Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7. Kapitel

Seit mehreren Wochen war Lothar als Assistent bei Gervinus tätig. Mit stolzer Freude bemerkte der letztere, wie gewissenhaft Lothar seine Pflichten nahm und welche gründlichen Kenntnisse der junge Arzt in sich vereinigte. Er staunte manchmal über die scharfen Aeußerungen des jungen Kollegen und manche Behauptung gab ihm, dem Aelteren, zu denken. Nur nach einer Richtung hin platzten die Meinungen aufeinander. Da sich auch Lothar in der Hauptsache mit Rückenmarkserkrankungen beschäftigte, hatte er ebenfalls tiefgehende Forschungen angestellt und hatte allerlei Bedenken an der Richtigkeit der von Gervinus in seinen Büchern festgelegten Behauptungen. Besonders gingen die Meinungen in Bezug aus die Verbindungen der weißen Nervenfasern mit den Ganglienzellen weit auseinander, und auch über die Flimmerzellen war Lothar entgegengesetzter Meinung. Es kam zu lebhaften Auseinandersetzungen, die dazu führten, daß Doktor Gervinus neue Forschungen auf der von Lothar eingeschlagenen Basis unternahm. Er kam aber dabei zu keinem zufriedenstellenden Resultat und versuchte erneut, Lothar von seiner falschen Bahn abzubringen.

Wenige Wochen später erhielt Gervinus den Professorentitel. Unzählige Glückwünsche trafen ein, aber der, aus dessen herzlichen Worten er sich am meisten machte, der hatte nur einen kurzen, förmlichen Glückwunsch. Gervinus hielt daher Lothar am Abend, als er ihn verlassen wollte, zurück.

»Du solltest mir heute, an diesem schönen Tage, deinen Besuch schenken. Willst du?«

»Ich bedaure, ich bin bereits versagt.«

Gervinus legte dem Schwager die Hand auf die Schulter. »Warum weichst du mir beständig aus, Lothar. Warum hast du auch jetzt noch immer keinen herzlichen Blick für mich. Bin ich dir denn in all den Jahren noch nicht einen Schritt näher gekommen?«

Eine kühle Abweisung lag auf Lothars Antlitz. »Es sollte mir leid tun, wenn ich zu irgend einer Zeit versäumt hätte, Ihnen zu zeigen, daß ich Ihnen Dank schulde.«

»Dank, Dank,« brauste Gervinus auf. »Immer dieses Wort! Ich will deinen Dank nicht haben, ich will deine Liebe, deine Zuneigung, weiter nichts! Was habe ich dir denn getan, daß du mich so abwehrst?«

»Machen Sie mich nicht verantwortlich für mein Empfinden, Herr Professor.«

»Professor! Natürlich, das setzt allem die Krone auf. Jahrelang bin ich dein Vormund gewesen, wurde dann dein Schwager, aber du kannst dich nicht einmal zu dem verwandtschaftlichen Du entschließen. Das will ich nicht länger. Ich verlange jetzt das brüderliche Du. Ich lasse deinen kindischen Trotz nicht mehr länger durchgehen. Gib mir einen triftigen Grund an, der dein abweisendes Verhalten mir gegenüber rechtfertigt, und ich will versuchen, dich zu verstehen.«

Finster maß Lothar den Sprecher. »Sie reden, als hätten Sie einen achtjährigen Knaben vor sich. Sie wollen mich zwingen, Ihnen mein Innerstes zu enthüllen. Nun gut! Jawohl, es ist ein leidenschaftliches Wehren in mir gegen Ihre Wohltaten. Schon der zwölfjährige Knabe wich instinktiv vor Ihnen zurück, in dem Gefühl, von diesem Manne kommt dir nichts Gutes. Wer nicht tiefer sieht, der muß mich für undankbar halten. Sie haben die Mutter gerettet, uns Kinder erzogen und erhalten, aber Sie haben sich dafür auch Ihren Lohn genommen. Das Glück der Schwester traten Sie achtlos nieder, Sie glaubten, wir hätten nur noch zu danken. Sie streckten mir heute wie immer Ihre Hand entgegen, aber mir graut vor dieser Hand.«

»Dir graut vor dieser Hand,« wiederholte Gervinus gedehnt und eine leichte Blässe breitete sich über sein Gesicht. »So werde ich dich in Zukunft nicht zwingen, mir ein freundliches Wort zu geben oder gar meine Hand zu drücken. Dir graut davor! Ich werde dich vielleicht auch nicht halten können, weiter bei mir zu arbeiten, denn damit zerstöre ich vielleicht auch dein Leben. Wenn du also andere Pläne hast, Lothar, so gehe, aber vergiß nicht, daß du auch jetzt noch an mir einen Freund hast.«

Eine Blutwelle schoß Lothar in die Stirn. »Verstehe ich recht, so geben Sie mich frei und lösen damit das Versprechen, das ich der sterbenden Mutter gab?«

»Ja, es wäre mir nur lieb, wenn du noch einige Wochen bei mir bliebest, bis ich geeigneten Ersatz gefunden. Ich dachte es mir so schön,« fügte er ergriffen hinzu, »dich weiter auf meinen betretenen Bahnen wandeln zu lassen.«

»Ihr Weg ist nicht der meine,« gab Lothar zurück, »schon heute bin ich der Meinung, daß Ihre jahrelangen Forschungen auf Irrtümern beruhen. Ich würde daher niemals die Bahnen weiter wandeln, die Sie einschlugen.«

Mit einem zärtlich vorwurfsvollen Blicke schaute Gervinus auf den Sprecher. »Ich liebe die heißblütige Jugend, ich bewundere deinen Mut, den du mit diesem Ausspruche an den Tag legst. Du stellst deine kaum zweijährigen Erfahrungen neben die einer fünfundzwanzigjährigen Forschung. Dieses Draufgehen ist das Recht der Jugend. Ich habe deine Forschungen nicht unbeachtet gelassen, habe in deinen Niederschriften viel Gutes gefunden. Du weißt, wir Aerzte tappen in Bezug auf das Rückenmark noch ziemlich im Dunkeln. Vielleicht ist es dir vorbehalten, etwas Licht hinein zu bringen. Du kennst meine Arbeiten und weißt, daß wir unsere Ansichten häufig auf Vermutungen aufbauen mußten, daß Irren menschlich ist.«

»So geben Sie zu,« gab Lothar mit leichtem Hohn zurück, »daß Ihre Werke eine strenge Nachprüfung nicht aushalten können?«

In ruhiger Würde erhob sich Gervinus. »Das gebe ich niemals zu, Lothar. Vom heutigen Standpunkte der Wissenschaft aus brauchen meine Arbeiten das Licht der Welt nicht zu scheuen. Im Gegenteil, sie sind für manchen zum Anreiz geworden, eifrig weiter zu forschen, und da das der Fall ist, kann ich mit dem Resultat recht zufrieden sein. Meine Bücher würden somit manches geschaffen haben.«

»Aber auch manches Unheil heraufbeschworen haben. Ein Menschenleben muß uns Aerzten viel zu kostbar sein, als daß wir es jemals zum Versuchsobjekte erniedrigen, auf Grund nicht vollkommen abgeschlossener Forschungen.«

»Der Ausspruch ehrt dich,« erwiderte Gervinus. »Nicht alle sind in der Jugend so überlegt. Aber daß du, der Arzt so spricht, das versetzt mich in Erstaunen, weil du weißt, daß wir Aerzte auch irren können.«

»So sollte man jedem seine eigene Meinung lassen und Sie sollten niemals versuchen, mich in Gewalt auf den von Ihnen betretenen Weg zu zerren.«

Gervinus schaute den Sprecher fest an. »So gehe denn allein den Weg, den du für den richtigen hältst. Ich wünsche dir Glück dazu.« Dann wandte er sich ab, denn das Herz war ihm schwer. Lothar aber ging mit kurzem Gruß hinaus.

Eva war von der Nachricht, daß sich der Bruder vom Gatten trennte, sehr niedergeschlagen. Sie hatte immer noch auf ein gutes Einvernehmen gehofft. Jetzt aber sah sie, daß sich Norbert und Lothar immer mehr auseinander lebten. Obwohl Gervinus Lothar zu entschuldigen versuchte, empfand es Eva doch als Undankbarkeit, deren sich der Bruder schuldig machte und sie suchte ihn deshalb auf, um ihn zum Bleiben bei ihrem Gatten zu bewegen. Aber Lothar verbat sich energisch jede Einmischung seiner Schwester, und so kehrte sie unverrichteter Sache wieder heim.

Lothar fand bald bei Professor Luttermann, ebenfalls eine Autorität auf dem Gebiete der Rückenmarksforschung, eine neue Anstellung und fühlte sich bei dem Professor äußerst wohl. An seiner Seite konnte er seine Tabesforschungen fortsetzen und auf den entgegengesetzten Bahnen wandeln, wie sie Gervinus mit seinen Forschungen eingeschlagen hatte.

Da wurde Professor Gervinus der ehrenvolle Auftrag zuteil, ein Mitglied des königlichen Hauses, das seit Jahren unter einer Rückenmarkerschütterung litt, zu behandeln. Alle Mittel zur Linderung dieses Leidens hatten bisher versagt, und so war man aus Professor Gervinus gekommen, der jetzt helfen sollte. Die Behandlung setzte ein, aber Gervinus sah sogleich, daß der Fall sehr schwer, fast hoffnungslos war, und der Professor war mitunter recht mutlos, wenn er sehen müßte, daß er für diesen eigenartigen Fall nicht das Richtige fand.

Nach kurzer Zeit erfolgten heimliche Angriffe. Es wurde behauptet, Gervinus behandle den königlichen Patienten falsch. In einem Artikel einer medizinischen Zeitschrift wurde der Professor heftig angegriffen, man warf ihm Fehler seiner Behandlung vor, und Gervinus war doch etwas erregt über diesen Angriff, der von einem Doktor Ludwig geschrieben war. Kurz darauf folgte in demselben Blatt eine zweite Arbeit, die in ganz fachmännischer Weise neue Richtlinien für die Behandlung des Patienten gab, und das veranlagte Professor Gervinus, dem unbekannten Schreiber wieder durch einen Artikel in der medizinischen Zeitschrift zu antworten. Das wirkte wie ein Alarmschuß. Ganz plötzlich erschienen von allen Seiten Berichte, Erfahrungen, Vermutungen über Tabesforschungen und schließlich spaltete sich das ganze große Lager der Spezialisten, indem die eine Hälfte sich zu Gervinus schlug, die andere aber ins Lager jenes Doktor Ludwig überging.

Sogar bis an den Hof drang die Kunde, daß man Professor Gervinus wegen seiner Diagnose anfeinde. Der Leibarzt des königlichen Hauses verschaffte sich diese Artikel und sprach schließlich mit Gervinus darüber, daß es vielleicht doch das beste sei, einmal nach den Vorschriften jenes anderen Arztes zu handeln. Diese Zweifel verletzten Gervinus aufs tiefste. Er hatte sein Möglichstes getan und erklärte dem Leibarzt kurz und bündig, man möge dann die Behandlung des hohen Patienten jenem anderen Arzte übertragen. Der Leibarzt, der einsah, daß er einen groben Fehler gemacht hatte, lenkte sogleich ein, aber als Gervinus nach abermaligem Verlaus einiger Wochen noch immer keine Besserung seines Patienten sah, schlug er selbst vor, jenen Doktor Ludwig heranzuziehen.

Groß war die Ueberraschung des Professors, als er im Beisein des Leibarztes jenen Doktor Ludwig zum ersten Male sah und in ihm seinen Schwager, Lothar Krenkow, erkannte. Er empfing ihn zwar mit freundlichem Blick, aber es schmerzte ihn doch tief, zu wissen, daß kein anderer als Lothar ihm diese Steine in den Weg legte und sein Lebenswerk zu untergraben suchte. Man besprach darauf alles Nähere und Gervinus erklärte sich bereit, den jungen Arzt ganz nach Belieben schalten und walten zu lassen, er werde fürs erste von der Behandlung zurücktreten. Auch Lothar machte sich das natürlich zur Bedingung. Wenn er hier helfen sollte, so durfte ihm niemand dreinreden.

Mit einem leisen Lächeln willigte Gervinus ein, dann verließ er das Schloß.


 << zurück weiter >>