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1. Kapitel

Die hohen Kastanienbäume, die den prächtigen Tennisplatz in weitem Umkreise umstanden, ließen die brennenden Sonnenstrahlen nicht in voller Glut herniederfallen. Der Platz war zum Teil beschattet und bot allen Spielenden, selbst in den Mittagsstunden, genügenden Schatten. Kein Wunder, daß sich hier zu jeder Tageszeit das Sportleben abspielte. Auch jetzt standen bereits drei Personen wartend an dem Netz in leichtem Geplauder. Die beiden Damen in äußerst eleganten Tennisanzügen waren besonders ungeduldig, die Uhr zeigte bereits zehn Minuten nach fünf und noch immer war der zweite männliche Partner nicht zu sehen.

Doktor Lüske schwang ungeduldig die Schläger in der Hand. »Wahrscheinlich hält irgend ein wichtiger Patient unseren verehrten Doktor Gervinus so lange zurück. Ich würde mir das nicht gefallen lassen, denn es gibt kein größeres Verbrechen, als Sie, meine verehrten Damen,« er machte eine leichte Verbeugung zu den weißgekleideten Gestalten hin, »so lange warten zu lassen.«

»Ich glaube nicht recht an den Patienten,« lachte die größere der beiden Damen und schaute mit ihren dunkelbraunen Augen den Sprecher voll reizender Schelmerei an. »So wie ich Herrn Doktor Gervinus kenne, wirft der einfach Patienten, die ihm nicht passen, hinaus.«

Die andere Dame stimmte lachend bei. »Du hast ganz recht, Gertraude, Vater erzählte mir erst gestern, daß unser Doktor Gervinus sogar eine junge Dame an die Luft gesetzt hat, die ihm gar zu wehleidig ihren Kummer klagte. Ich finde das von einem Arzt äußerst spassig, denn schließlich ist er doch dazu da, um den Menschen Erleichterung ihrer Leiden zu verschaffen.«

Doktor Hans Lüske, ein junger Assessor und langjähriger Bekannter der beiden Damen, strich sich sein blondes Schnurrbärtchen. »Ich muß Ihnen vollständig recht geben, mein gnädiges Fräulein, da aber unser Doktor Gervinus es, vermöge seines kolossalen Vermögens, nicht nötig hat auf Patienten zu warten, so kann er sich den Sport des Hinauswerfens von Personen, die ihm nicht behagen, schon leisten. Er hat überhaupt die Absicht, die gesamte Praxis aufzugeben und sich nur noch seinen Forschungen zuzuwenden.«

Eleonore Willig, eine zarte Hellblondine, schlug lachend die Hände zusammen. »Unser lieber Doktor wird über seine Forschungen noch ganz den Verstand verlieren. Was erforschet er denn jetzt wieder?«

»Ich glaube, er hat immer noch das Serum vor, durch das Halbtote wieder gesund und kräftig werden sollen.«

»Also so eine Art Jungbrunnen, nicht wahr?«

»Ich kann Ihnen darüber leider keine genaue Auskunft geben. Aber wenn ich nicht irre, kommt Gervinus dort an.«

Während Eleonore Willig ruhig neben dem Assessor stehen blieb, eilte Gertraude von Eppendorf lebhaft dem Näherkommenden entgegen. In ihre dunklen Augen trat ein freudig-glücklicher Ausdruck, als jetzt der junge Arzt um die letzte Ecke bog. Da er die weißgekleidete Gestalt so dicht vor sich sah, glitt auch über sein vornehmes, blasses Gesicht ein heller Schein.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich mich so verspätete. Aber meine Gedanken waren schon längst hier und,« fügte er etwas leiser hinzu, »besonders bei Ihnen.«

Ein leichtes Rot huschte über Gertraudens Wangen, als Gervinus die Hand der jungen Dame an seine Lippen führte und einen langen, zärtlichen Kuß darauf drückte.

Ein Anruf vom Tennisplatz her ließ die beiden rasch auseinander fahren.

»Zehn Minuten nach fünf, Norbert! Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige und die der Mediziner.«

Der Neuangekommene, der alle drei Anwesenden fast um Kopfeslänge überragte, dessen sehnige und doch schlanke Gestalt vorteilhaft auffiel, brachte nun auch seine Entschuldigung bei Eleonore Willig an.

»Wir sind schon halbtot vom Warten, bester Herr Doktor,« lachte die Hellblondine. »Haben Sie vielleicht zufällig eine Spritze Lebenselixier bei sich?«

»Lebenselixier?« gab Norbert Gervinus fragend zurück.

Eleonore drohte ihm lächelnd mit dem Finger. »Nun ja, man erzählt doch, daß Sie so etwas ähnliches erfunden haben. In zwanzig Jahren werde ich mich bei Ihnen einfinden, dann können Sie mir solch' eine Spritze verabfolgen und sofort blühe ich wieder wie ein Röschen.«

Mit einem leichten Lächeln verneigte sich Gervinus. »In zwanzig Jahren, meine Gnädige, stehen Sie auch noch im Zauber Ihrer Jugend, Sie würden das Lebenswasser, selbst wenn ich es wirklich erfunden hätte, auch dann nicht nötig haben.«

Da nahm Doktor Lüske das Wort: »Ja, bester Norbert, willst du uns denn nicht verraten, worüber du dir eigentlich den Kopf zerbrichst?«

Ein fragender Blick aus den Augen des jungen Arztes flog zu Gertraude von Eppendorf hinüber, die jetzt lebhaft nickte. »Ach, bitte, es würde uns sehr interessieren, Näheres darüber zu erfahren.«

Da brach Gervinus in ein helles Lachen aus. »Aber meine verehrten Damen, der Tennisplatz ist doch kein Hörsaal. Außerdem müßte ich Ihnen mit so gelehrten Dingen aufwarten, daß Sie sich sicherlich darüber langweilen würden. Beginnen wir lieber mit dem Spiel und lassen Sie mir meine Erfindung für die einsamen Stunden.«

Da sahen auch die beiden Damen ein, daß der junge Arzt recht hatte, und bald war das Spiel in bestem Gange. Gervinus war weitaus der beste Spieler, aber fast als ebenbürtige Partnerin stand ihm Gertraude gegenüber, und so schwankte das Glück hin und her.

Die Zeit verrann in größter Schnelligkeit. Alle vier Personen gaben sich so völlig dem Genusse dieses Sportes hin, daß ein Ruf des Bedauerns aus aller Munde klang, als sich zwei Stunden später eine neue Spielgesellschaft auf dem Tennisplatz einfand. So mußte man daran gehen, die Tennisgeräte einzupacken und rüstete sich zum Aufbruch.

Wie immer schritten Gervinus und Gertraude voran. Dieser Heimgang war für das junge Mädchen die Krönung der Tennistage. Sie bedauerte nur, daß dieser Weg nicht Stunden währte. Seit dem ersten Augenblicke, da sie den jungen Arzt im Hause ihrer Freundin Eleonore kennen gelernt hatte, fühlte sie eine starke Sympathie, die sich immer mehr vertiefte, und da sie auch bemerkte, daß Doktor Gervinus an ihr Gefallen fand, so hoffte sie sehnsüchtig auf die Stunde, da ihr der Arzt die Hand zum Bunde für's Leben bieten würde

Gertraude interessierte sich lebhaft für seine Forschungen, aber bisher war es ihr trotz aller Fragen nicht möglich gewesen, erschöpfende Auskünfte von Gervinus zu erhalten. Dabei hätte sie doch so gerne gewußt, ob die Arbeiten des Arztes rasch und glatt vorwärts schritten und welche Hoffnungen er auf die Zukunft setzte.

So begann sie auch jetzt wieder von dem zu reden, was ihr Innerstes bewegte, und in fast bittendem Tone brachte sie abermals die Frage vor, welchen Zwecken das von Gervinus erfundene Serum dienen solle.

»Obwohl es noch nicht an der Zeit ist, davon zu sprechen, obwohl meine Forschungen noch lange nicht abgeschlossen sind, will ich Ihnen doch verraten, daß ich berechtigte Hoffnungen hegen darf, Erfolge zu erzielen. Das Leiden, gegen das mein Serum in Anwendung kommen soll, ist so furchtbar, daß es Menschenpflicht ist, sich eifrig mit dem Gedanken zu befassen, Abhilfe zu schaffen.«

»Und welches Leiden ist das?«

»Wir nennen es Tabes dorsalis, die Rückenmarkschwindsucht. Sie, mein gnädiges Fräulein, werden wenig wissen von den Unglücklichen, die mehr und mehr von vollkommener Lähmung ergriffen, die zum Schlusse schwachsinnig werden und elend zu Grunde gehen.«

»O, ich kenne dieses Leiden wohl, Herr Doktor. Ich sehe täglich solch' einen Unglücklichen. Kein Arzt kann ihm helfen. Der Mann ist ganz verzweifelt, denn da er nichts verdienen kann, ist seine ganze Familie der bittersten Not preisgegeben.«

Gervinus hob aufhorchend den Kopf. »Was ist das für ein Mann?«

»Er gehört den ganz einfachen Ständen an, soll früher irgendwo Reitknecht gewesen sein, hat dann die Stelle eines Hauswarts angenommen, und jetzt bewohnt er eine Kellerwohnung in unserem Hause. Wovon dieser Krenkow mit seiner leidenden Frau und seinen beiden Kindern lebt, weiß kein Mensch. Er sucht nach Kräften, trotzdem er rückenmarkleidend ist, gelegentlich etwas zu verdienen, aber natürlich will niemand diesen Kranken um sich dulden und so verkommt seine ganze Familie. Ist das nicht entsetzlich?«

»In welchem Stadium des Leidens befindet sich dieser Kranke?«

Gertraude zuckte leicht die Achseln. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Doktor. Ich bin viel zu wenig Kennerin dieses Leidens, aber wenn es Sie interessiert, so können Sie sich vielleicht diesen Krenkow selbst einmal ansehen. Ich bin überzeugt, daß er jetzt daheim ist und wie alle Tage im Hof auf der Bank sitzt.«

Gervinus stimmte freudig zu. Er, der sich jetzt seit Beendigung seiner medizinischen Studien mit dem Gedanken trug, ein Mittel gegen diese furchtbare Krankheit zu finden, brachte natürlich jedem Fall von Tabes das regste Interesse entgegen. Sein großes Vermögen erlaubte ihm diese eingehende Forschung. Die Privatpraxis war ihm vollkommen gleichgültig, und da er als Arzt nicht sonderlich liebenswürdig war, fanden sich nicht allzuviele Patienten ein. Norbert war es daher angenehm, ungestört seinen Forschungen nachgehen zu können, denn er hoffte, endlich zum Ziele zu kommen.

So sehr ihn sonst das Geplauder Gertraudens anzog, heute waren seine Gedanken bereits in andere Bahnen gelenkt. Er wollte jenen Kranken sehen und, wenn möglich, mit ihm sprechen.

Gertraude hatte recht vermutet. Durch das große Haustor übersah man den ganzen Hof, und mit dem Kopf wies das junge Mädchen auf einen Mann, der mit geschlossenen Augen auf einer Bank saß und sich völlig erschöpft gegen die Wand lehnte.

»Wenn Sie es wünschen, Herr Doktor, gehe ich jetzt mit Ihnen zu Krenkow und mache Sie mit dem Manne bekannt.«

Mit dankbarem Blick nahm der Arzt das Anerbieten an und nach wenigen Augenblicken standen die beiden vor dem Kranken.

Auf den ersten Blick erkannte Gervinus, daß der Mann, der selbst zugab, daß er seit sechs Jahren sich immer elender fühle, daß das Fortbewegen ihm größte Schwierigkeiten verursachte, kaum mehr auf ein langes Leben zu rechnen hatte. Vorsichtig fragte Gervinus, ob Krenkow über den Ursprung des Leidens irgend welche Auskünfte geben könne, aber der Kranke konnte nur berichten, daß er seit einer Reise nach Norwegen, die er als Stallmeister mitgemacht hatte, ein allmähliches Siechtum bemerkt habe. Das Gefühl in den Beinen sei völlig verschwunden, die Gelenke verlören immer mehr ihren festen Halt und das Verstehen werde ihm recht schwer. Auch fühle er eine immer drückendere Schwere im Gehirn, und so glaube er, daß das Ende ihm bald bevorstehe.

Auf die teilnehmenden Fragen Gertraudens nach der kranken Frau und den beiden Kindern berichtete Krenkow, daß es am besten sei, man machte gemeinsam dem Leben ein Ende, denn er könne die herrschende Not kaum mehr mit ansehen. Apathisch nahm er das von dem jungen Mädchen in die Hand gedrückte Geldstück entgegen, dann erhob er sich schwerfällig und bedeutete den beiden, die Unterhaltung hätte ihn zu sehr angestrengt. Er müsse ins Haus, um zu ruhen.

Gervinus ließ ihn gewähren und verabschiedete sich dann mit einem herzlichen Dank von Gertraude. Er beschloß, am nächsten Tage, ohne Wissen des jungen Mädchens, abermals den Kranken aufzusuchen, um ihn sich noch eingehender zu betrachten.

Gesagt, getan. In der frühen Morgenstunde des nächsten Tages war Norbert wieder bei Krenkow. Er ging direkt in dessen Wohnung, fand eine blasse, halb verhungerte Frau von heftigem Lungenhusten geschüttelt im Bett und sah auch die beiden Kinder, die sich soeben anschickten in die Schule zu gehen. Der etwa zwölfjährige Knabe schien ganz genau zu wissen, wie groß die Not daheim war, denn seine schönen, großen Augen blickten voller Schwermut in die Welt. Auch das um vier Jahre jüngere Schwesterchen, Eva, schlich scheu und gedrückt einher, und doch wäre dieses reizende Kind dazu geschaffen gewesen, Freude und Frohsinn um sich her zu verbreiten, denn mit den blonden Locken, die sich nur widerspenstig zu einem Zopfe zwingen ließen, mit den prächtigen blauen Augen, sah sie wie lachender Frühling aus.

Da stieg zum ersten Male der Gedanke in Doktor Gervinus empor, an diesem Manne, der doch mit seinem Leben schon abgeschlossen haben mußte, den Versuch zu machen, ob das Serum Linderung bringen könnte. Aber gleich im nächsten Augenblicke wies er diesen Gedanken wieder weit von sich. Seine Forschungen waren längst noch nicht abgeschlossen. Er konnte unmöglich ein Menschenleben aufs Spiel setzen, selbst wenn das Lebensflämmchen schon nahe dem Verlöschen war. Er wußte, er arbeitete mit starken Giften, die leicht großes Unheil bringen konnten, und wenn auch seine Versuche an Tierkörpern von Erfolg gekrönt waren, wer garantierte ihm dafür, daß sich beim menschlichen Individuum die gleichen glücklichen Symptome zeigten.

Aber der Wunsch in ihm wurde immer größer, und ganz behutsam begann er dem Manne gegenüber von seiner Erfindung zu sprechen.

»Ich würde Ihnen natürlich ein fürstliches Honorar zahlen, falls Sie sich bereit erklärten, sich dieses Serum von mir einspritzen zu lassen. Ich verhehle aber nicht, daß es sich hier um einen Versuch handelt, der auch unglücklich ausgehen könnte. Aber wenn dies der Fall wäre, so würde ich mich natürlich für verpflichtet halten, für die Ihrigen lebenslänglich zu sorgen.«

Krenkow rieb sich mit der zuckenden Hand die Stirn. »Ist das wahr, was Sie mir sagen. Sie würden für die Meinen sorgen, wenn ich nicht mehr bin? Ist das wirklich Ihr Ernst?«

In den Augen des Arztes flammte es auf. Sollte er wirklich einen Menschen gefunden haben, der sich ihm als sogenanntes Versuchskaninchen zur Verfügung stellte? Es brauste in seinen Ohren, alles Blut stieg ihm siedend heiß zu Kopfe und mit raschem Griff faßte er nach der Hand Krenkows.

»Ich gebe Ihnen mein Manneswort, außerdem bin ich bereit, gerichtlich niederzulegen, daß ich für Ihre Kinder mein Leben lang sorgen will, falls Ihnen etwas menschliches dabei zustoßen sollte.«

Krenkow faltete die Hände. »Lassen Sie mir Zeit bis morgen, Herr Doktor. Ich will mit mir zu Rate gehen, aber wenn ich Frau und Kinder sichergestellt weiß, was könnte ich dann besseres tun, als mich in Ihre Hände zu geben.«

»Ueberlegen Sie es sich wohl, Krenkow,« entgegnete Gervinus ernst. »Sie müßten mir natürlich eine Bescheinigung geben, daß Sie aus freien Stücken und unbeeinflußt sich meiner Kur unterzogen haben.«

»Alles, alles will ich tun, Herr Doktor. Kommen Sie morgen wieder, dann will ich Ihnen sagen, zu welchem Entschluß ich kam. Wann wollen Sie den Versuch unternehmen?«

Eine leise Unsicherheit bemächtigte sich des Arztes. Wieder kam ihm das Bedenken, hier ein Unrecht zu tun, aber dann siegte in ihm das Verlangen, das Serum endlich ausprobieren zu können.

»Ich dachte, schon in wenigen Tagen die erste Spritze zu geben. Sie würden in eine Klinik kommen und ganz in meiner Behandlung stehen. Aber überlegen Sie es sich erst reiflich. Morgen bin ich wieder bei Ihnen und hole mir die Antwort. Für heute nehmen Sie diesen Schein und sorgen Sie dafür, daß Ihre Frau kräftige Stärkungsmittel, gute Weine, eine Fleischbrühe und Eier bekommt. Ich werde ihr ein Rezept niederschreiben, das lassen Sie in der Apotheke anfertigen.«

Willenlos nahm Krenkow das Geld entgegen und sah mit müden Augen zu, wie Norbert Gervinus die Medizin verschrieb.

Als dann wenige Augenblicke später der Arzt das Haus verließ, da stützte Krenkow schwer das Haupt in die Hände.

»Ich werde es tun, ich muß es tun, was liegt denn daran, ob ich noch einige Wochen länger dieses furchtbare Dasein friste, wenn nur Frau und Kinder versorgt sind. Er scheint es ehrlich zu meinen. Wenn er euch sicherstellt, so will ich ihm zu Willen sein.«


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