durch die geschlossenen Vorhänge in das kleine Zimmer, tanzte über das Bett, in dem ein blondhaariges Mädchen schlummerte. Und immer wieder kehrte der Sonnenstrahl zu seinen Schwestern zurück, um ihnen zu melden, daß Pommerle noch schlafe.

Ruhig atmend, die Wangen hochrot von einem schönen Traum, lag die kleine Hanna Ströde im Bettchen, bis sie plötzlich auffuhr, weil eine freundliche Stimme sie anrief:

»Pommerle – Langschläferin – willst du heute gar nicht aufstehen?«

Hanna rieb sich die Augen. Im ersten Augenblick wußte das Kind nicht, wo es sich befand. Es mußte doch zur Schule, – ach nein! War man nicht gestern aus Hirschberg fortgefahren, um an die Ostsee zu reisen?

Die freundliche Dame, die das Kind geweckt hatte, neigte sich jetzt zärtlich über Hanna.

»Guten Morgen, mein kleiner Liebling, hast du gut geschlafen? Weißt du auch, daß unser Pommerle heute seinen Geburtstag hat, daß es neun Jahre alt wird?«

»Oh – Geburtstag! – Höre nur, Tante, wie die See rauscht.«

»Ja, ich höre es, sie ruft dir hundert gute Wünsche zu, und auch deine Tante wünscht dir von Herzen, daß du weiterhin ein liebes und braves Mädchen bleiben mögest, immer wahrhaftig, immer freundlich, daß du weiter in der Schule gut lernst, daß dich alle lieb behalten.«

Pommerle schlang seine beiden kleinen Ärmchen um den Hals der Tante und küßte sie stürmisch.

»Ich möchte schon immer gut und lieb sein, Tante, aber es kommt so oft was dazwischen. – Ach, höre doch, wie die See singt!«

»Nun steh auf, mein Pommerle, denn Onkel und Tante warten schon. Der Kaffeetisch ist draußen im Vorgarten gedeckt.«

Frau Professor Bender drückte dem Kinde noch einen herzlichen Kuß auf die Stirn, dann verließ sie das Stübchen.

Pommerle blinzelte nach dem Fenster und machte erstaunte Augen, als es sah, daß die Sonne schon hoch am Himmel stand. Dann sprang das Kind mit beiden Füßchen aus dem Bett, lief ans Fenster und blieb dort stehen.

Die See! Die liebe, liebe Ostsee, nach der sich Pommerle schon monatelang gesehnt hatte. Endlich hatten Onkel und Tante den Herzenswunsch ihres Schützlings erfüllt; Pommerle weilte wieder in der unvergessenen Heimat.

Die See! – Alles, was gewesen war, rauschte sie dem Kinde in diesen Augenblicken zu. Pommerle sah sich als Fischerstochter in dem bescheidenen Häuschen, sie sah den Vater, der, die Netze auf dem Rücken, alltäglich hinab zum Strande ging, um Flundern oder Heringe zu fangen. Sie sah sich neben der Tante Berta sitzen, die dem Fischer Ströde die Wirtschaft führte, weil Pommerles Mutter schon lange tot war.

Horch! Jetzt rauschte die See gar wild und böse. Freilich, so war es auch im vorigen Jahre gewesen, als Pommerles Vater zum letzten Male mit seinen Netzen in den Kahn gestiegen war. Er war nicht wiedergekommen. Die Leute hatten gesagt, die See habe ihn verschlungen.

Pommerle bohrte die Fäuste fest in die Augen, das kleine Herzchen pochte wieder laut und stürmisch, so daß es beinahe schmerzte. Der Vater kam nicht mehr wieder, und Professor Bender und seine Frau, die alljährlich als Badegäste nach dem kleinen Neuendorf kamen, hatten Pommerle mitgenommen in die schlesischen Berge.

Pommerle rechnete nach. Das war im Herbst gewesen, als die Bäume anfingen, das Laub zu verlieren. Schnee und Eis waren gekommen, schließlich waren die Bäume wieder grün geworden, Pommerle hatte die hohen Berge des Riesengebirges erschaut; aber die See, die geliebte und doch mitunter so böse Ostsee, konnte das Kind nicht vergessen.

Nun war der Sommer ins Land gezogen, der Sommer, in dem Pommerle alljährlich mit den vielen anderen Fischerkindern im Wasser gewatet, am Strande gespielt hatte. Und Onkel und Tante Bender hatten die Sachen gepackt und Pommerle zurück an die Ostsee gebracht, um dreißig lange Tage hier zu bleiben.

Heute war Pommerles Geburtstag. Das hatte das kleine Mädchen in all dem Jubel, die geliebte See wiederzusehen, völlig vergessen. Das schönste Geschenk blieb ja doch, daß es wieder den Strand und die weite Wasserfläche sehen konnte.

Im Vorgarten hörte Pommerle die Stimme des Onkels. Da raffte sich die Kleine aus ihrem Sinnen auf, schlüpfte rasch in die über den Stuhl gelegten Sachen, wusch sich Gesicht und Hände, kämmte hastig das blonde Haar, schlüpfte in das Kleidchen und lief hinaus, wo der gedeckte Kaffeetisch bereitstand.

Das kleine, bescheidene Fischerhaus, in das Professor Bender in diesem Sommer als Mieter einzog, hatte von allen Fenstern den freien Blick auf die See. Hier in Neuendorf gab es wenige höhere Häuser, meistens waren es kleine, im schlichten Landhausstil erbaute Häuschen, die von den Fischern bewohnt wurden. Professor Bender, der bisher stets auf der anderen Seite des Dorfes gewohnt hatte, wählte in diesem Sommer absichtlich eine andere Wohnung, damit sein Pflegekind nicht zu sehr an die traurigen Ereignisse des letzten Herbstes erinnert wurde. Aber auch hier beim Fischer Jäger hatte man freundliche Wirtsleute gefunden.

Pommerles Augen wurden groß, als es den Frühstückstisch erblickte. Um die eine Tasse lag ein kleiner Kranz aus Feldblumen, den die Tante wohl selbst gewunden hatte. Vor der Tasse aber stand ein großer Napfkuchen, der von neun brennenden Lichtern umgeben war.

Pommerle wagte kein Wort zu sagen, es hielt auch mäuschenstill, als Herr Professor Bender den Kopf seines Pfleglings zwischen beide Hände nahm und der Kleinen herzliche Glückwünsche sagte. So festlich war Pommerles Geburtstag noch niemals begangen worden. Der Kranz und die neun brennenden Lichtlein waren dem Kinde ganz etwas Neues.

Tante Bender, die Pommerle nochmals mit herzlichen Worten alles Gute wünschte, gab dem Kinde die Erklärung für den Schmuck und die brennenden Lichter.

»Du wirst heute neun Jahre alt, mein Pommerle, da müssen neun Lichter für dich brennen, denn jedes Lebensjahr hat sein Licht.«

»Wie alt wirst du denn, Onkel?«

»Ich werde fünfzig Jahre.«

»O je, – müssen dann fünfzig Lichter brennen?«

»Große Leute bekommen keine Lichter mehr, mein Kind.«

»Nein, Onkel, die haben das elektrische Licht, das sie anknipsen können. – Knipst du zu deinem Geburtstag fünfzigmal?«

»Das kann ich machen, mein Kleines, – aber jetzt setze dich nieder, heute darfst du dir das erste Stück Kuchen nehmen, denn der Kuchen gehört dir.«

Die drei hatten sich niedergesetzt, und Pommerle machte ausgiebig Gebrauch von seinen Geburtstagsvorrechten. Es suchte nach dem größten Kuchenstück und legte es auf seinen Teller. Dann schaute es fragend die Tante an.

»Was hast du denn auf dem Herzen, Kind?«

»Ich weiß nun gar nicht, wie ich mich artig zu benehmen habe, Tante, – soll ich euch auch ein Stück Kuchen geben, oder dürft ihr euch das selber nehmen oder – – ist der Kuchen ganz für mich allein?«

»Man bietet von seinen Sachen den anderen immer etwas an, Pommerle.«

»Bitte sehr, liebe Tante, ich erlaube dir, daß du von meinem Kuchen nimmst, und suche dir auch ein recht großes Stück aus. Und der Onkel darf auch eins nehmen. – – Warte mal, – –«

Pommerle zählte die Stücke durch.

»Ihr könnt jeder zwei Stücke nehmen. – Bitte sehr, langt zu, ihr werdet euch doch den Magen nicht verderben.«

Da saß man fröhlich plaudernd am Geburtstagstisch, und Pommerle betrachtete abwechselnd den Kuchen, die Lichter und das Kränzlein um die Tasse.

»Ach, das ist alles so schön, – und dazu die liebe Ostsee! – Nachher darf ich doch zur See hinunter, daß sie mir wieder schöne Geschichten erzählt?«

»Du wirst heute neun Jahre alt, mein Pommerle, da müssen neun Lichter für dich brennen, denn jedes Lebensjahr hat sein Licht!«

»Natürlich darfst du zur See, mein Liebling, du darfst auch deine früheren Freundinnen und Freunde aufsuchen und sollst ihnen sagen, daß sie am Nachmittag herkommen dürfen, um mit dir den Geburtstag zu feiern.«

»Das darf ich?« rief das Kind glühend vor Erregung. »Zur Grete Bauer, – zur Elli Götsch, zum Otto Jäger, – – o Tante, und zu Meister Hinsche und zu Onkel Will darf ich auch gehen?«

»Natürlich, meine Kleines, du darfst überall hingehen.«

»Und alle dürfen herkommen?«

»Die Kinder, die du ganz besonders gern hast.«

Pommerle breitete entzückt beide Arme aus. »Ich hab' sie alle gern, alle –«

Der Professor wehrte lachend ab. »Du darfst dir sechs Kinder holen, die du besonders gern hast.«

»Und noch den Fischer Ehmke und den Onkel Haegler?«

»Nein, Pommerle, nur Kinder. Sieh, du bist doch auch noch ein Kind, und Kinder sollen unter sich spielen.«

»Ach, wenn ich doch immerzu Geburtstag hätte! Darf ich jetzt gleich gehen, darf ich sie alle herholen?«

Sehr bald drängte die Kleine zum Aufbruch.

»Du sollst zuerst deinen Geburtstagstisch ansehen, Pommerle. Komm herein, Tante und Onkel wollen dir doch eine Freude machen.«

Man führte das Kind ins Wohnzimmer. Auf dem kleinen Tische stand ein großes Licht, ringsherum waren allerlei Geschenke aufgebaut, mit denen die Pflegeeltern ihren Schützling erfreuen wollten. Da lag ein kleines Wickelkind in einem Bettchen, auf dem Kopfe ein weißes Häubchen, mit rosa Schleifen verziert, ein ebensolches Jäckchen, und wenn man der Puppe auf die Brust drückte, kam ein quiekender Laut hervor.

»Schau, mein Liebling, das Püppchen ruft nach der Mutti. Du mußt lieb zu deinem Puppenkinde sein.«

Behutsam nahm die Kleine die Puppe in den Arm; dann gingen die Augen weiter auf dem Tische herum, auf dem noch ein Buch, ein neues Kleidchen, ein kleines Boot, eine Schwimmente und verschiedene Süßigkeiten lagen.

»Und hier sind sogar Briefe an dich, mein Kleines,« lächelte Professor Bender, »einer von unserer Anna und hier einer von Jule.«

»Von Jule!« Ein Freudenruf kam von Pommerles Lippen. Jule, der Spielgefährte aus Hirschberg, hatte an sie gedacht.

Pommerle nahm die Blumenkarte, auf der unter einem Blütenzweig die Worte standen: Fröhliche Pfingsten. Jule hatte die beiden Worte durchgestrichen und dafür geschrieben:

»Ich gratuliere Dir zu Deinem Geburtstage. – Wie geht es Dir? Mir geht es gut. – Komme nur bald zurück, es ist so langweilig. Frag mal Deinen Onkel, ob ich nachkommen kann. Es gratuliert Dir Dein

Jule.«

»Onkel, – Tante! sieh doch mal, er schreibt, – oh, der Jule! Wie schade, daß ich ihn heute nicht auch einladen kann. – Wenn ich aber mit dem Kuchen machen darf, was ich will, darf ich doch dem Jule etwas nach Hirschberg schicken?«

»Wenn wir wieder daheim in Hirschberg sind, backe ich noch einen Kuchen, mein Pommerle; davon bekommt dann der Jule etwas,« sagte Frau Professor Bender.

»Aber wenn ich nun wirklich mit dem Kuchen machen kann, was ich will?«

»Meinetwegen,« lachte der Professor, »so schick dem Jule ein Stück!«

Dann wurden wieder die anderen Dinge bestaunt.

»So, mein Kind, jetzt mache dich fertig. Wir wollen zunächst durchs Dorf gehen, dort wirst du manche Bekannte treffen.«

Die Kunde, daß das kleine Hannchen Ströde wieder in Neuendorf sei, hatte sich in dem Fischerdorfe rasch verbreitet. Fuhrmann Will, der die Ankommenden nach dem Jägerschen Hause gefahren hatte, wußte zu erzählen, daß Pommerle sehr fein ausgesehen habe, daß es aber den Onkel Will sogleich erkannt habe.

Nun schritt Pommerle zwischen Onkel und Tante durch das Dorf. Am liebsten wäre es freilich hinunter zum Strande gelaufen, um sich wieder von den Wellen geheimnisvolle Geschichten erzählen zu lassen.

Man kam nicht so schnell weiter, überall wurde Pommerle angehalten. Alle kamen sie aus ihren Häusern hervor, drückten Pommerle die kleinen Hände, freuten sich auch an dem frischen Aussehen des Kindes und sagten den Pflegeeltern manches gute Wort.

Da standen Elli Götsch und Grete Bauer, die sich zuerst nicht recht an die niedlich gekleidete Spielgefährtin heranwagten; aber jauchzend lief ihnen Pommerle entgegen, um sogleich die Einladung für heute nachmittag anzubringen. – Da war der große Herbert Affmann, der Pommerle früher recht viel geneckt hatte; aber das war alles längst vergessen. Auch der zwölfjährige Knabe wurde eingeladen und noch andere Mädchen, die Pommerle traf, bis Herr Professor Bender meinte, es sei nun genug.

Als man wieder heimkam, holte sich Pommerle die neue Puppe; dann bat es die Tante, ob es nun zum Strand hinuntergehen dürfe.

»Du kannst dir auch Schuhe und Strümpfe ausziehen, mein Kind, und im Wasser waten; aber bleibe in der Nähe, daß ich dich vom Hause aus sehen kann.«

Die neue Puppe im Arm, lief das Kind davon. Es legte sich in den Sand. Es rutschte so weit nach vorn, daß es mit den ausgestreckten Händen die Wellen greifen konnte, die leise plätschernd gegen das Ufer schlugen.

Aber lange blieb Pommerle nicht allein. Man hatte Hanna Ströde im Dorfe gesehen, und so kamen die Spielgefährten heran. Da war zuerst Grete Bauer, die die Freundin sehr vermißt hatte. Besonders mit Hanna Ströde ließ es sich so gut spielen.

Nach Verlauf einer Viertelstunde sah sich Pommerle als Mittelpunkt eines größeren Kinderkreises. Neugierige Fragen wurden an Pommerle gerichtet, und allgemeines Staunen erfolgte, wenn das Kind von Dingen erzählte, die man hier in Neuendorf nicht kannte.

»Du schwindelst,« rief Herbert Affmann, der Zwölfjährige, »das alles ist ja nicht wahr! Wie kann ich denn mit einem Menschen reden, der in einer anderen Straße wohnt, bloß weil ich mir 'nen Draht um die Ohren binde?«

»Ich schwindle gar nicht,« erwiderte Pommerle voller Entrüstung, »bei uns im Riesengebirge ist es so!«

»Wohnen im Riesengebirge nur Riesen?« fragte Grete Bauer.

Pommerle lachte hell auf. »O nein, da wohnen auch ganz kleine Menschen, noch kleiner als ich.«

»Wir haben hier auch Berge,« meinte Herbert Affmann, »die sind viel schöner als die vom Riesengebirge.«

»Die sind aber lange nicht so hoch, Herbert. Der Jule ist mal mit mir auf einen ganz hohen Berg gegangen, dort bin ich dem Rübezahl begegnet. – Hu, war das gruselig, – aber gut ist er, er macht die Steine zu Gold.«

»Pah,« sagte Herbert verächtlich, »unsere Stine kann viel mehr!«

»Die Stine!« Pommerle reckte das kleine Körperchen. Richtig, die Stine! Das war die mächtige Wasserfrau, die Tochter des Seeräubers, dem die ganze Ostsee und jedes Wasser gehörte. Die Stine war eine gefährliche Frau. Wenn es stürmisch war, konnte man sie lachen hören. – Die Stine hatte schon manchen Fischer auf den Meeresgrund hinabgezogen. – Vielleicht auch den Vater.

»Habt ihr auch eine Stine im Riesengebirge?«

»Nein.«

»Pah, dann habt ihr gar nichts! Die Stine ist die mächtigste Frau, die es gibt.«

»Der Onkel sagte aber, im Gebirge ist es auch sehr schön, und der Jule meint es auch.«

»Der Jule, – was ist das für ein Jule?«

»Das ist mein Freund, der geht in die Berge und bricht irgendwo ein Stück Berg ab; das bringt er dem Onkel, und der schreibt ein dickes Buch darüber.«

»Wenn der Jule Bergzacken abbricht, wird bald nichts mehr da sein,« höhnte Herbert.

»Du bist dumm,« meinte Pommerle altklug, »wenn du aus der Ostsee Wasser schöpfest, ist immer noch was da.«

»Was schreibt denn dein Onkel für ein Buch?«

Pommerle machte eine krause Nase. Klar war ihm das bis heute noch nicht, obwohl der Onkel schon oft davon erzählt hatte. Aber in dem großen Schrank mit den Glasscheiben standen drei dicke Bände, und auf diesen Bänden stand mit goldenen Buchstaben die Worte: »Die Flora und der Pfau aus dem Riesengebirge.«

»Er schreibt über die Flora und den Pfau.«

»Über die Flora vom Fleischer Lange?«

»Nein, über die Flora von einem aus dem Riesengebirge.«

»Oh, einen Pfau habe ich schon gesehen,« rief Elli Götsch, »der macht ein großes Rad. – Habt ihr viele Pfauen im Riesengebirge?«

»Ich glaube, es muß ein ganzer Haufen sein,« meinte das Kind, »sonst hätte der Onkel nicht drei dicke Bücher darüber geschrieben.«

»Kommt die Flora auch 'mal mit an die See?« fragte Herbert.

»Ich kenne sie nicht,« entgegnete Pommerle kleinlaut, »aber ich will den Onkel 'mal nach ihr fragen.«

Währenddessen hatte sich Grete Bauer lebhaft mit dem neuen Puppenkind beschäftigt, das Pommerle heute als Geschenk erhalten hatte. Daß das Baby schreien konnte, erregte das hellste Entzücken.

»Wollen wir die Puppe 'mal ins Wasser werfen,« riet Herbert, »wollen hören, ob sie dann schreit.«

Erschreckt riß Pommerle das Puppenkind an sich.

»Das ist doch meine Puppe, die brauchst du gar nicht zu nehmen.«

»Ich brauch' auch deine dumme Puppe nicht, ich habe viel schöneres Spielzeug.«

»Ich habe auch eine Puppe,« sagte Grete Bauer, »ich will sie holen!« Weg war sie, um schon nach wenigen Minuten mit ihrem Puppenkinde zurückzukehren. Das war allerdings kein Vergleich mit dem niedlichen Puppenkinde, aber Pommerles Hände ließen doch das hübsche Geschenk fallen, und mit großen Augen schaute es auf jene Puppe, die Grete Bauer angebracht hatte.

Das war ein Kartoffelkopf, der auf einem Holz steckte; um das Holz war ein rotes Taschentuch geschlungen, das geschickt derart verknotet war, daß diese Puppe Arme und Beine hatte.

Riesengroß stieg vor Pommerle wieder die Erinnerung auf. Es hatte auf den Knien des Vaters gesessen und zugesehen, wie der Fischer in eine große Kartoffel ein Gesicht schnitt, wie er ein rotes Taschentuch verknotete und das Puppenkind damit anzog. Lange, lange hatte Pommerle mit diesem Puppenkinde gespielt, dann war es ihm etwas aus dem Gedächtnis gekommen. Nun sah es das Werk des Vaters erneut vor sich und glaubte im Augenblick nichts anderes, als daß der Vater auch diese Puppe angefertigt hatte und daß Grete Bauer in Besitz dieses Schatzes war.

»Gib mir die Puppe,« ein Flehen ging durch Pommerles Stimme.

»Meine Puppe,« sagte Pommerle mit verschleierter Stimme.

»Nein, meine Puppe,« erwiderte Grete Bauer, »ich habe sie vom Vater.«

»Gib mir die Puppe,« ein Flehen ging durch Pommerles Stimme.

Doch die Freundin widersprach.

»Du hast ja deine Puppe.«

»Schenk mir die Puppe!« Pommerles Augen füllten sich mit Tränen.

Aber Grete Bauer drückte ihr Puppenkind fest an sich und lief aus Angst, daß man ihr diese Kostbarkeit nehmen könnte, davon.

Eine Viertelstunde später kam die Tante an den Strand und holte Pommerle ins Haus. Sie sah den Schatten auf dem Kindergesicht, sah auch, daß Pommerle das Geburtstagsgeschenk still aus der Hand legte und in sichtlich gedrückter Stimmung zum Mittagessen kam.

Zuerst wollte sie nicht nach der Ursache dieses heimlichen Kummers fragen, weil Frau Bender glaubte, daß die Kleine durch den Anblick der See und das Wiedersehen mit den Gespielen ergriffen war. Als aber Pommerle nicht einmal die Nachspeise munden wollte, die heute zur Feier des Geburtstages bereitet worden war, als es den Löffel artig hinlegte und dankte, nahm Professor Bender die Kleine nach Schluß der Mahlzeit auf seine Knie, streichelte den Blondkopf und fragte herzlich: »Nun, Pommerle, gefällt es dir hier?«

Die Gefragte nickte.

»Aber die Augen sind gar nicht froh, mein Kleines, sie sollen leuchten wie die Sterne. – Jetzt schau mich 'mal an, mein Kleines, – du hast doch heute deinen Geburtstag; freuen dich die Sachen nicht, die wir dir geschenkt haben?«

»Ach ja, sie freuen mich schrecklich!«

»Oder hast du noch einen Wunsch, den wir dir nicht erfüllt haben?«

Herr Bender sah, wie das Kind mit sich kämpfte, dann schlang es plötzlich seine Ärmchen fest um den Hals des Mannes, drückte sein Gesicht an des Onkels Brust und stammelte:

»Eine Puppe möchte ich haben.«

»Du hast doch eine Puppe bekommen, und daheim sind noch drei.«

»Das sind keine richtigen Puppen, ich möchte eine andere Puppe.«

»Was soll denn das für eine Puppe sein, Pommerle?«

»Ich möchte die Puppe vom Vater,« stammelte die Kleine schluchzend.

Zärtlich strich der Professor über das tränenüberströmte Gesicht der Kleinen.

»Ich habe die Puppe vom Vater nicht gesehen, Pommerle, aber vielleicht bekommen wir hier auch so etwas. – Wie sieht denn diese Puppe aus?«

»Die hat der Vater selbst gemacht.«

»Wie hat er das denn gemacht?«

»Ach, Onkel,« rief Pommerle leidenschaftlich, »schenk mir so eine Puppe, aber genau so, wie sie der Vater gemacht hat.«

Professor Bender war ratlos. Er fragte weiter und erfuhr von dem Kinde, daß Grete Bauer genau dieselbe Puppe habe.

»Nun weine nicht länger, mein Kleines, wir wollen 'mal zusehen, ob wir solch eine Puppe nicht auch beschaffen können. Nun sollst du deine Tränen trocknen. Du machst ja die Tante traurig, wenn du weinst. Schau hinaus, wie hell die Sonne lacht, und jetzt lachen wir beide 'mal um die Wette. Deine Puppe sollst du bekommen.«

Als Frau Bender in Gemeinschaft mit Pommerle die Vorbereitungen für die heutige Kindergesellschaft traf, machte sich der gutherzige Professor auf den Weg, um beim Fischer Bauer die Puppe anzusehen, die Pommerles Sehnsucht erweckt hatte. Da Grete daheim war, denn man putzte sie für die Gesellschaft heraus, war das Rätsel gar bald gelöst. Herr Bender unterdrückte mit Mühe das Lachen, als er dieses Gebilde sah. Solch eine Puppe konnte er seinem Pommerle auch herstellen.

Er kam heim. Pommerle trug gerade die Tassen nach der Veranda, Frau Bender stand in der Küche und schlug die Sahne.

»Nun gib mir 'mal eine recht große Kartoffel, liebe Frau.«

»Dort drüben im Korbe.«

Der Professor suchte lange, es mußte eine längliche Kartoffel sein, die rechts und links je einen kleinen Auswuchs hatte, der die Ohren darstellte.

»Das Richtige ist nicht darunter,« meinte er schließlich, »aber diese hier kann vielleicht gehen.«

Dann setzte er sich in den Garten und begann in die Kartoffel ein Gesicht zu schneiden.

Pommerle hatte mit seinen scharfen Augen das Tun des Onkel gar bald bemerkt. Gespannt kam das Kind näher und stellte sich vor Herrn Bender hin.

»Wird das die Puppe?«

»Ja, kleines Pommerle.«

»O Onkel, Onkel – –« die Kinderarme erdrückten ihn fast.

Aber die Tante rief, Pommerle mußte den Tisch weiter decken, lief aber zwischendurch immer wieder zum Onkel hin und betrachtete entzückt das entstehende Werk.

Der Kopf war fertig, aber ein rotes Taschentuch befand sich nicht im Besitz des Professors.

»Wir ziehen der Puppe ein weißes Kleid an, meinst du nicht auch, mein Kleines?«

Zwei Kinderaugen flehten: »Ein rotes, Onkel!«

Wieder gab er nach. Er ging in den kleinen Laden des Dorfes, um dort das rote Taschentuch zu erstehen.

Eine Viertelstunde später hielt Pommerle beglückt und strahlend die Kartoffelpuppe im Arm.

»Vaters Puppe!« Damit lief sie zur Tante und zeigte ihr glücklich das kostbare Geschenk. Vergessen war das neue Puppenkind, die Schwimmente, ja selbst die Schokolade, Pommerle ließ das Kartoffelkind nicht mehr aus den Armen.

Nun nahte die Stunde der Geburtstagsfeier.

Man hatte die Kinder für vier Uhr eingeladen; aber schon lange vor dieser Zeit gingen sie vor dem kleinen Fischerhause auf und ab, versteckten sich kichernd, wenn jemand in den Vorgarten kam. Nur Herbert Affmann blieb dreist stehen, besah sich den Kaffeetisch und flüsterte den Spielgefährten zu, daß es einen großen Napfkuchen mit Rosinen gäbe, den man aufessen werde.

Frau Professor Bender, die die Kinder bemerkte, rief sie schließlich herein.

»Kommt nur, Pommerle wartet schon.«

»Die Hanna Ströde wartet doch,« sagte Herbert.

Frau Bender lachte. »Seitdem sie bei uns ist, heißt das Hannchen Pommerle. Verstehst du das, mein Junge?«

Elli Götsch fuhr mit ausgestrecktem Finger dazwischen, sie meldete sich zum Sprechen, wie sie es von der Schule her gewöhnt war.

»Jawohl, meine Mutter hat früher auch anders geheißen; seitdem der andere Vater im Hause ist, heißt sie nicht mehr wie ich, da hat sie einen anderen Namen bekommen.«

»Nun kommt, Kinder, hier ist eure kleine Gastgeberin, setzt euch nieder und langt tapfer zu.«

So saßen denn die zehn Kinder in dem Vorgarten, und bald war eine lebhafte Unterhaltung im Gange.

Herbert zeigte sich als der Unverträglichste. Er hatte beständig etwas zu wünschen, zu verbessern, oder er verlachte die Mädchen, wenn sie etwas sagten. Dabei langte er wacker zu; und als er sich das fünfte Kuchenstück nahm, erhob sich Pommerle hastig und lief davon.

Sie suchte die Tante auf.

»Tante, der Herbert ißt so viel Kuchen. – Muß ich immer noch gerne geben?«

»Wenn es ihm schmeckt, Kleines.«

»Dann ißt er doch meinen ganzen Kuchen auf. Das Wohltun kann doch auch 'mal aufhören.«

»Ich will mit hinauskommen, Pommerle, und achtgeben, daß alle Kinder zulangen.«

An der Hand der Tante ging das kleine Mädchen wieder zu seinen Gästen zurück. Die Kinder hatten jedoch die Abwesenheit Pommerles benutzt, rasch noch ein Stück Kuchen zu nehmen.

»Oh,« stieß Pommerle entrüstet hervor; als es aber den mahnenden Blick der Tante sah, verstummte es.

»Wenn ihr satt seid, liebe Kinder,« sagte Frau Bender freundlich, »wollen wir zusammen spielen.«

»Sie müssen mitspielen, Frau Pommerle,« meinte Herbert endlich.

Hanna schaute die Tante erstaunt an. »Heißt du auch Pommerle?«

»Nein, mein Liebling, du weißt doch, daß ich Bender heiße. Aber wer von euch weiß ein recht hübsches Spiel?«

»Eins, zwei, drei, das letzte Paar vorbei,« schlug Elli vor.

»Ich möchte zuerst den Pfau sehen,« bettelte Grete Bauer, »von dem du gesagt hast, daß der Onkel so viele hat.«

Lebhaftes Hin und Her entstand, weil Frau Bender nicht wußte, was es für ein Pfau sei.

Pommerle schmiegte sich an die Tante. »Von dem Pfau in dem großen Buch mit dem Gold, – wo der Onkel drüber schreibt. Und von dem hübschen Mädchen, das Flora heißt.«

Da lachte Frau Bender belustigt auf. Sie hatte begriffen. – Freilich, die Kinder konnten unmöglich wissen, was der Titel des Buches: »Die Fauna und Flora des Riesengebirges« zu bedeuten hatte.

»Ihr habt wohl gar keine Pfauen?« fragte Herbert vorlaut.

Frau Professor Bender sagte lächelnd:

»Nein, Pfauen haben wir freilich nicht – –«

»Aetsch – dann hat sie gelogen!«

»Nein, Herbert, mein Pommerle hat nicht gelogen. Pommerle lügt überhaupt nicht, ihr wißt doch, die Eltern können jede Lüge des Kindes aus dem Gesicht ablesen.«

»Nee, –« lachte Herbert, »das können sie nicht!«

»Doch, doch, mein Junge, wenn ein Kind lügt, bekommt es ganz von selbst an die Stirn ein Zeichen, und das sehen die Eltern.«

»Nee, nee,« rief Herbert, »ich lüge jeden Tag hundertmal, und auf meiner Stirn ist gar kein Zeichen.«

»Ich will hoffen, Herbert, daß deine Worte nicht wahr sind. Du wärst ein schlechter Junge, wenn du so viele Unwahrheiten sagtest. Deine Eltern werden es schon wissen, wenn du lügst. Das Zeichen an der Stirn ist immer da; nur sieht es nicht jeder.«

»Aber wenn man ganz schlimm gelogen hat,« flüsterte Pommerle, »dann sieht es wohl jeder?«

»Wenn man eine große Lüge gesagt hat, freilich. – Nun aber wollen wir ans Spielen gehen.«

»Und es ist gar kein Pfau da?« fragte Grete Bauer aufs neue.

»Hört einmal zu, liebe Kinder, der Onkel hat ein Buch über die Blumen des Gebirges und auch über die Tierwelt geschrieben. Ihr habt doch alle schon Naturgeschichte.«

»Na, dicke,« rief Herbert dazwischen.

»Nun also, dann mußt du doch wissen, mein Junge, daß man die Pflanzenwelt die Flora nennt und die Tierwelt unter dem Wort Fauna zusammenfaßt.«

»Weil der Pfau das schönste Tier ist?« fragte Grete aufmerksam.

»Nein, Gretel, es kommt aus ganz früher Zeit her. Man hat das Wort Fauna nach dem Waldgott Faunus genannt.«

Wieder lachte Herbert ungezogen. »Es gibt doch nur 'ne Waldhexe und keinen Waldgott.«

»Die alten Römer glaubten an verschiedene Götter, und ihre Blumengöttin hieß Flora.«

»Hahaha, das soll man nu glauben! Ich kenn doch 'ne Flora, das ist keine Göttin, die ist immer schmutzig und hat zerrissene Strümpfe an.«

Frau Bender sah ein, daß sie bei dem dreisten Knaben nichts erreichte.

»Du wirst auch noch einmal gern Pflanzen sammeln, es gibt nichts Schöneres für einen Knaben, als mit der Botanisiertrommel durch die Wälder zu streifen und Kräuter und Blumen zu sammeln. Das wird euch der Lehrer auch noch sagen. Ich bin selbst gern mit solch einer Trommel umhergegangen, als ich ein Kind war, und habe mich herzlich gefreut, wenn ich sie öffnen durfte, um etwas hineinzustecken.«

»Mein kleiner Bruder hat Schläge bekommen, als er die Trommel aufgerissen hat,« flüsterte Grete Bauer scheu. »Hast du denn keine Schläge bekommen?«

»Wenn ich mit meiner Trommel losgehe, schimpfen alle,« sagte Herbert, »weil ich dann mächtigen Krach mache.«

»Eine Botanisiertrommel ist ganz etwas anderes. Aber das werdet ihr später lernen. Nun kommt, Kinder, jetzt wollen wir zusammen spielen.«

Aber Frau Bender verschwand sehr bald, denn sie merkte, daß ihre Anwesenheit die Kinder verlegen machte. Nur von Zeit zu Zeit erschien sie, wenn es draußen gar zu lebhaft wurde.

Erst als es gegen sechs Uhr eine schöne Speise gab, waren die Kinder wieder ein Weilchen ruhig.

»Ich passe auf, liebe Tante,« flüsterte Pommerle Frau Bender zu, »ob der Herbert jetzt wieder soviel stopft.«

»Laß ihn nur ruhig essen, mein Kind, man muß sich freuen, wenn es den Gästen gut schmeckt.«

»Wenn man sich aber nicht richtig darüber freuen kann, Tante?«

»Dann muß man es eben noch lernen, kleines Pommerle, wie man ja überhaupt als kleines Mädchen noch viel zu lernen hat.«

Damit gab sich das Kind zufrieden.


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