Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.
Bärbel reift heran

Monat auf Monat war vergangen. Es erschien Bärbel fast unglaublich, daß beinahe ein Viertel der gesamten Lehrzeit vorüber sein sollte. Wie oft hatte sie im Anfang gesagt, daß die tausend Tage niemals vergehen würden.

Nun war der Sommer ins Land gezogen, Bärbel gewann ihre Tätigkeit von Woche zu Woche lieber. Wohl bestand zwischen ihr und Fräulein Pertis noch immer die gleiche Abneigung, aber Bärbel wußte, daß sie an dem Chef einen starken Rückhalt hatte, sie fühlte es täglich neu heraus, daß Herr und Frau Brausewetter ihrer jungen Elevin von Herzen zugetan waren; außerdem zeigte sich das junge Mädchen in allen Arbeiten als gewissenhafte Helferin.

Sehr erfreut war Goldköpfchen von der Nachricht, daß Herr von Sasseneck aus dem Atelier ausscheide. Der Photograph plante, für die Sommermonate in einen Badeort zu gehen, und wollte auch im Herbst nicht wieder zu Herrn Brausewetter zurückkehren. Der Grund für diese Änderung lag darin, daß Fräulein Pertis dauernd Differenzen mit dem Kollegen hatte.

Bärbel kümmerte sich nicht viel darum, hörte jedoch heraus, daß Herr von Sasseneck in neuen Liebesfesseln schmachtete und mit Fräulein Pertis gebrochen habe. Demzufolge war das Zusammenarbeiten ein recht peinliches, und als der Juni ins Land kam, packte Sasseneck seine Sachen und verließ das Atelier.

Er hatte sich nicht einmal ordnungsmäßig von Bärbel verabschiedet. Er war dann am letzten Abend seiner Tätigkeit bei Herrn Brausewetter wie an jedem anderen Tage gegangen und hatte Bärbel von der Tür aus zugerufen:

»Eine vernünftige Photographin wird aus Ihnen im Leben nicht. Sie haben ja keinen Ernst zur Sache. Ihnen sitzen ganz andere Dinge im Kopf.«

Bärbel erwiderte darauf nichts, sie fühlte im innersten Herzen, daß Brausewetters mit ihr zufrieden waren, was galt ihr da der Tadel des unfreundlichen Herrn von Sasseneck.

Es war ein neuer Herr angekommen, der Bärbel weit besser gefiel. Herr Münzinger stand ungefähr in den Vierzigern, begegnete Bärbel artig und höflich und war stets bereit, ihr Auskünfte zu geben. Er war außerordentlich gewandt und umsichtig, hatte die besten Manieren und fügte sich trefflich dem Atelier ein.

Da er noch unverheiratet war, gab sich Fräulein Pertis vom ersten Tage seines Hierseins die größte Mühe, ihm zu gefallen. Doch Herr Münzinger war nach wie vor zurückhaltend, obwohl Bärbel des öfteren hörte, daß ihm Fräulein Pertis mehr als nötig entgegenkam.

»Scheußlich,« sagte sie, »wie kann ein weibliches Wesen immer nur nach den Männern gucken! Ich bin eine Festung, ich will erobert werden. Aber ich heirate überhaupt nicht, ich habe meinen Beruf.«

An einem Vormittage, als sie wieder im Atelier bei Herrn Brausewetter arbeitete, fragte der Chef:

»Wir haben jetzt stille Zeit, ich möchte Ihnen gern einen zehntägigen Urlaub geben, Fräulein Wagner. Es wird Ihnen sicherlich lieb sein, einmal zu den Ihrigen reisen zu können.«

Bärbel schlug die Hände zusammen.

»Urlaub, – ganze zehn Tage! Ach, wie schön!«

»Es wäre mir am liebsten, wenn Sie noch im Juli heimfahren wollten.«

»Natürlich,« sagte Bärbel, »das wäre mir auch am liebsten; im Juli sind sie nämlich alle daheim, sogar Joachim kommt, er fährt freilich noch weiter, aber ich sehe ihn doch wenigstens; und die Zwillinge sind da, und der Papa hat auch etwas mehr Zeit. – Ach, es wird sehr fein sein!«

»Fräulein Pertis bekommt im August Urlaub, ich selbst verreise auch im August, während meine Frau schon in diesen Tagen abfährt, um sich zu erholen.«

»Wieder 'mal nach Hause,« jubelte Bärbel, »und ich hatte gedacht, daß ich nun drei lange Jahre keine Ferien hätte. – Ich danke Ihnen, Herr Brausewetter. Zehn lange Tage, – einfach herrlich!«

»Sie haben sich so anstellig gezeigt, in letzter Zeit kein Mißgeschick gehabt, da ist eine Belohnung am Platze.«

Stolz und strahlend ging Bärbel in die Dunkelkammer. Man ließ sie schon häufig allein darin arbeiten. Heute war ihr so froh und glücklich ums Herz, daß sie Mühe hatte, die Gedanken zu sammeln. – Sie durfte heim, – zehn Tage! Wenn auch zehn Tage nur der hundertste Teil von tausend Lehrtagen war, war es doch eine nette Spanne Zeit, die sie im Elternhause verleben konnte.

Bärbel nahm die schwere Steingutschale hoch, in der die Bilder zum Fixieren lagen. Sie wollte damit ins Nebenzimmer gehen, um bei Tageslicht nachzusehen, wie weit der Prozeß gediehen sei.

Zehn Tage würde sie daheim sein, zehn volle Tage. Wie würden sich die Eltern freuen, wenn sie ihnen sagen konnte, daß sie den Urlaub bekam, weil sie sich anstellig gezeigt hatte!

»Was hat er gesagt? Ich werde mir das für ewige Zeiten einprägen. Sie haben in letzter Zeit kein Mißgeschick gehabt – –«

Ein Aufschrei ertönte. Bärbel war über die Schwelle gestolpert, die ins Nebenzimmer führte. Die schwere Steingutschale glitt ihr aus den Händen, und die ätzende Flüssigkeit ergoß sich auf den Läufer, auf Bärbels Schürze, auf Schuhe und Strümpfe.

Bärbel war starr vor Schreck.

»Kein Mißgeschick gehabt,« stammelte sie, »was nun?«

Sie kniete am Boden, hob die Bilder auf, lief nach einem Lappen, um die Flüssigkeit fortzuwischen, sammelte die Scherben auf und sagte tiefunglücklich:

»Ob ich nun doch noch Urlaub bekommen werde? Ach je, – das kommt davon, wenn die Bäume in den Himmel wachsen!«

Herr Münzinger, der das Poltern vernommen hatte, kam herbeigeeilt. Er half Bärbel beim Aufräumen, er tröstete das verstörte junge Mädchen.

»Die Schale ist viel zu schwer für Sie, Fräulein Wagner. Warum tragen Sie sie überhaupt ins Nebenzimmer?«

»Da hat er nun gesagt, weil mir kein Mißgeschick passiert ist, darf ich heimreisen – – nun ist alles hin.«

»Ein Mißgeschick passiert jedem einmal.«

»Ich bin schrecklich dämlich, Herr Münzinger, – ach, ich habe im Leben schon so viel versiebt!«

»Wollen Sie sich nicht Ihre Schuhe säubern? Die Fixierflüssigkeit frißt die Farbe herunter.«

»Auch das noch,« sagte Bärbel. »Die Schuhe sind fast neu. Damit wollte ich noch in Dillstadt Staat machen. Ja ja, Hochmut kommt vor dem Fall!«

Sehr bedrückt ging sie zu Herrn Brausewetter, um ihm den Unfall zu beichten.

»Wenn Sie mich heute nicht gelobt hätten, wäre meine Brust nicht so freudig geschwellt gewesen. Aber ich war so selig, und nun habe ich alles wieder vernichtet.«

»Ihren Urlaub sollen Sie trotzdem haben, Fräulein Wagner, es bleibt bei dem, was ich sagte. Ein neues Lob kann ich natürlich nicht aussprechen, sondern Ihnen nur raten, bei allen Arbeiten die nötige Vorsicht walten zu lassen.«

Das war ja noch glimpflich abgegangen; trotzdem schmerzte es Bärbel, daß sie die Schale zerbrochen und sich wieder einmal recht ungeschickt gezeigt hatte. Aber der Gedanke an die bevorstehenden Ferien hellten ihr trübes Gesichtchen bald wieder auf. Die Großmama mußte natürlich mit nach Dillstadt. Man würde die Dresdener Wohnung zuschließen und sich in Dillstadt zehn vergnügte Tage machen.

Ihre Gedanken gingen weiter zu dem Freunde Harald. Auch er hatte erst kürzlich von seinem Urlaub gesprochen. Ob er wohl auch nach Dillstadt kam? Da wollte sie ihn doch am nächsten Sonntag gleich einmal fragen.

Von nun an kreisten Bärbels Gedanken nur um die bevorstehende Reise ins Elternhaus. Sie hatte bereits dreimal heimgeschrieben, daß sie käme, durch jede Zeile klangen Sehnsucht und Jubel. Sie erzählte es jedem Kunden, mit dem sie Gelegenheit hatte, zu sprechen, und Fräulein Pertis meinte schließlich spitz:

»Ist denn Dillstadt so schön, daß eine Reise dorthin lohnt?«

»Dillstadt ist herrlich!«

»Liegt es in den Bergen oder an der See?«

»Nein, – aber es ist wunderbar schön!«

»Das verstehe ich nicht. – Ich will in diesem Sommer an den Rhein, ich liebe den eigenartigen Zauber dieses Stromes. Dort sieht man Burgen, herrliche Weinberge, elegante Städte, wundervolle Weinstuben und die fröhliche Bevölkerung. Ja, am Rhein da ist das Leben, das ich brauche.«

Am nächsten Sonntag, als der Ingenieur wieder Gast im Lindbergschen Hause war, berichtete Bärbel mit strahlenden Augen, daß sie im nächsten Monat heim dürfe.

»Komm doch auch mit, Harald!«

»Ich habe leider erst im August meinen Urlaub. Das geht nicht zu ändern.«

»Fräulein Pertis hat auch im August Urlaub. – Wo willst du denn hin?«

»An den Rhein.«

Die Gabel, die Bärbel soeben in der Hand hielt, fiel klirrend auf den Teller.

»An den Rhein,« wiederholte sie klanglos, »zu den Ruinen, den fröhlichen Menschen, in die Weinstuben – – hm, – an den Rhein.«

»Warum bist du darüber so unglücklich, Bärbel?«

»Wer fährt denn mit zu den Ruinen und den schönen Weinbergen?«

»Niemand, Bärbel.«

»Ist es am Rhein denn wirklich viel schöner als in Dillstadt?«

»Es ist eine ganz andere Landschaft, ich glaube aber, daß du dich ebenso sehr auf Dillstadt freust wie ich auf den Rhein. Ich kenne ihn noch nicht, Bärbel. Ich hatte in meinem Leben niemals Gelegenheit, eine Reise zu machen. Ich kam zu euch, das war meine Erholung. Und nun zieht es mich nach diesem deutschen Strome, dem sagenumwobenen Flusse.«

»Dann kannst du doch auch wo anders hinfahren. Es gibt noch viele Orte mit Sagen, das Riesengebirge, – den Harz – – die Ostsee, auch an der Nordsee hat sich allerlei ereignet, und das ist auch deutsches Land.«

»Warum soll ich denn nicht an den Rhein, Bärbel?«

»Wenn du dort die olle Pertis triffst, hängt sie sich an deine Sohlen, dann geht ihr zusammen in die Weinberge, in die Weinstuben, auf die Ruinen.«

»Ich glaube nicht, daß ich Fräulein Pertis treffen werde. Hat sie auch im August ihren Urlaub?«

»Das ist es ja eben! Sie will auch an den Rhein, vielleicht ahnt sie, daß du hinfährst.«

Glücklich lachte Harald auf. Diese Äußerungen waren die ersten Anzeichen der Eifersucht, und das beglückte den jungen Ingenieur. Wenn er Bärbel gleichgültig gewesen wäre, hätte sie sicherlich nichts dagegen gehabt, wenn er mit Fräulein Pertis zusammentreffen würde.

»Es liegen mehr als fünfzig Ortschaften am Rhein, mein kleines Bärbel, da trifft man sich nicht so leicht. Außerdem habe ich gar kein Verlangen, mit Fräulein Pertis zu wandern.«

»An den Rhein möchte ich auch einmal. Wenn ich ausgelernt habe, fahren wir einmal zusammen hin.«

»Das wäre herrlich, Bärbel!«

»Wird gemacht, – ich verdiene mir das Geld, und dann geht es los. Wenn du nun aber ganz zufällig mit der Pertis zusammentriffst, dann tue doch so, als ob du sie nicht erkennst.«

Er lachte, griff nach Bärbels Hand und drückte sie.

Der Juni ging zu Ende, der heiße Juli stellte sich ein, die letzten Arbeitstage für Bärbel kamen.

»Großmama,« sagte Bärbel, »es geht nicht anders. Hast du nicht eine zerschlagene Schale?«

»Wozu denn, mein Kind?«

»Ich muß dir, damit du mich verstehst, wieder einmal einen Einblick in mein Innerstes gestatten. Sieh mal, es kneift, drückt und preßt hier drinnen, wenn ich daran denke, daß es heimgeht. Meine Füße werden federleicht, und die Hände mochte ich immerfort in die Luft halten. – Wie kann ich dabei arbeiten! Immerzu möchte ich schreien: noch fünf Tage, noch vier Tage, – Je näher die Reise kommt, um so schlimmer wird es. Manchmal sage ich mir: es geschieht bis zu deiner Reise noch ein riesiges Unglück. – Gestern kämpfte ich einen furchtbaren Kampf, ich hätte am liebsten die große, teure Kamera in die Höhe geworfen und wieder aufgefangen. Alles nur aus Glück, – alles aus Freude! Und dann spreche ich laut vor mich hin: Sie haben sich so anstellig gezeigt, haben in letzter Zeit kein Mißgeschick gehabt – –. Weißt du, Großmama, das hat mir Herr Brausewetter gesagt, ehe die Schale entzweiging.«

»Ja, ich weiß es, Bärbel.«

»Und nun kommen wir zu dem springenden Punkt, Großmama. Die Schale zerbrach, weil ich mich so sehr freute. Einen Scherben habe ich mir damals nicht mitgenommen, aber jetzt hätte ich gar gern einen Scherben, der mich früh beim Erwachen daran mahnt, ruhig zu sein. – Ach, Großmama, nur noch drei Tage, aber bis dahin bin ich mittendurch geplatzt!«

»Dann möchte ich dir beinahe Baldrian geben, mein Kleines, das beruhigt.« Frau Lindberg schaute ihrer Enkelin lachend in die Augen.

Goldköpfchen schlang beide Arme um den Hals der alten Dame und preßte sie so leidenschaftlich, daß Frau Lindberg vor Schmerzen aufstöhnte.

»Bärbel, laß mich los, du zerdrückst mir die Rippen.«

»Ach, Großmama, – wenn doch diese drei Tage erst um wären, – hoffentlich geschieht mir kein Unglück!«

Im Atelier sah sich das junge Mädchen jetzt doppelt vor. Wohl tönte manches Mal in der Dunkelkammer ein Jubelruf von Bärbels Lippen, weil sie ihre innere Freude nicht mehr unterdrücken konnte. Aber sie sagte sich im selben Augenblick wieder: »Ruhe, Fräulein Wagner, Sie haben Pflichten, Sie müssen zeigen, daß Sie eine gewissenhafte Arbeiterin sind.«

Als das aber auch nichts mehr half, begann Bärbel sentimentale Lieder zu singen. Sie wollte sich gewaltsam in eine traurige Stimmung versetzen.

»In einem kühlen Grunde – – – sie hat die Treu gebrochen, das Ringlein sprang entzwei.«

Bärbels Augen aber lachten. »In drei Tagen. Was kümmert mich das zerbrochene Ringlein! In drei Tagen geht es endlich heim!«

Schließlich nahm sie zu den Klassikern ihre Zuflucht und zitierte die Sterbeszene aus »Romeo und Julia«. Aber was sie sonst bis zu Tränen rührte, blieb heute erfolglos.

»In drei Tagen geht es nach Dillstadt, – ach, wenn es doch erst soweit wäre!« – –

Endlich war es soweit! Herr Brausewetter hatte über den Abschied seiner Elevin herzlich gelacht. Bärbel hatte ihm in der Aufregung so stürmisch die Hand geschüttelt, daß ihn noch jetzt das Gelenk schmerzte. Sie hatte in ihrer Aufregung die Ateliertür nicht gefunden, war gegen die Wand gelaufen und hatte ein großes Bild heruntergestoßen. Er hatte sie fortstürmen sehen, strahlendes Glück in den blauen Augen.

Nun saß sie im Zuge. Frau Lindberg hatte sich bereit erklärt, mit nach Dillstadt zu fahren. Sie hatte ebenfalls das Verlangen gehabt, die Tochter und die anderen Enkelkinder wiederzusehen. Bärbel war voller Unruhe, und Frau Lindberg ließ manch leisen Vorwurf hören, wenn Bärbel durch ihre Nervosität die Mitreisenden zu stark belästigte.

»Großmama, ich habe am letzten Tage die Pertis noch 'mal angeführt.«

»Was hast du denn gemacht?«

»Harald fährt doch von Mainz nach Koblenz hinauf, und der Pertis habe ich gesagt, es soll am schönsten sein, wenn man von Koblenz nach Mainz fährt. Nun werden sie sich nicht treffen.«

»Aber Bärbel, es sind Tausende von Menschen am Rhein – –«

»Der Zufall spielt manchmal recht sonderbar, Großmama, und es wäre mir schrecklich, zu wissen, daß sie dort zusammenträfen.«

Darauf lief Bärbel wieder hinaus in den Gang des D-Wagens und schaute sehnsuchtsvoll nach Osten, ob die Umsteigestation noch immer nicht käme.

Aber endlich verging auch diese furchtbare Stunde; der Zug hielt in Dillstadt.

Auf dem Bahnsteig hatten sich Herr und Frau Wagner und die beiden Gymnasiasten Martin und Kuno eingefunden. Die Zwillinge hatten schon seit mehreren Tagen Ferien und weilten ebenfalls im Elternhause.

Hätte Frau Lindberg ihre erregte Enkelin nicht festgehalten, Bärbel wäre bestimmt die Stufen hinuntergefallen. Nun lag sie in den Armen der Eltern, die Worte überstürzten sich von den Mädchenlippen.

»Zehn Tage, – ach, nun muß ich jede Stunde ausnützen.«

Als man daheim war, lief Bärbel zuerst durch das ganze Haus. Hektor, der große Hund, sprang bellend und schweifwedelnd an dem jungen Mädchen hoch. Bärbel umhalste das treue Tier und gab ihm die zärtlichsten Kosenamen. Dann ging es weiter durch jeden Raum, bis hinein in die Vorratskammer, sogar der Hausboden wurde besucht. Immer wieder brach Bärbel in die stürmischen Jubelworte aus:

»Alles ist ja noch viel schöner als früher. – Das müßte die Pertis sehen!«

Es ging ans Erzählen. Wie ein Wasserfall stürzte das Erlebte von Bärbels Lippen, alles bunt durcheinander, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Die Zwillinge horchten interessiert den Berichten der Schwester zu, Frau Lindberg, die erklärend hin und wieder einige Worte dazwischenwerfen wollte, kam nicht dazu, denn Bärbel berichtete immer eifriger, immer lauter und schrie schließlich derart, daß der Vater mahnend sagte:

»Wir haben unser gutes Gehör behalten, Bärbel, du brauchst dich wirklich nicht so anzustrengen.«

Und dann berichtete die Mutter:

»In drei Tagen kommt Joachim heim.«

»O wie herrlich, daß ich ihn auch sehen werde. Harald Wendelin habe ich gestern Lebewohl gesagt. Er ist ein prächtiger Junge geworden, Papa, er imponiert mir. Wir beide verstehen uns fabelhaft, ich schrieb euch ja schon, daß wir Brüderschaft tranken. Jetzt nennen wir uns bei den Vornamen.«

»Dann wirst du ihn wohl bald heiraten?« meinte Kuno. »Wenn man sich schon du sagt, heiratet man bald. – Ich habe auch eine Freundin. Wir sind uns einig. Ich werde sie, wenn ich sie sattmachen kann, heiraten.«

»Ich heirate den Harald aber nicht,« sagte Bärbel. »Heiraten ist nichts für mich. – Ich habe meinen Beruf.«

»So sagen alle jungen Mädels, – meine Amalie hat es zuerst auch gesagt. Aber später meinte sie, heiraten sei doch besser.«

»Will sie denn einen Clown zum Manne?« fragte der Vater lachend.

»Ach, Clown,« sagte Kuno, »das war so 'ne dumme Jungenidee, heute sieht man die Welt ganz anders an. Man muß voran!«

»Was willst du denn jetzt werden?«

»So ganz schlüssig bin ich noch nicht, ich denke aber, daß man als Kellner ein Heidengeld verdient.«

»Werde lieber Photograph,« meinte Bärbel, »ein Photograph kann allen Menschen befehlen, er hat es in der Hand, sie zu verschönern oder garstig zu machen. Wenn ich erst mein Atelier habe, werdet ihr was erleben.«

Schließlich fragte die Mutter:

»Wirst du nun deine einstigen Freundinnen aufsuchen, mein Kind? Auch Fräulein Greger, die Schulvorsteherin, wird sich freuen, dich zu sehen. Maria Koch ist auch gerade hier, du könntest auch einmal zu Anita Schleifer gehen.«

Bärbel schüttelte den Kopf. »Die anderen will ich alle besuchen, meinetwegen auch Fräulein Greger. – Nun ja, sie hat mich zwar in der Schule mitunter etwas arg mitgenommen, doch das sei ihr vergessen. Es ist eben ihr trauriges Handwerk, Kinder zu dressieren. Aber die Anita Schleifer besuche ich nicht.«

»Sie würde sich sicherlich über dein Kommen freuen.«

»Die?« sagte Goldköpfchen gedehnt, »o nein, Mama, die hochmütige Pute freut sich nicht. Ich habe es ihr nie vergessen, wie sie uns an ihrem Geburtstage behandelt hat. Sie allein war vornehm und schön, immerfort hat sie es uns unter die Nase gerieben, daß ihr Vater der reiche Holzhändler sei, und wir alle waren nischt. – Nein, die ist mir viel zu hochmütig!«

»Es geht der Familie Schleifer recht schlecht, mein Kind.«

»Ach was, die haben eine große Villa, haben einen Haufen Geld, ich mag Anita nicht wiedersehen.«

»Wenn du hören wirst, wieviel Leid über diese Familie gekommen ist, welch schwere Zeiten Anita durchmacht, wird mein Bärbel gewiß die einstige Schulgefährtin besuchen oder Anita an einem Nachmittage einladen.«

»Was hat sie denn?« fragte Bärbel mit hängender Lippe.

Es waren traurige Berichte, die Frau Wagner ihrer Tochter gab. Von dem großen Vermögen des Holzhändlers war nichts mehr vorhanden, seine Existenz zusammengebrochen. Die Villa war längst in andere Hände übergegangen, Herr Schleifer suchte verzweiflungsvoll nach einer Stellung. Die jetzt fast zwanzigjährige Anita sollte ebenfalls einen Beruf ergreifen, doch fehlten die Mittel, um das junge Mädchen etwas Ordentliches lernen zu lassen.

»Die armen Menschen sind so verstört und ratlos, leider gönnt man ihnen im Orte ihr Unglück. – Das darfst du aber nicht mitmachen, mein Kind, Anita war deine Schulgefährtin, sie hat in letzter Zeit mehrfach nach dir gefragt, ich glaube, es wird gut sein, wenn du dich mit ihr unterhältst.«

Bärbel wollte zwar nicht recht. Als sie aber an einem der nächsten Tage von Maria Koch erfuhr, daß bei Schleifers große Not herrschte, wurde sie anderen Sinnes.

»Wir wollen Anita doch einladen und einen recht guten Kuchen backen. Und zum Abendessen behalten wir sie auch hier. Sie hat immer gesagt, sie wird 'mal heiraten, sie braucht nichts zu lernen. Wie gut, daß ich einen Beruf ergriffen habe! Man kann nie wissen, was das Schicksal für uns im Schoße hat.«

»Anita Schleifer war verlobt, doch als der Vater alles verlor, löste der Bräutigam die Verlobung wieder auf.«

»Na, das ist ein netter Patron! Da müßte man zusehen, daß man ihr einen anderen verschafft. Sie wollte immer gern heiraten. – Ist sie nett und tüchtig?«

»Sie hat sich sehr gewandelt, Bärbel, du wirst erstaunt sein. Sie ist sehr bescheiden geworden.«

»Harald Wendelin kann schon eine Frau ernähren. Wenn Anita wirklich – ach, nein, sie wird ganz gewiß einen passenden Mann finden. Wir werden uns das einmal überlegen.«

»Es wäre vielleicht richtiger, wenn Anita auch einen Beruf erwählte!«

»Natürlich, Mama! Sie muß Photographin werden. Das ernährt seinen Mann! Vielleicht braucht Brausewetter einen zweiten Lehrling. Ob ich 'mal an ihn schreibe?«

»Nein, mein Goldköpfchen, das geht nicht. Einmal können Schleifers das Lehrgeld nicht zahlen, zum anderen hätte Anita Schleifer in Dresden keine Wohnung und Beköstigung. Die Eltern können sie nicht in Pension geben.«

Goldköpfchen wurde immer nachdenklicher. Freilich, wenn es so schlecht stand, dann war es nicht leicht, Anita zu helfen. Wer hätte das gedacht, als Anita einst in seidenem Kleid zur Schule kam und stets ein so großes Taschengeld hatte, daß alle Mitschülerinnen voller Neid erfüllt waren.

Die Verhältnisse Schleifers stimmten Bärbel nachdenklich. Wohl hatten die Eltern mehrfach gesagt, daß Geld kein festes Fundament sei, daß es verlorengehen könne. Nur das Erlernte sei ein Kapital, das keiner rauben könne. Wenn Bärbel auch schon früher eingesehen hatte, daß die Eltern recht hatten, empfand sie es doch heute geradezu als ein Glück, daß sie in der Lage war, einen Beruf ergreifen zu dürfen, der ihr eine gesicherte Zukunft verhieß.

Das gute Herz Goldköpfchens trieb es dazu, noch am selben Tage Anita Schleifer aufzusuchen. Alles, was ihr die Schulfreundin zugefügt hatte, war vergessen.

Bärbel hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen, als sie Anita wiedersah. Das also war die immer so schön gekleidete Schulkameradin, die Bärbel ausgelacht hatte, als sie im schlichten, weißen Kleidchen zur Geburtstagsfeier erschien, die eine echte Perlenkette zum Geschenk erhielt und immer große Ansprüche gestellt hatte.

Bärbel wurde fast verlegen, als sie Anita begrüßte. Die Wohnung, die man jetzt innehatte, war bescheiden eingerichtet, die kostbaren Möbel nicht mehr vorhanden.

»Es ist lieb von dir, daß du mich aufsuchst,« sagte Anita. »Von uns will in Dillstadt keiner mehr etwas wissen. Wer verarmt ist, gilt nichts mehr. Aber vielleicht waren wir früher zu stolz, darum hat man uns nicht gern gehabt.«

»Nach Geld fragt man doch nicht,« erwiderte Bärbel ein wenig altklug. »Geld ist nichts, – man muß etwas lernen, das ist die Hauptsache.«

»Man muß etwas verdienen, Bärbel, doch heute ist das nicht leicht. Ich bin nun zwanzig Jahre alt und weiß noch nicht, was ich beginnen soll. Sei glücklich, daß du etwas Ordentliches lernen darfst.«

»Anfangs ist es mir recht sauer geworden, Anita, aber jetzt finde ich es schön. – Was möchtest du denn werden?«

»Was ich werden möchte, Bärbel, kommt bei mir nicht mehr in Betracht. Ich muß versuchen, etwas zu verdienen. Lernen kann ich nichts, dazu fehlt uns das Geld. Ich muß mich eben so durchbeißen. Vielleicht nehme ich eine Hausstellung an. Ich habe mich schon auf mehrere Inserate gemeldet. Aber es gibt auch dafür so viele geschulte Kräfte, daß man nicht gern ein junges Mädchen nimmt, das bisher seine Zeit mit Nichtstun verbrachte.«

Bärbel sagte nichts dazu. Hätte Anita schon vor zwei Jahren an einen Beruf gedacht, wäre sie heute fast fertig ausgebildet. Aber damals stand ihr Sinn nur nach Vergnügen und Putz.

»Wäre Dillstadt größer,« fuhr Anita fort, »könnte ich hier etwas lernen, doch dazu ist keine Möglichkeit vorhanden. Wir haben nicht einmal ein gutes Atelier, in dem ich mich zur Schneiderin heranbilden könnte.«

Die stolze Anita als Schneiderlehrling. Das konnte sich Bärbel nicht vorstellen. Aber sie begriff, daß für Anita wirklich nur etwas Derartiges blieb.

»Könntest du nicht in einer Dresdener Zeitung inserieren, vielleicht als Kinderfräulein?«

»Auch dafür nimmt man ausgebildete Damen. Ich bin schon ganz verzweifelt, Bärbel!«

»Verliere den Mut nicht, Anita, meine Großmama wohnt in Dresden, sie weiß vielleicht Rat. Ich will mit ihr sprechen. Irgendetwas muß sich doch für dich finden. Freilich sollst du etwas verdienen, das geht eben nicht anders; aber du mußt doch einen Beruf wählen, zu dem es dich treibt. Sieh einmal, Anita, ich habe den photographischen Beruf erwählt, weil ich ihn für den schönsten halte. Als aber die Lehrzeit begann, habe ich manche schreckliche Stunde durchgemacht, denn ich fand es furchtbar, tagaus, tagein arbeiten zu müssen, während andere frei hatten. Die Liebe zum Beruf aber war doch so groß, daß ich alles überwinden konnte. Hätte ich diese Liebe nicht gehabt, du liebe Zeit, ich hätte den ganzen Kram über den Haufen geworfen. Und so würde es dir ergehen, wenn du einen Beruf erwähltest, den du nicht leiden kannst. Ich denke es mir schrecklich, immer unter solchem Zwange zu leben. Nein, Anita, nur das soll man lernen, wozu man Lust und Liebe hat!«

»Wenn es aber nicht möglich ist, Bärbel,« sagte Anita mit schwermütigem Augenaufschlag, »dann muß es auch anders gehen.«

»Ich denke es mir schrecklich!«

»Man beißt die Zähne zusammen. Tausende müssen es tun, warum sollte ich es nicht auch können?«

Auf dem Heimwege überdachte Bärbel all das Gehörte. Anita tat ihr sehr leid. Dieses verwöhnte Geschöpf würde nun ein Leben der Arbeit und der bittersten Enttäuschungen kennenlernen. In einem ungeliebten Beruf mußte Anita alle die Jahre verbringen.

»Bin ich nicht glücklich zu nennen,« sagte Goldköpfchen. »Ich konnte mir meinen Beruf wählen, die Eltern haben es mir gestattet. Warum habe ich denn darauf geschimpft! Ach, Bärbel, du bist ein recht undankbarer Mensch.«

Herr und Frau Wagner konnten es sich nicht recht erklären, daß sich ihnen ihr Bärbel immer wieder in die Arme warf und am Halse der Mutter flüsterte:

»Ich will auch nicht mehr undankbar sein, Mutti, ich finde, ich bin so glücklich zu preisen wie Eberhard im Barte. Mein Beruf trägt Edelstein!«


 << zurück weiter >>