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Sechstes Kapitel.
Eine neue Wanddekoration

Mit ihrer Schulfreundin Edith Scheffel stand Goldköpfchen noch immer in regem Verkehr. Es war Bärbel zwar nicht mehr möglich, sich an den Spaziergängen und Bummelfahrten zu beteiligen, aber die Freundinnen trafen sich doch öfters, und Bärbel erkundigte sich dann stets nach den einstigen Mitschülerinnen und den Gymnasiasten. Wenn ihr Edith Scheffel von den vorgefallenen Streichen erzählte, kam oftmals ein leiser Seufzer über die Lippen der Elevin.

»Dir tut wohl dein Beruf schon leid?«

Solch eine Frage genügte, um Bärbel wieder energisch zu machen.

»Nein, Edith, ich habe meinen Beruf gern und freue mich, daß ich etwas Rechtes lernen kann. Diese drei Jahre werden auch vergehen.«

Edith Scheffel hatte natürlich ihren Mitschülerinnen von Bärbels Wirken erzählt; die Folge davon war, daß verschiedene beschlossen, das Atelier Brausewetter aufzusuchen. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür, da wurden photographische Aufnahmen notwendig. Die Neugier unter den einstigen Mitschülerinnen Bärbels war außerdem groß, sie wollten sich davon überzeugen, was Bärbel heute schon leistete. Einige behaupteten, Bärbel würde bereits Aufnahmen machen, aber Edith erklärte ihnen, daß sie als Lehrling erst Handlangerdienste verrichten müsse.

Hella Brodowin, eine Schulkameradin, die wegen ihres rechthaberischen Wesens von keiner der Mitschülerinnen recht geliebt wurde, erschien als erste im Atelier Brausewetter. Sie hatte es bis auf den heutigen Tag nicht vergessen können, daß ihr Bärbel vor einem Jahre den gegründeten Klub »Blaublümelein« zerstörte. Lange Zeit hatte Hella nach einer Gelegenheit gesucht, sich an der einstigen Mitschülerin zu rächen. Diese Absicht trieb sie nun heute nach dem photographischen Atelier.

Aber Bärbel war nicht zu sehen. Im Atelier befand sich ein junger Photograph mit einem gewaltigen Lockenschopf, der alles für die Aufnahme herrichtete.

»Es liegt mir daran, ein geschmeicheltes Bild zu bekommen. – Beschäftigen Sie hier eigentlich auch Lehrlinge?«

»Nur einen, mein gnädiges Fräulein.«

»Könnte mir Ihr Lehrling nicht meine Opossumstola herbringen, die ich draußen im Wartezimmer liegen ließ? Ich glaube, daß eine Aufnahme mit Pelzkragen für mich sehr vorteilhaft sein dürfte.«

Herr von Sasseneck drückte auf die elektrische Klingel, die Bärbel ins Atelier rief.

»Die Opossumstola, die das gnädige Fräulein im Wartezimmer liegen ließ.«

Ein einziges Aufblicken genügte Bärbel, um Hella Brodowin zu erkennen. Bärbel empfand diese Begegnung nicht gerade angenehm. Ja, wenn sie bereits photographiert hätte, wäre es ganz etwas anderes gewesen. Daß sie aber diese eingebildete Hella bedienen sollte, erschien ihr doch entwürdigend.

Bärbel verschwand rasch und kam mit dem Pelzkragen zurück. Sie wollte ihn Herrn von Sasseneck reichen, doch Hella war schon aufgesprungen.

»Ach – du bist hier? Oh, Verzeihung, Sie sind hier? – Als Lehrmädchen?«

»Jawohl, ich lerne,« erwiderte Bärbel ein wenig trotzig.

»Ich kann mir nicht denken, daß Sie sich dazu eignen sollten. – Mein Herr, wie wäre es, wenn wir eine Aufnahme machten, wobei ich gerade aus einer Vase Blumen nehme. Das Lehrfräulein besorgt vielleicht einige Blumen.«

Wieder stieg Bärbel das Blut ins Gesicht. Sie merkte sofort, daß Hella Brodowin mit der Absicht hierher gekommen war, sie zu demütigen. Das gab Goldköpfchen die Sicherheit zurück. Es war durchaus keine Schande, irgendwo als Lehrling einzutreten; wenn sich Hella Brodowin besser dünkte als Bärbel, fiel das auf sie selbst zurück.

Aber auch Herr von Sasseneck erkannte sofort die Situation. Da er sich mit Bärbel nicht gut stand, benutzte er sogleich die Gelegenheit, um sie zu demütigen.

»Ich würde vorschlagen, in den Hintergrund eine Drapierung von dunklem Samt; treppenartig aufgebaut! Sie, mein gnädiges Fräulein, gerade im Begriff, die Treppe emporzusteigen, einige Chrysanthemen im Arm –, Fräulein Wagner, holen Sie das Treppengestell.«

Bärbel richtete sich stolz auf und ging. Mit geradezu königlicher Geste stellte sie das Holzgestell hin.

»Den Samt!«

Wieder eilte Bärbel davon und brachte das Gewünschte.

»Aus dem Atelier des Herrn Brausewetter die Vase mit den Chrysanthemen.«

»Aber ein bißchen schnell,« rief Hella, »Ihr Lehrfräulein scheint recht langsam zu sein.«

»Leider – leider,« pflichtete Herr von Sasseneck bei.

Bärbel biß die Zähne fest aufeinander. Diese beiden wollten sie kränken, das war ihr sonnenklar. Aber sie wollte nicht merken lassen, daß sie dieses Verhalten verletzte. Sie stellte die Vase auf den Tisch und wollte wieder gehen, doch wurde sie erneut zurückgehalten.

»Nehmen Sie mir den Pelzkragen ab, es ist wohl doch besser, wenn ich ohne ihn aufgenommen werde. – Nein, nicht hinlegen, er leidet –, halten Sie ihn, bis ich fertig bin.«

»Ich bedaure, ich habe anderes zu tun.« Weg war Bärbel. Aber draußen ballte sie die Hände zu Fäusten und sagte grimmig: »Ein dummes Packzeug seid ihr! Ich wünschte nur, daß Hella zu mir käme, wenn ich einmal mein eigenes Atelier habe. Eine Fratze mache ich aus ihr –, das soll meine Rache sein!«

An diesem Tage kam es noch ärger. Als Bärbel für wenige Minuten ins Empfangszimmer gehen mußte, sah sie in einem Sessel ihren einstigen Lehrer, Herrn Dr. Hering, sitzen. Goldköpfchen griff mit beiden Händen nach dem Herzen. Der Tag, an dem Dr. Hering zum ersten Male in die Schule gekommen war, stand wieder klar und deutlich vor ihren Augen. Sie hatte den spindeldürren Lehrer ausgelacht, sie hatte ihn Dr. Rollmops getauft und sich immer wieder über den schüchternen Mann lustig gemacht, der seine Verlegenheit durch einen rauhen Ton verbergen wollte. Nun saß dieser Mann hier, und er würde an ihr Rache nehmen.

Ein unglücklicher Zufall wollte es, daß sich Bärbel für längere Zeit in diesem Raume aufhalten mußte und von Dr. Hering erkannt wurde.

»Sie sind hier tätig, Fräulein Bärbel?«

Nun würde es losgehen! – Nun würde er sie blamieren. Wer konnte wissen, was er nachher, bei der Aufnahme, alles von ihr wollte. Vielleicht wünschte er eine Aufnahme in Hemdsärmeln, und sie mußte ihm wieder in den Rock helfen, vielleicht mußte sie ihm sogar die bespritzten Stiefel reinigen. – Ach, es war schrecklich!

Dr. Hering fragte freundlich, wie es ihr gefalle. – War das Heuchelei? In diesem Augenblick schob der Studienrat mit dem Arm einige der Bilder, die auf dem Tischchen lagen, zu Boden. In Bärbel kochte der Zorn hoch. Nun ging es schon an mit der Schikane. Sie sollte die Bilder aufheben, die er zur Erde warf. Aber ehe sie sich noch dazu einen Stoß gegeben hatte, beugte sich Dr. Hering zu Boden.

»Entschuldigen Sie –«

Nun war er wieder verlegen, genau so wie damals, als die Schülerinnen, eine nach der anderen, zu spät zum Unterricht gekommen waren und jede genau dieselbe Entschuldigung gemurmelt hatte.

Wieder sprach er freundlich zu Bärbel und erklärte, er fände es sehr richtig, daß sie einen Beruf ergreife und gerade den einer Photographin erwählt habe.

»Sie bringen soviel Talente dafür mit, Fräulein Bärbel, ich kann das beurteilen, Sie haben einen vorzüglichen Geschmack, Sie werden es gewiß zu etwas bringen.«

Bärbel schaute den einstigen Lehrer von der Seite an. Sie traute ihm noch immer nicht. Aber da begann einer der wartenden Säuglinge zu schreien, und Bärbel mußte zu der ratlosen Mutter eilen, um zu helfen.

Kurz darauf erschien noch eine alte Dame mit einem Mädchen von fünf Jahren, das die Großmutter immer wieder bedrängte, es wolle Schokolade haben. Schließlich begann die Kleine zu weinen, ein Beweis, daß es sich hier um ein grenzenlos verzogenes Mädchen handelte.

»Ich habe keine Schokolade hier, Irenchen.«

Bärbel überlegte. Konnte sie helfen? – Nein! – Im Atelier Brausewetter war keine Schokolade.

»Vielleicht hilft ein Stücken Zucker,« meinte Bärbel.

»Scho–ko–la–de!« schrie das Kind erneut auf.

»Fräulein Bärbel!« Es war die Stimme des Studienrats.

Bärbel wandte sich ihm zu.

»Ich habe zufällig etwas Schokolade bei mir, darf ich damit aushelfen?«

Er reichte Bärbel ein kleines Täfelchen. Mit strahlenden Augen schaute Bärbel ihren Helfer aus der Not an. Sie brach ein Stückchen davon ab und ließ es hastig in die Tasche ihrer Schürze gleiten.

»Das kommt an die Wand,« sagte sie vor sich hin, »ich wickle es in Silberpapier, und ewig soll es mich daran mahnen, daß es noch edle Menschen gibt, die nicht Böses mit Bösem vergelten.«

Die Wand in dem kleinen Zimmerchen, das Bärbel bewohnte, wies bereits die sonderbarsten Dekorationen auf. Neben dem zerdrückten Sommerhut hing die zersprungene Platte des Geheimrats Rose, das Stückchen Schokolade würde wiederum eine Mahnung sein, und es war gut, wenn sich Bärbel an jedem Morgen erneut daran erinnerte, daß sie so vieles mit falschen Augen anschaute.

So kam es, daß sich Bärbel trotz der Demütigungen durch Hella Brodowin am heutigen Tage recht stolz fühlte. Ihr Wirken im Empfangszimmer erschien ihr eine große Tat, zumal sie dadurch Fräulein Pertis entlastete. Bärbel hatte zwar keine Sympathie für die Empfangsdame, aber heute tat sie ihr leid, weil sie bemerkte, daß jene qualvoll unter plötzlich auftretenden Kopfschmerzen litt und sich jeden freien Augenblick zurückzog, um ein wenig zu liegen. So hatte es Fräulein Pertis auch für unnötig gehalten, in dieser Stunde im Empfangszimmer zu weilen, denn es waren heute keine Kunden anwesend, die besonders höflich begrüßt werden mußten. Mit diesen Gelegenheitsaufnahmen machte sie nicht viel Aufhebens. So hielt es Fräulein Pertis. Bärbel dagegen fühlte sich beglückt und gehoben, weil sie nun selbst hier schalten und walten durfte, daß sie heute die Herrscherin dieses eleganten Raumes war.

Die Freude war nicht von langer Dauer. In den Empfangsraum trat die berühmte Opernsängerin Gräve, gefolgt von der Zofe, und wünschte mehrere Kostümaufnahmen. Bärbel, die die berühmte Künstlerin bereits auf der Bühne bewundert hatte, strahlte. Nun würde sie von Angesicht zu Angesicht mit Fräulein Gräve sprechen.

Fräulein Pertis hatte aber bereits im Nebenzimmer vernommen, wer soeben gekommen war. Sie erschien sofort selbst. Mit kurzen Worten wies sie Bärbel zurück, und enttäuscht mußte Goldköpfchen die Künstlerin der Empfangsdame überlassen.

Je mehr sich das Weihnachtsfest näherte, um so größer wurde die Arbeit. Herr und Frau Brausewetter hatten alle Händevoll zu tun, und auch für Bärbel gab es reichlich Beschäftigung. Sie mußte ihre Gedanken sehr zusammennehmen. Man verlangte bereits allerhand von ihr, und oftmals ging Bärbel zitternd und zagend an die Arbeit, weil sie ihr noch viel zu neu war. Herrn von Sasseneck wollte sie nicht bei jeder Gelegenheit fragen, denn noch immer bestand zwischen beiden ein gespanntes Verhältnis. Der Chef war viel zu stark mit Arbeit belastet, und Fräulein Pertis verstand von den eigentlichen photographischen Arbeiten so gut wie gar nichts. Merkwürdigerweise klappte alles, und Bärbel fühlte sich immer sicherer. Sie war schon durchaus damit vertraut, daß eine photographische Platte zuerst in den Entwicklungstank kam, um dann ins Fixierbad gelegt zu werden. Wenn sie auch diese Arbeiten selbst noch nicht ausführen durfte, wurde sie doch von Herrn Brausewetter häufig zur Hilfe herangerufen, so daß sie sich beinahe das Entwickeln zutraute.

Durch all dieses Neue wuchs in Bärbel die Liebe zu dem erwählten Beruf immer stärker empor. Sie sah, wie vielseitig die photographische Kunst war, sie interessierte sich besonders für farbige Aufnahmen und wünschte nichts sehnlicher, als daß die Lehrzeit bald vorüber sei. Sie hatte auch der Großmama und ihrem Freunde Wendelin berichtet, daß sie ihr höchstes Lebensglück darin sehen werde, einstmals ein eigenes Atelier zu besitzen, um dann bis ans Lebensende Aufnahmen zu machen.

Frau Lindberg drohte dem jungen Mädchen lächelnd mit dem Finger.

»Eines Tages kommt ein junger Mann, in den du dich verliebst, und alle guten Vorsätze sind vergessen.«

»Wo denkst du hin, Großmama! Ich liebe die Kamera, sie ist mein ein und alles. – Ich frage nach keinem Manne, nach keinem Eheglück, ich habe meinen Beruf; alles andere ist Nebensache!«

»Weißt du das schon so genau, Bärbel?«

»O ja, darauf könnte ich tausend Eide schwören. Ich heirate nie! – Wenn man erst seinen Beruf hat, ist das Heiraten erledigt.«

Frau Lindberg sagte nichts dazu. Noch war Bärbel ja viel zu jung, als daß sie sich mit Heiratsgedanken zu beschäftigen brauchte. Es war auch durchaus richtig, daß sie erst auslernte.

Es war kurz vor Weihnachten. Pünktlich wie immer war Bärbel ins Atelier gekommen, und wieder war nur der Hausdiener Willi anwesend.

»Heute kommt Fräulein Pertis nicht, sie hat sich entschuldigen lassen; sie ist leidend.«

»Ach, Willi, da wird es für mich viel Arbeit geben! Ich werde dann auch noch den Empfangssalon verwalten müssen.«

»Gerade vor Weihnachten – da haben wir massenhaft zu tun.«

Bärbel klopfte sich auf die Muskeln des Oberarmes. »Wir schaffen es schon, Willi, nur mutig ans Werk!«

Kurz darauf erschien Herr von Sasseneck.

»Fatale Kiste, wie kann sie gerade jetzt fortbleiben!«

»Ich werde sie ersetzen,« sagte Bärbel lakonisch.

Sasseneck lächelte liebenswürdig. Wenn die Pertis nicht kam, konnte er es heute wieder einmal wagen, mit dem kleinen Goldkopf ein wenig schön zu tun. Die frühe Morgenstunde war dafür am geeignetsten. Herr und Frau Brausewetter kamen stets erst eine Stunde später, und Willi hatte verschiedene Gänge zu besorgen.

Bärbel, die nicht ahnte, welche Pläne Herr von Sasseneck hegte, machte sich sofort an die Arbeit. Sie gab den Blumen im Wartezimmer frisches Wasser, trug die Alben und die zahlreichen Photographien herbei und ging schließlich in die Ateliers, um den Staub abzuwischen.

Plötzlich ertönte eine Stimme hinter ihr:

»Wie wäre es; wenn ich einmal von Ihnen eine Aufnahme machte?«

Bärbel hatte den eintretenden Herrn von Sasseneck nicht bemerkt. Nun stand er hinter ihr und lächelte sie freundlich an. Im ersten Augenblick erschien ihr dieses Angebot recht verlockend. Die Eltern würden sich freuen, wenn sie ihnen zu Weihnachten ein Bild schickte.

»Der Chef wird doch nichts dagegen haben?«

»Kein Gedanke –, es kommt doch bei uns auf eine Platte nicht an. Ich mache ein prachtvolles Bild von Ihnen.«

»Vielleicht warten wir damit bis nachmittag. Ich habe nicht das geeignete Kleid dazu an. Hätte ich gewußt, daß Fräulein Pertis heute nicht kommt, hätte ich mich entsprechend gekleidet, denn die Empfangsdame muß anders gekleidet sein als ein Lehrling.«

»Ach was, Sie sind auch in diesem Kleidchen ein süßer Käfer.«

Bärbel band die Schürze ab, strich mit dem kleinen Taschenkamm durch die goldenen Haare und stellte sich dann vor den großen Apparat des Chefs.

Sasseneck betrachtete sie durch die Kamera, dann trat er auf sie zu.

»Das Füßchen etwas mehr nach rechts.« Er wollte ihr Bein anfassen, doch Bärbel stieß ihn unsanft zurück.

»Ich kann meine Beine allein stellen.«

»Aber, Bärbelchen – –«

»Fangen Sie schon wieder an!«

»Liebes, kleines Bärbel –« Sasseneck versuchte den einen Arm um Bärbels Schulter zu legen. Sie stieß ihn zurück, eilte durch das Atelier, wurde jedoch von dem ihr folgenden Sasseneck eingeholt.

»Sie sollen mir nicht immer fortlaufen, Bärbel!«

»Lassen Sie mich los, oder ich rufe um Hilfe!«

»Das hört ja keiner!«

»Loslassen –« Bärbel wollte den zudringlichen Sasseneck zurückstoßen. Es gelang ihr anfangs nicht, doch schließlich machte sie sich frei, sprang nach rückwärts, ein Poltern – der große, wertvolle Apparat, der in der Mitte des Ateliers stand, war umgestürzt.

Einen Augenblick standen beide wie erstarrt.

»Ihre Schuld!« sagte Herr von Sasseneck.

Ein Beben durchlief Bärbels Körper. Sie wußte, daß solch ein Apparat einen Wert von mehreren tausend Mark hatte. Behutsam richtete sie ihn wieder auf.

»Ist er kaputt?« fragte sie stockend.

Herr von Sasseneck nahm eine eingehende Besichtigung vor. »Nur die Mattscheibe ist zerbrochen, vielleicht ist auch noch das Objektiv entzwei.«

Bärbel krampfte die Hände ineinander.

»Das kommt von Ihrer Eselei,« sagte Sasseneck ärgerlich, »nun essen Sie die Suppe auf, die Sie sich einbrockten. – Sie haben den Apparat umgestoßen!«

»Kann man damit nicht mehr photographieren?«

Noch immer untersuchte Sasseneck das wertvolle Stück. Er stellte fest, daß wirklich nur die Mattscheibe gesprungen war. Alles andere schien in Ordnung. Aber er wollte Bärbel auf die Folter spannen, wollte sie ein wenig gefügiger machen, und sagte finster:

»Alles ist entzwei!«

»Ja, was machen wir denn nun?«

»Das weiß ich nicht. – Sie tragen die Schuld.«

Bärbels Blauaugen flammten auf. »Freilich, ich habe den Apparat umgestoßen, aber nur, weil Sie mich verfolgten. Und wenn ich jetzt doch alles eingestehen muß, sage ich es auch Herrn Brausewetter, was Sie für ein ekliger Mann sind.«

»Da bin ich doch auch noch da.«

»Wollen Sie etwa leugnen, daß Sie mich umarmt haben? – Wollen Sie Herrn Brausewetter belügen?«

»Ich denke, es wäre besser, wir überlegten gemeinsam, wie wir den Schaden beseitigen können, damit Herr Brausewetter nicht erst ärgerlich wird.«

»Wenn alles kaputt ist, können wir nichts machen. – Ach, es ist entsetzlich!«

»Wenn Sie nicht immer so garstig zu mir wären, Bärbel, würde ich versuchen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.«

»Wenn Sie das können, ist es Ihre Pflicht. – Ob ich garstig bin oder nicht, hat Sie nichts zu kümmern. – Sie sollten an etwas anderes denken, aber nicht an mich. Also nu 'mal los! – Kann ich Ihnen etwas dabei helfen?«

»Wenn Sie so mit mir reden, habe ich kein Verlangen danach, den Schaden wieder zu reparieren.«

Obwohl Bärbels Herz sehr schwer war, sagte sie doch kurz: »Wenn Sie eben nicht wollen, müssen wir Herrn Brausewetter alles sagen.«

Sasseneck legte die zerbrochene Mattscheibe vor sie hin. Bärbel seufzte tief auf.

»Es ist doch jämmerlich, daß Glas so schnell bricht. Genau so ist es auch mit dem Glück.«

»Man müßte das Glück festhalten, Fräulein Bärbel. Sehen Sie 'mal, Sie sind ein so nettes Mädchen, den ganzen Tag über sitzen wir zusammen, im Beruf fest angeschmiedet; wir könnten uns aber so manche gemütliche Stunde bereiten – wenn Sie nicht so garstig zu mir wären.«

»Ich bin garstig zu Ihnen – weil ich Sie eben nicht leiden kann. Schon wenn ich Sie ansehe –«

»Nun ja, das Löwenhaupt!«

»Nicht das allein! Können Sie nicht vernünftig gehen, so, wie alle anderen Leute?«

»Ihnen zuliebe würde ich es lernen, Bärbel.«

»Machen Sie lieber den Apparat wieder heil!«

Die Flurglocke schlug an. Bärbel eilte hinaus. Eine ältere Dame mit einem fetten Hund erschien, die eine Aufnahme wünschte.

Fräulein Pertis hätte jetzt sicherlich gesagt, daß es kein hübscheres Tierchen auf der ganzen Erde gäbe als diesen überfütterten Hund. Aber Bärbel brachte eine solche Unwahrheit nicht über die Lippen. Trotzdem wollte sie ihre Rolle als Empfangsdame zur Zufriedenheit spielen. Sie sagte daher freundlich:

»Die Schönheit eines Tieres liegt nicht immer in der Schlankheit, es gibt auch Hunde, die gemästet gut aussehen, andere hingegen sind greulich, wenn sie zu fett sind.«

»Mein Adolar leidet keine Not.«

»Ja, es ist eine gute Eigenschaft, wenn man seine Tiere liebt.«

Nun wurde Herr von Sasseneck auch noch abgerufen und konnte den Apparat nicht in Ordnung bringen. Wenn nur der Chef nicht zu früh kam!

Aber kaum war die Dame mit dem Hund im Atelier verschwunden, als Herr Brausewetter erschien. Bärbel knickte förmlich zusammen. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als das Furchtbare zu gestehen. Nicht nur die Beschädigung des Apparates, nein, sie mußte auch sagen, aus welchem Grunde die Jagd im Atelier hervorgerufen worden war.

»Ich habe Ihnen ein Geständnis zu machen, Herr Brausewetter.« Das Herz pochte dem jungen Mädchen so stark, daß es kaum reden konnte.

»Ein Geständnis,« sagte er wohlwollend, denn sein goldhaariger Lehrling hatte bereits seine volle Sympathie gewonnen.

»Der große Apparat ist kaputt!«

Da wurde das wohlwollende Gesicht des Chefs finster.

»Haben Sie sich an dem Apparat zu schaffen gemacht?«

»Ich habe ihn umgeworfen.«

Brausewetter eilte an Bärbel vorüber, hinein in den Aufnahmeraum. Sein erster Blick fiel auf die gesprungene Mattscheibe, dann begann er eine eingehende Untersuchung vorzunehmen. Er atmete erleichtert auf, als er feststellte, daß außer der Mattscheibe nichts verdorben war. Trotzdem wollte er Fräulein Wagner energische Vorhaltungen machen, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Wie war es möglich, daß sie den großen Apparat umwarf?

Es erfolgte ein strenges Verhör. Anfangs widerstrebte es Bärbel, den Angeber zu machen, aber da ihre Berichte so lückenhaft waren, ahnte Herr Brausewetter, daß hier etwas anderes mitspielte.

»Ihre Großmama und Ihr Herr Vater haben mir gesagt, daß Sie ein wahrhaftes junges Mädchen wären. Ich habe auch bis heute noch nicht bemerkt, daß Sie mich jemals belogen haben. Aber in diesem Augenblick erscheint es mir doch, als sagten Sie nicht die volle Wahrheit. Wenn Sie den Mut hatten, das Umwerfen des Apparates zu bekennen, warum sagen Sie nicht alles andere genau so ehrlich?«

»Weil es noch einen anderen angeht.«

»Hat Willi den Apparat mit umgestoßen?«

»Nein, nur ich.«

»War außer Ihnen noch jemand im Atelier?«

»Ja, – Herr von Sasseneck.«

Brausewetter kannte seinen Photographen. Jener hatte schon einmal einem weiblichen Lehrling nachgestellt, der darauf die Lehrstelle verlassen hatte. Dieses bildhübsche junge Mädchen würde sicherlich auf Sasseneck Eindruck gemacht haben. Vielleicht hatten die beiden hier im Atelier Allotria getrieben, denn nur so war es zu erklären, daß man in dem großen Raum den Apparat umwarf.

Noch einige geschickt gestellte Fragen, und Herr Brausewetter wußte, was vorgefallen war.

»Warum sind Sie nicht schon lange zu mir gekommen, Fräulein Wagner, und haben mir erzählt, daß Sie von Herrn von Sasseneck belästigt werden?«

Aus Bärbels Augen fielen die Tränen. »Die Großmama wollte schon herkommen,« stieß sie mühsam hervor, »aber ich habe gesagt, sie soll es unterlassen, es schade meinem Ansehen. – Ich wollte nicht gar so klein vor Ihnen dastehen, Herr Brausewetter. Ich dachte, er würde mich in Ruhe lassen.«

»Bin ich nicht die erste und geeignetste Stelle, die hier Ordnung schaffen kann? Als Ihr Lehrherr bin ich für Sie verantwortlich, das haben Sie wohl ganz vergessen, Fräulein Wagner? Warum hatten Sie kein Vertrauen zu meiner Frau?«

»Herr von Sasseneck wird dann noch garstiger zu mir sein, wenn er hört, daß ich ihn verpetzte.«

»Seien Sie versichert, Fräulein Wagner, daß ich Ordnung schaffen werde. Herr von Sasseneck wird Sie in Zukunft nicht mehr belästigen, und wenn es doch geschieht, wenn er Sie schikaniert, kommen Sie sofort zu mir.«

»Ach, da müßte ich immerzu gelaufen kommen.«

»Ist es so schlimm?«

»Ich ertrage es ja noch,« sagte Bärbel tief aufseufzend, »aber manchmal kostet es große Anstrengung.«

Brausewetter reichte ihr die Hand hin. »Versprechen Sie mir, voller Vertrauen zu mir zu kommen, wenn etwas nicht stimmt? Ich möchte Sie gern als Lehrling behalten. Sie sind ein sehr anstelliges junges Mädchen, mit dem ich recht zufrieden bin. Ich habe selten eine junge Dame angelernt, die so viele brauchbare Eigenschaften zu ihrem Berufe mitbringt wie Sie.«

Strahlend schaute Bärbel den Chef an. Das war das erste Lob, das sie in ihrer Lehrzeit erhielt. Es machte sie ungemein stolz. Hatte Brausewetter denn ganz vergessen, was sie bisher schon alles verbockt hatte?

»Sie brauchen sich vor Herrn von Sasseneck nicht zu fürchten, Fräulein Wagner. Sagen Sie ihm, daß ich als Ihr Lehrherr meine Lehrlinge zu schützen weiß, und daß ich in meinem Atelier auf Zucht und Ordnung sehe. Außerdem werde ich selbst mit ihm sprechen.«

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen auch noch ganz besonders für das Lob, – ach, das war schön. – – Nun habe ich noch eine Bitte. Würden Sie mir wohl die zerbrochene Mattscheibe schenken?«

»Damit können Sie nichts beginnen, sie ist endgültig verdorben.«

»Ach nein, – für mich hat sie fabelhaften Wert.«

»Was wollen Sie denn damit?«

»Über mein Bett hängen, Herr Brausewetter.«

»Was soll sie denn dort?«

»Heute haben Sie mich zum erstenmal gelobt, trotz der zerbrochenen Scheibe. Das ist von jetzt an meine Stärkung im Beruf. Und auch der Mahner, daß ich zu Ihnen Vertrauen haben soll.«

»Und dazu müssen Sie diese zerbrochene Scheibe über Ihr Bett hängen?«

»Ja, Herr Brausewetter,« erwiderte Bärbel gedankenvoll, »es hängt schon manches über meinem Bett. Manche Menschen malen sich einen Wandspruch mit einem Vers darauf, den habe ich auch, aber der ist lange nicht so wirkungsvoll wie alle diese Sachen. Erwacht man früh, dann fällt der Blick auf die verschiedenen Stücke, dann schämt man sich oder freut sich abwechselnd. Es ist wirklich gut, wenn man gleich früh an seine dunkle oder freudige Vergangenheit erinnert wird.«

»Dann ist der Wandschmuck wohl schon beträchtlich?«

»Nein, es sind nur einschneidende Erinnerungen an die Wand gekommen.«

»Und dazu gehört diese Mattscheibe?«

»Ja, Herr Brausewetter, denn heute ist ein Freuden- und zugleich auch ein Trauertag, aber die Freude überwiegt doch. Hoffentlich geht es auch weiterhin gut. Ich muß heute Fräulein Pertis vertreten, ich will versuchen, daß es mir glückt.«

»Sie sind ein tapferes junges Mädchen, Fräulein Wagner. Ich freue mich herzlich, Sie in mein Atelier genommen zu haben.«

Dann war Bärbel entlassen. Mit gefalteten Händen stand sie vor der Ateliertür.

»Es wird immer wundervoller,« sagte sie leise, »nun freut er sich schon, daß er mich zum Lehrling bekommen hat. O Marquis Posa, du hast recht gesprochen, wenn du sagst: Königin, das Leben ist doch schön! – Ja, es ist schön, und wenn man ein photographischer Lehrling ist, ist es wohl am allerschönsten!«


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