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6. Kapitel

Doktor Gervinus und seine junge Frau waren von der Hochzeitsreise in ihr elegantes Heim zurückgekehrt. Die Wochen flossen für Eva in ständiger Abwechslung dahin. Der Gatte machte sie mit einer ihr völlig neuen Welt bekannt, sie lernte den Luxus kennen, aber trotz alledem blieb eine Leere in ihrem Innern, die selbst die zärtliche Liebe Norberts nicht auszufüllen vermochte. Gervinus war ein viel zu feiner Menschenkenner, um nicht zu wissen, daß sie litt. Er beobachtete sie heimlich und sah mit heißem Schmerz, wie sie, wenn sie sich allein glaubte, die lächelnde Maske abwarf, die Hände in stummer Qual rang und den Blick sehnsüchtig ins Weite richtete. Einstmals, als er sie gar in Tränen überraschte, stürzte er zu ihr hin und bettelte in leidenschaftlichen Worten um die Liebe seines Weibes.

Eva erschrak. Sie hatte geglaubt, ihre Rolle so gut zu spielen und mußte nun einsehen, daß ihr all ihre Verstellung nichts nützte. Zärtlicher als sonst schmiegte sie sich in seine Arme und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: »Habe nur noch ein Weilchen Geduld, ich werde es lernen dich zu lieben, wie du es verdienst.«

Frau Krenkow war ein häufiger Gast im Hause des Schwiegersohnes. Sie freute sich an dem Glück der Tochter und pries Norberts Güte immer aufs neue. Lothar hatte sein Examen mit Auszeichnung bestanden und arbeitete jetzt sein praktisches Jahr im Krankenhause ab. Er fühlte sich mit seinem Berufe zufrieden und sah wohlgemut in die Zukunft.

Aber auch das Unglück stellte sich ein. Frau Krenkow erkrankte ganz plötzlich, und schon nach wenigen Tagen wußte Gervinus, daß er das schwache Lebensflämmchen nicht zu erhalten vermochte. Man berief berühmte Spezialisten, aber alles war vergeblich. Frau Krenkow fühlte selbst, daß es mit ihr zu Ende ginge und ruhig sah sie der Sterbestunde entgegen, wußte sie doch ihre beiden Kinder gut versorgt. In ihrer letzten Stunde hielt sie die Hand des Sohnes in der ihren.

»Ich gehe gerne von dieser Welt, mein Kind, nur eines macht mir noch Sorge. Ich fürchte, daß du nach meinem Hinscheiden vergessen wirst, was du unserem Wohltäter schuldig bist. So bitte ich dich heute, erfülle den letzten Wunsch deiner sterbenden Mutter. Gervinus hat dir bereits zweimal angeboten sein Mitarbeiter zu werden, du aber hast es ohne triftigen Grund ausgeschlagen. Tue mir die Liebe an und versprich mir, der Assistent und Mitarbeiter Norberts zu werden. Das wird dir den Aufstieg erleichtern.«

»Quäle dich nicht damit, Mutter,« versetzte Lothar. »Du wirst gesund werden und wir beide werden gemeinsam –«

»Sprich nicht so töricht, Lothar. Du weißt genau, daß es mit mir zu Ende geht. Reiche mir also jetzt deine Hand und versprich mir, dich dem Willen deines Schwagers unterzuordnen. Du bist es ihm schuldig.«

In heftiger Bewegung preßte Lothar die Hand der Mutter. »Ich werde niemals vergessen, Mutter, daß ich eine große Dankesschuld an ihn abzutragen habe. Aber warum wollt ihr mich zwingen, mit einem Manne zu arbeiten, den ich nicht lieben kann?«

»Versprich es mir, Lothar!«

Sie schloß ermattet die Augen und voller Schrecken sah Lothar, wie sich ihr Gesicht immer mehr verfärbte. Voller Sorge rief er nach der Schwester, die sich mit dem Gatten im Nebenzimmer aufhielt. Sie kamen und voller Teilnahme betrachtete Gervinus die Sterbende. Da schlug Frau Krenkow noch einmal die Augen auf, und als sie die drei um sich sah, lächelte sie glücklich. Mit letzter Anstrengung nahm sie die Hand des Schwiegersohnes in die ihre.

»Hüte mir meine Eva und halte auch deine Hand über Lothar.«

Dann streckte sie die Rechte nach dem Sohne aus. »Versprich mir, mein Kind, in treuer Dankbarkeit und Pflichterfüllung mit deinem Schwager zusammenzuarbeiten, damit ich ruhig einschlafen kann.«

Gervinus neigte sich über das Bett der Sterbenden: »Du weißt, Mutter, ich liebe deine Kinder. Sie werden mir teuer sein, als gehörten sie für Zeit und Ewigkeit zu mir.« Dann faßte er nach der Hand Lothars: »In gemeinsamer Arbeit wollen wir schaffen, zum Wohle der ganzen Menschheit. Du und ich. Willst du, Lothar?«

Der Sohn sah die bittenden Augen der Mutter auf sich gerichtet. Da hob er die Hand und legte sie in die des Schwagers: »Ich will es versuchen.«

Ein glücklicher Ausruf kam von den Lippen der Sterbenden, ihre Hände hoben sich noch einmal, um sich segnend auf das Haupt des Kindes zu legen, dann sank sie friedlich lächelnd in die Kissen zurück. Eva aber warf sich in erschütterndem Weinen über das Bett der Entschlafenen. –

Wochen waren über die Beerdigung dahingegangen und der heftigste Schmerz war von Eva überwunden. Gervinus bemühte sich mit doppelter Zärtlichkeit, Eva das Schwere der verflossenen Wochen vergessen zu machen.

An einem Morgen meldete der Diener, daß ein ziemlich herabgekommen aussehender Mann den Arzt zu sprechen wünsche. Gervinus, der seine Pflichten als Arzt stets ernst nahm, ließ jenen Mann, der sich Scholz nannte, in sein Arbeitszimmer führen und schritt dann selbst hinüber.

Der Fremde mochte etwa sechzig Jahre zählen, seine Kleidung war abgerissen und das rot aufgedunsene Gesicht zeigte deutlich, daß er dem Alkohol reichlich zusprach. Seine Sprache war übermäßig laut, sein Gesicht wirkte abstoßend und widerlich. In ruhiger Weise fragte der Arzt, was den Fremden zu ihm führe.

Der Mann zog ein unsauberes Tuch aus der Tasche, drückte es an die Augen und begann überlaut zu schluchzen.

»Die Not, Herr Professor, die übergroße Not treibt mich zu Ihnen. Der gnädige Herr ist schon einmal der Engel einer armen Familie geworden. Aus der Zeitung habe ich gelesen, daß meine einstige Freundin und Hausgenossin von den lieben Englein in den Himmel geholt wurde und das preßt mir jetzt Tränen aus den Augen.«

»Ich bitte, kommen Sie zur Sache. Was wünschen Sie?«

»Ja, die große Not, gnädiger Herr, treibt mich her! Der Himmel möge Sie und Ihre Familie vor solcher Not bewahren.«

Ungeduldig faßte Gervinus in die Tasche, holte ein Geldstück heraus und reichte es dem Manne. »Sie sind ein kräftiger Mensch, Sie sollten lieber arbeiten, als Ihre Zeit in Wirtshäusern zu verbringen. Hier nehmen Sie das und gehen Sie, denn Sie wollten wohl doch nur eine Unterstützung haben.«

Scholz griff nach dem Geldstück, schob es in die Tasche, dann hob er beschwörend die Hände in die Höhe. »O, gnädiger Herr, wie verkennen Sie mich, ehrlicher Mann! Ganz etwas anderes führt mich zu Ihnen her. Ich wollte Sie bitten, meine fleißige Tochter Wanda als Bedienerin Ihrer lieben Frau anzunehmen.«

»Ich bedaure, wir sind mit Personal versehen.« Gervinus machte eine ungeduldige Bewegung nach der Tür.

»Meine Tochter Wanda und Ihre liebwerte Frau sind Freundinnen. Sie würde kein größeres Glück kennen, als bei Ihrer lieben Gattin Dienste zu verrichten. Sie schickt mich her, um den gnädigen Herrn um diesen Vorzug zu bitten.«

»Freundinnen,« wiederholte Gervinus. »Wollen Sie sich nicht näher erklären?«

Umständlich nahm Scholz auf der äußersten Ecke eines Stuhles Platz und begann nun, während er seine Worte mit großen Gesten begleitete, von der Vergangenheit zu erzählen. Er sei einst Portier gewesen, in dem Hause, in dem der arme Fritz Krenkow, sein bester Freund, gewohnt habe. Seine Tochter Wanda habe oft mit der viel jüngeren Eva gespielt und beide Kinder seien Freundinnen geworden. Er selbst hätte sich für Fritz Krenkow aufgeopfert und sei dann, aus Gram über dessen Tod, so heruntergekommen.

»Ehrenwort, gnädiger Herr, ich bin ein fleißiger Mann, der von früh bis spät arbeitet. Nur in allzu großem Jammer suche ich Trost in dem Getränk, das man Alkohol nennt.«

»Wir brauchen kein Personal,« wiederholte Gervinus. »Sollte später Bedarf eintreten, werde ich auf Sie zurückgreifen.«

Scholz hob die gerungenen Hände, aber Gervinus wehrte kurz ab. »Ich habe nicht länger Zeit. Guten Tag.«

Da funkelten die kleinen Augen des Mannes. »Fritz Krenkow war mein Freund. Noch am Abend, ehe er zu Ihnen in die Klinik kam, habe ich mit ihm gesprochen. Eine ganze Stunde lang. Er hat gesagt: Karl, hat er gesagt, was soll ich tun?«

Gervinus maß den Sprecher mit einem durchdringenden Blick. »Was Sie mit Krenkow gesprochen haben, geht mich nichts an.«

»Ich habe ihm gesagt: Fritz, sieh dich vor, so ein Arzt ist kein Hexenmeister. Ein Leben ist schnell ausgelöscht. Ach, Herr Doktor, meine Wanda ist ein gutes Mädchen. Ueberlegen Sie sich die Sache. Hier ist meine Adresse.«

Ehe Gervinus noch etwas erwidern konnte, war Scholz zur Tür hinaus und hatte einen unsauberen Zettel mit seiner Adresse zurückgelassen.

In tiefem Sinnen ging Gervinus in sein Wohnzimmer zurück und Eva bemerkte sofort die leichte Verstimmung. Auf ihre Frage erzählte er halb lachend, halb ärgerlich von dem Besuch und von der Wanda, die durchaus bei Eva dienen wolle.

Er hatte geglaubt, Eva würde ohne weiteres jede Berührung mit dem Einst zurückweisen, er wunderte sich daher höchlichst, als Eva garnicht abgeneigt war, Wanda in Dienst zu nehmen, da das eine der Mädchen ohnehin seine Stellung verlassen wolle.

»Die Leute sind uns damals oft gefällig gewesen und haben dem kranken Vater und auch der Mutter beigestanden. Ich halte es daher für richtig, wenn ich mich jetzt ein wenig der Familie annehme.«

»Aber, Eva, bedenke doch den verkommenen Mann.«

»Ich will ja nur seine Tochter zur Zofe haben. Vielleicht läßt sich dadurch auch der Vater bessern. Tue mir den Gefallen, Norbert, und schreibe an Wanda Scholz, sie möge einmal herkommen. Hat sie sich nach der ungünstigen Seite entwickelt, können wir ja immer noch von einem Engagement absehen.«

Gervinus war mit den Plänen seiner Frau nicht ganz einverstanden. Die Andeutungen des Trunkenboldes hatten die Vergangenheit wieder lebendig in ihm gemacht. Aber da Eva nochmals dringend bat, gab er nach und schrieb an Wanda, sie möge sich am übernächsten Tage einfinden.

Sie kam. Prüfend betrachtete Gervinus das etwa Mitte der Zwanzig stehende Mädchen, dessen üppige Gestalt von einem einfachen aber sauberen Kleide umschlossen war. Das sorgsam frisierte kupferrote Haar leuchtete auffallend über der weißen Stirn. Ihr Benehmen war bescheiden und gewandt, und da sie tadellose Zeugnisse aufzuweisen hatte, gab Gervinus schließlich seine Zustimmung. So wurde beschlossen, daß Wanda am kommenden Ersten ihre neue Stellung bei Eva antreten sollte, und das junge Mädchen schien darüber sehr beglückt.

Zur festgesetzten Zeit zog sie an und fand sich überraschend schnell in alle ihr übertragenen Arbeiten. Norbert, der sich nach Verlauf eines Monats über Wanda bei Eva erkundigte, erfuhr nur das beste über die neue Zofe. Da ließ er Wanda zu sich rufen und nahm mit ihr wegen des Vaters Rücksprache. Das junge Mädchen erzählte niedergeschlagen, daß der Vater erst seit wenigen Jahren so sehr dem Alkohol zuspräche, daß sie selbst sich vergeblich bemüht hätte, ihm eine Stellung zu verschaffen, damit er sich bessere.

Da machte ihr Gervinus den Vorschlag, er wolle Karl Scholz in seinem Laboratorium für die Reinigungsarbeiten anstellen. Bedingung sei allerdings, daß er sich den Alkohol abgewöhne, denn einen Trinker könne er nicht gebrauchen.

Mit leidenschaftlichen Worten dankte Wanda dem Arzt. Sie wolle noch heute mit dem Vater sprechen und ihm ernstlich ins Gewissen reden. Sie bat Gervinus, er möge nicht zu streng mit ihm ins Gericht gehen, der Vater werde sich gewiß bessern.

Am nächsten Tage kam Scholz zu Gervinus. Er fiel vor dem Arzt auf die Knie und beteuerte, er wolle nie wieder einen Tropfen Alkohol über seine Lippen bringen. Gleich heute wolle er dem Verein des blauen Kreuzes beitreten und nur noch für seinen Wohltäter arbeiten.

Energisch wehrte Gervinus ab. Er ermahnte Scholz nochmals, sich das Trinken abzugewöhnen, aber auch sein prahlerisches Wesen und den theatralischen Ton zu lassen, denn nur so könne er ihn gebrauchen. Und wieder schwur Scholz, er werde alles tun, denn er sei ein ehrlicher Mann.

[Kapitelnummerierung ab hier falsch im Buch. Geändert Re.]


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