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Viertes Kapitel.
Blinder Eifer schadet nur

Seit zehn Tagen war Bärbel nun schon als Elevin im Atelier Brausewetter tätig. Frau Lindberg, die ihre Enkelin aufmerksam beobachtete, sah manchmal in dem frischen Jungmädchengesicht einen Schatten. Sie ahnte, was in der Seele Goldköpfchens vorging.

Einmal glaubte Bärbel gleich allerlei Abwechslungen kennenzulernen, sie hatte sich eingebildet, nun selbst Bilder herzustellen, wie sie das bisher mit ihrem kleinen Photoapparat gemacht hatte. Nun wurde sie alltäglich nur zu Handreichungen und nebensächlichen Beschäftigungen gebraucht. Da war es kein Wunder, daß Goldköpfchen eines Abends, als es heim kam, seufzend erzählte:

»Immerzu muß ich sitzen und mit dem Pinsel den Staub von den Platten wischen, – tagaus, – tagein! Großmama, wenn ich das tausend Tage lang machen muß, bin ich selbst zum Pinsel geworden.«

»Man muß alle Arbeiten der Reihe nach lernen, Bärbel. Zuerst das Leichte, später das Schwere.«

»Sie werden mich niemals selbst photographieren lassen. Das macht der Mann mit dem Löwenkopf oder Herr und Frau Brausewetter.«

Frau Lindberg drohte der Enkelin mit dem Finger.

»Du sollst Herrn von Sasseneck nicht immer bei seinem Spitznamen nennen, mein Kind. Es wird dir einmal passieren, daß du dort diesen Ausdruck gebrauchst, dann hast du Unannehmlichkeiten.«

»Ach, Großmama,« seufzt« Bärbel, »Unannehmlichkeiten habe ich schon reichlich gehabt, – aber es wird vielleicht einmal besser. Ich nehme mich furchtbar zusammen, denn ich will doch etwas Ordentliches lernen.«

Trotz dieser guten Vorsätze blieben die Augen Goldköpfchens verschleiert. Schuld daran trugen die einstigen Schulkameradinnen. Bärbel hatte auch jetzt noch Fühlung mit Edith Scheffel und Valeska Meißner, mit denen sie gemeinsam ihren Lehrer, Herrn Dr. Rollmops, geärgert hatte. Auch die Erlebnisse im Klub »Blaublümelein« waren noch unvergessen. Die beiden Freundinnen, die das Gymnasium noch weiter besuchten, empfanden es störend, daß Bärbel an keinem Nachmittage mehr freie Zeit hatte. Mehrfach wurde Goldköpfchen gefragt, ob es nicht einmal schwänzen konnte, aber immer wieder lautete die Antwort:

»Ich will doch etwas lernen, und Lehrjahre sind Schwerjahre.«

Wenngleich auch Bärbel den photographischen Beruf, den sie sich erwählt hatte, als etwas Schönes ansah, kam doch hin und wieder eine tiefe Entmutigung über sie. Drei Jahre lang täglich ins Atelier wandern, um zu lernen, das war doch furchtbar schwer. Zeitweilig erschien ihr das Leben grau und öde, besonders dann, wenn sie hörte, daß die Freundinnen am Nachmittage etwas unternommen hatten, an dem sie nicht teilnehmen konnte.

So war es auch am letzten Sonnabend gewesen. Ein Ausflug nach Schandau war geplant, an dem noch einige junge Herren teilnahmen. Man hatte auch Bärbel Wagner aufgefordert; doch sie mußte ablehnen.

Frau Lindberg, die ihre Enkelin sehr gut verstand, merkte, daß Bärbel dadurch bedrückt war. So hatte sie kurzerhand an Ingenieur Wendelin telephoniert, der in einem Dresdener Vorort in einer großen Maschinenfabrik tätig war. Herr Wendelin war ein prächtiger Mann, den Bärbel sehr gern sah. Er war eingeladen worden, am Sonntag das Mittagessen bei Frau Lindberg einzunehmen, um Goldköpfchen ein wenig für den entgangenen Ausflug zu entschädigen. Am Nachmittag wollte man dann zusammen eine kleine Ausfahrt machen, damit Bärbel mit frohem Herzen die neue Woche begann.

Der junge Ingenieur, der keine Verwandten besaß, war dieser Einladung freudig gefolgt. Er fühlte für Bärbel eine herzliche Zuneigung. Schon damals, als er, noch ein blutjunger Student, nach Dillstadt ins Haus des Apothekenbesitzers Wagner eingeladen worden war, hatte der kleine Backfisch einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Harald Wendelin hatte eine freudlose Kindheit hinter sich: er, der Elternlose, war stets bei den Verwandten umhergestoßen worden und daher ein stiller und zurückhaltender Mann geworden. Dank seiner großen Tüchtigkeit hatte er heute eine gutbezahlte, aber verantwortungsvolle Stellung inne, und es freute ihn doppelt, daß er nun Bärbel Wagner des öfteren sehen und sprechen konnte.

Man saß zusammen beim Mittagessen; Bärbel sollte erzählen. Alles, was sie sagte, interessierte Wendelin, denn auch er verstand in dem Herzen Bärbels wie in einem offenen Buche zu lesen.

Es war auch wirklich kein Falsch in diesem goldhaarigen jungen Mädchen. Die Eltern hatten stets darüber gewacht, daß Bärbel ein wahrer und offener Charakter blieb, und diese beiden Eigenschaften hatte Bärbel auch beibehalten. Sie tadelte rücksichtslos das Verhalten der Empfangsdame und das des Löwenkopfes.

»Erst schimpfen sie mächtig, dann heucheln sie Freundlichkeit. Ich kann nicht immer freundlich sein.«

»Das ist in diesem Falle keine Heuchelei, Fräulein Bärbel, das bringt der Beruf so mit sich. Man braucht nicht jedem Menschen seine Gefühle zu offenbaren. Wenn Sie selbst erst ein Atelier haben, werden Sie sich Ihre Kunden gewiß auch nicht durch harte Worte vergraulen.«

»Je länger ich darüber nachdenke, um so klarer wird es mir, daß der Beruf ein Vampyr ist, der dem Menschen die Kraft, die Ehrlichkeit und die Freude aussaugt.«

Der junge Ingenieur lachte. »Je länger ich im Beruf bin, um so deutlicher erkenne ich, daß der Beruf uns Kraft, Sicherheit und Freude am Dasein gibt.«

»Sie sind ja auch kein Photograph!«

Wendelin wurde ernst. »Tut es Ihnen heute leid, diesen Beruf erwählt zu haben? Denken Sie einmal darüber nach, Fräulein Bärbel. Es war doch immer Ihr innigster Wunsch. Oder lassen Sie sich so leicht entmutigen, wenn jemand kommt und Sie zurechtweist? Sehen Sie, wir müssen alle lernen.«

»Bei Ihnen ist keine Empfangsdame, Sie bekommen sicherlich nicht immerzu Vorwürfe, daß Sie ungeduldig sind.«

»Ich habe in meinem Leben sehr viele Vorwürfe einstecken müssen, Fräulein Bärbel, aber das gibt dem Menschen ja gerade das Rückgrat. Kopf hoch und durch, heißt ein schönes Wort.«

»O nein,« rief Bärbel stürmisch, »wenn ich bei Brausewetter mit meinem Kopf durch die Wand wollte, die Pertis und der Löwenkopf würden mir schön was auf die Nase geben.«

»Sie mißverstehen mich, Fräulein Bärbel. Bedenken Sie doch, daß Sie noch ein Lehrling sind. Es gibt Lehrlinge, die man gern anlernt, weil sie fleißig und willig sind, und es gibt solche, die sich einbilden, alles schon zu verstehen, und dafür alles falsch machen. Ich weiß es genau, daß die ersten Wochen für jeden Eleven die allerschwersten sind. In einem halben Jahre denken Sie schon ganz anders, Fräulein Bärbel. Ihr erwählter Beruf ist so schön, daß Sie ihn gewiß wieder liebgewinnen werden, wenn Sie auch jetzt ein wenig ärgerlich darauf sind.«

»Haben Sie sich schon einmal klargemacht, Herr Wendelin, was es heißt, tausend Tage immer denselben Weg zu gehen, immer mit dem Pinsel über die Platten zu fahren, – tausend Tage lang? Tausend, Herr Wendelin! Bedenken Sie das!«

»Ich hoffe, mein Leben lang an jedem Morgen in eine Stellung gehen zu können, und das sind viele tausend Tage, Fräulein Bärbel. An jedem neuen Morgen freue ich mich, daß ich mir mein Brot verdienen kann, daß ich schaffen und arbeiten darf.«

»Sie pinseln auch nicht den ganzen Tag.«

»Das werden Sie auch nicht tausend Tage lang tun. Passen Sie auf, bald gibt es andere Arbeit für Sie, die macht Ihnen Freude. Haben Sie nur Mut, Fräulein Bärbel! Mit Lust und Liebe zur Sache geht alles doppelt so leicht.«

»Ich verzage ja auch nicht, Herr Wendelin, ich werde morgen wieder mit frischem Mut die neue Woche beginnen, die tausend Tage werden auch vergehen.«

Der junge Ingenieur sprach Bärbel begütigend zu, und schließlich gewann sie ihre alte Fröhlichkeit wieder. Für den heutigen Tag waren die Berufssorgen vergessen. Dieser Wendelin war doch ein netter Herr, mit dem man sich sehr gut unterhalten konnte.

Als er sich am Abend verabschiedete, drückte ihm Bärbel stürmisch die Hände.

»Kommen Sie recht bald wieder, Herr Wendelin, Sie sind wie eine Eiche, um die ich mich in meiner Verzweiflung ranke.«

»Sie brauchen nicht zu verzweifeln, Fräulein Bärbel. Sie haben Ihre gute Großmama, die ja alle Leiden und Freuden mit Ihnen teilt – –«

»O ja, das tut sie,« erwiderte Bärbel, »aber wissen Sie, Herr Wendelin, – – zwei Frauen, das ist nicht das Richtige, es muß noch ein kraftvoller Mann dabei sein, so etwas – – na, so wie Sie. – Sie stehen doch auch im Beruf, Sie wissen, wie es tut, wenn man von oben gedeckelt wird.«

»Ich danke Ihnen herzlich, Fräulein Bärbel, für Ihr Vertrauen. Da wir also beide in Stellung sind, wollen wir uns in Zukunft gegenseitig trösten.«

»Ach ja, das wollen wir,« erwiderte sie, indem sie ihm strahlend in die Augen schaute. »Sie machen mir Mut, und ich tröste Sie, wenn es 'mal bei Ihnen dick kommt.«

Die Unterredung mit Wendelin wirkte auch noch am Montag vormittag bei Bärbel nach. Sie machte sich sogar fünf Minuten früher als üblich auf den Weg und sagte abschiednehmend zur Großmutter, daß sie heute mit doppeltem Eifer den Pinsel führen werde.

Frau Lindberg hörte diese Äußerung der Enkelin mit geteilten Gefühlen an. Wenn sich Bärbel gar zu eifrig auf etwas stürzte, ging die Sache in den meisten Fällen nicht gut aus. Trotzdem schwieg sie dazu, um den Lerneifer der Enkelin nicht zu beeinflussen.

Der Hausdiener öffnete Bärbel die Tür. Weder die Empfangsdame noch Herr von Sasseneck waren anwesend.

Bärbel schaute auffallend nach der Uhr.

»Man muß pünktlich sein,« sagte sie zu Willi, mit dem sie sich in den zehn Tagen ihres Hierseins bereits recht gut angefreundet hatte.

»Montag früh ist hier niemand pünktlich,« gab Willi zurück.

»Das ist doch 'ne nette Geschichte. Der Löwenkopf hat – – ach, ich meinte, Herr von Sasseneck bummelt sicherlich am Sonntag.«

Willi lachte. »Wie haben Sie den genannt?«

Bärbel hielt die Hand vor den Mund.

»Willi, das ist ein Geheimnis, das darf niemand wissen.«

»Na, ich sage es ihm ganz gewiß nicht. Aber Löwenkopf ist gut.«

»Da wollen wir uns 'mal wieder an die Arbeit machen. Erst die Alben und die Bilder 'reinschleppen – – sagen Sie 'mal, Willi, wie lange sind Sie denn schon hier?«

»Oktober waren es zwei Jahre.«

»Oh – –« sagte Bärbel bewundernd, »das sind schon siebenhundert Tage.«

»Es kommt jemand, ich will rasch aufschließen. Ich hatte die Tür wieder zugemacht.«

»Das Löwenhaupt wird es sein.« Bärbel holte aus einem der Hinterzimmer die Photographien und verteilte sie auf den Tischen, während Willi hinaus in den Flur ging, um die Tür zu öffnen, die während der Arbeitszeit ständig offen stand, nur nach Geschäftsschluß wieder verschlossen wurde.

»Fräulein, ein Herr.«

Im ersten Augenblick erschrak Bärbel, dann durchzuckte sie heiße Freude. Die Empfangsdame war noch nicht anwesend, auch der Photograph nicht, ihr fiel somit die Aufgabe zu, den Kunden zu unterhalten. Oh, das konnte sie auch. Sie wollte Fräulein Pertis den Beweis erbringen, daß sie sich auch als Empfangsdame eigne.

Ein mittelgroßer Herr trat ein. Bärbel schätzte ihn auf etwa sechzig Jahre. Das Gesicht war nicht gerade schön, die grauen Augen lebhaft.

»Bitte, wollen Sie sich einen Augenblick gedulden, mein Herr. – Sie wünschen eine Aufnahme?«

»Ich bin absichtlich so früh gekommen, weil um diese Zeit die Ateliers noch leer sind. Ist Herr Brausewetter zu sprechen?«

»Leider noch nicht, mein Herr, aber Herr von Sasseneck wird sofort kommen. Auch Herr von Sasseneck macht künstlerisch einwandfreie Bilder, wie überhaupt aus unserem Atelier nur – – erstklassige Ware herausgeht.«

Der Herr in dem schlichten, dunklen Anzug betrachtete das junge Mädchen interessiert. Bärbel sprach krampfhaft weiter. Der Besuch mußte doch unterhalten werden, damit er nicht wieder fortging.

»Dieser prachtvolle Oktobertag ist das richtige Wetter für eine künstlerische Aufnahme. – Wann sind Sie das letztemal abgenommen worden?«

»Das ist wohl länger als drei Jahre her.«

»Oh, – ein so interessanter Kopf, wie Sie, mein Herr, müßte sich alljährlich photographieren lassen.«

Wieder schaute sie der Herr an. Er schien ein Lächeln zu unterdrücken.

»Photographieren Sie auch, mein Fräulein?«

»Ich habe einen kleinen Apparat, aber nur als Liebhaberei. Jetzt lerne ich hier das Photographieren, denn ich möchte später selbst ein Atelier eröffnen. – Warum haben Sie sich nicht im vorigen Jahre eingefunden?«

»Keine Zeit, kleines Fräulein, ich mußte viel reisen.«

»Ach so, Sie sind ein Reisender. – Welche Artikel führen Sie, mein Herr, oder – – wollen Sie uns nur Offerte machen? Sie wünschen doch ein Bild?«

»Jawohl, ein Brustbild.«

»Das wird Ihnen besonders gut zu Gesicht stehen, – ja, ein Brustbild ist wohl das Richtige für Sie. – Haben Sie in letzter Zeit gute Geschäfte gemacht?«

»Es ist mir allerhand geglückt.«

»Vielleicht haben Herr und Frau Brausewetter auch Bedarf in Ihren Artikeln. Eine Hand wäscht die andere. Darf ich noch einmal fragen, in was Sie reisen?«

Warum schmunzelte der Herr denn gar so sonderbar?

»In was ich reise, kleines Fräulein,« gab er gedehnt zurück, »in Krebsen.«

»Ach – – Lebensmittel? – – Hm, nun, die kann man immer brauchen. Hummermayonnaise esse ich für mein Leben gern. Die Großmama macht eine fabelhafte Mayonnaise. Aber da kommt wohl Herr von Sasseneck. Es war mir eine Freude, mein Herr, ich werde Herrn von Sasseneck sofort melden, daß Sie ein Brustbild wünschen.«

Ehe Goldköpfchen seine Absicht ausführen konnte, trat Herr von Sasseneck über die Schwelle, sah den Herrn, stutzte, schaute wieder zu ihm hinüber und machte dann eine sehr tiefe Verbeugung.

»Welche Ehre, Herr Geheimrat!«

Der andere winkte ab. »Ich kam ein wenig früh.«

»Entschuldigen Sie, Herr Geheimrat, ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar. Gehen Sie rasch hinüber ins Atelier, Fräulein Wagner, und ziehen Sie die Vorhänge auf.«

In der Tür warf Bärbel einen erstaunten Blick nach rückwärts. Dieser Reisende in Lebensmitteln war ein Geheimrat? – Wie merkwürdig! Vielleicht war das nur ein Komplott, und Sasseneck wollte sie verulken.

Die junge Elevin nahm sich vor, bei der Aufnahme noch mehr zu erlauschen. Aber da erschien Fräulein Pertis, die Bärbel in Anspruch nahm. Bärbel hatte nicht den Mut, zu fragen, sie erzählte nicht einmal, daß sie diesen rätselhaften Herrn empfangen habe. Aber mitten in der Arbeit kam Herr von Sasseneck aus dem Atelier gestürzt und rief hastig:

»Telephonieren Sie 'mal den Chef an, Geheimrat Rose ist im Atelier.«

»Was –?« rief Fräulein Pertis.

»Aufnahme für eine Zeitung.«

»Herr von Sasseneck, ich bin sofort da. – Fräulein Wagner, telephonieren Sie mit dem Chef.«

Bärbel blieb allein zurück. Geheimrat Rose, – das war ein Name, der ihr aus den Zeitungen schon oftmals entgegengeleuchtet hatte. Vor wenigen Tagen las die Großmama ihr vor, daß Herr Geheimrat Rose von seiner Reise zurückgekommen sei. Dieser Herr hatte ausgedehnte Forschungen auf medizinischem Gebiet unternommen. Man sagte, er habe – –

»Den Krebsbazillus,« schrie Bärbel auf.

Ja, – das war also der Geheimrat Rose. Er hatte ihr gesagt, er reise in Krebsen. Von Hummermayonnaise hatte sie ihm erzählt. Ein gekochter Krebs konnte nicht röter aussehen als Goldköpfchens Gesicht in diesem Augenblick. Dann fiel ihr wieder ein, daß sie an Herrn Brausewetter telephonieren solle. Sie mußte sich diesen bedeutenden Herrn nochmals ansehen. Ach, wie mochte er innerlich gelacht haben!

»So melden Sie sich doch!« Es war die Stimme Herrn Brausewetters.

»Herr Geheimrat Krebs ist gekommen. Er kam ganz zeitig.«

»Wer – – was will er?«

»Das ist doch der Mann, der in Paris, London – – ach – – Herr Geheimrat – – Rose heißt er ja.«

»Im Atelier zu einer Aufnahme?«

»Ja!«

Herr Brausewetter rief durch den Fernsprecher:

»Ich bin sofort da.«

Bärbel hing den Hörer wieder an. Selbst der Chef kam eilends herbei, wenn er hörte, daß der Geheimrat ein Bild haben wollte. – Und sie hatte ihn empfangen. Bärbel hatte ein Gefühl, als habe sie sich blamiert. Wie konnte sie solch einen berühmten Gelehrten für einen Reisenden halten! Das kam davon, wenn die Leute sich so wenig festlich kleideten. Wenn er wenigstens einen Orden von solch einem ausländischen Herrscher getragen hätte! Lieber Himmel, er hätte sich doch vorstellen können.

Bärbel stand an der Tür des Ateliers. Sie hörte die singende Stimme der Empfangsdame, zwischendurch Herrn von Sasseneck. Der berühmte Geheimrat sagte sehr wenig.

»Wir bitten um die hohe Ehre, Herr Geheimrat, noch eine zweite Aufnahme machen zu dürfen.«

»Muß das wirklich sein? Ich lasse mich so ungern photographieren. Aber diesmal ging es nicht anders. Ich bitte um ein wahrheitsgetreues Bild, keine Retusche, ich mag es nicht.«

»Sehr wohl, Herr Geheimrat.«

»Sie brauchen Ihre Wünsche nur zu äußern, Herr Geheimrat,« flötete Fräulein Pertis.

Goldköpfchen seufzte. Ein Lehrling hatte doch ein schweres Leben. Er mußte als Zaungast umherstehen und durfte nur die Brosamen verzehren, die von reichgedeckter Tafel fielen. Aber wenn er ging, wollte sie ihm doch die Tür öffnen.

Bärbel schlich hinaus in den Flur und machte die geöffnete Tür wieder zu. Anstatt den Pinsel zur Hand zu nehmen, um ihre gewohnte Arbeit auszuführen, ging sie wartend im Flur auf und ab, von Zeit zu Zeit an der Ateliertür lauschend.

Unten fuhr ein Auto vor. Der Chef kam. Goldköpfchen schob ihre zierliche Gestalt ins Empfangszimmer, wartete, bis Herr Brausewetter im Atelier verschwunden war, und lauerte dann erneut auf das Fortgehen des Geheimrats.

Schließlich kam er. An seiner Seite ging der Chef, Herr von Sasseneck eilte voran, er öffnete auch die Tür, Goldköpfchen war völlig ausgeschaltet.

Geknickt machte sich Bärbel wieder an ihre Arbeit. Was hatte sie nun davon, wenn sie so berühmte Leute nicht bedienen durfte? Aber der Großmama wollte sie erzählen, daß sie sich heute mit dem berühmten Gelehrten unterhalten habe.

Im Laufe des Vormittags wurde Goldköpfchen nach der Dunkelkammer gerufen, denn auch hier gab es allerlei Handgriffe für sie. Herr Brausewetter arbeitete selbst in dem von roten Lampen erhellten Raume.

»Ist auch die Platte vom Herrn Geheimrat darunter?« fragte sie, indem sie einen Blick auf die zahlreichen Glasplatten warf, die im Fixierbade schwammen.

»Jawohl.«

»Es ist wohl eine große Ehre für uns, wenn Herr Geheimrat Rose sein Bild hier anfertigen läßt?«

»Herr Geheimrat Rose ist eine Persönlichkeit, von der augenblicklich die ganze gebildete Welt spricht.«

»Wohnt er in Dresden?«

»Zur Zeit im Hotel. – Er reist bald weiter, soll hier einige Vorträge halten. Die Behörden haben ihn eingeladen, und ihm zu Ehren wird heute ein Festessen veranstaltet.«

»Er ist ein sehr jovialer Herr, ich habe mich recht gut mit ihm unterhalten.«

»Ich bin sofort wieder da, – legen Sie diese Platten dort hinüber; in jenes Bassin lassen Sie frisches Wasser.«

Es geschah. Bärbels Augen glitten immer wieder zu den schwimmenden Platten hin. – Auf welcher war wohl der berühmte Geheimrat? Eigentlich mußte sie sich diesen Mann einmal genauer betrachten. – Behutsam nahm sie eine Platte heraus, beschaute sie prüfend, legte sie wieder in die Flüssigkeit zurück. Eine zweite, – eine dritte, – schließlich hatte sie den Geheimrat gefunden.

»Ach,« sagte Bärbel, »nett bist du! Du siehst so gutmütig aus. – Also den Krebsbazillus hast du gefunden! – Donnerwetter, du kannst was!«

Da wurde die Tür geöffnet, Bärbel erschrak, hastig verbarg sie die Platte auf dem Rücken.

»Ich muß fort,« rief Herr Brausewetter in den Raum, »sagen Sie meiner Frau, daß sie sich weiter um alles kümmert. – Ich habe eine eilige Aufnahme im Schloß zu machen.«

Die Tür wurde wieder geschlossen, der Vorhang fiel zusammen, Bärbel wollte die Platte des Geheimrates ins Fixierbad zurücklegen, stieß damit gegen das Porzellanbassin, – die Platte hatte einen Sprung erhalten.

»Mein Geheimrat!« Es war ein erstickter Ausruf aus Bärbels Munde. Entgeistert schaute sie auf die verdorbene Platte. Sie hatte ein Gefühl, als stehe ihr plötzlich das Herz in der Brust still. Eiseskälte lief ihr am Rücken herunter. Der Sprung ging dem netten Geheimrat mitten durch das Gesicht.

Die Augen des jungen Mädchens füllten sich mit Tränen. – Was nun? Dieser berühmte Mann, von dem Herr Brausewetter selbst gesagt hatte, daß es eine Ehre sei, wenn er ins Atelier käme, von dem die ganze gebildete Welt rede, war mittendurch gesprungen.

»So muß es einem zumute sein,« stotterte sie verstört, »genau so, wenn ein Liebster der Liebsten das Herz mittendurch gerissen hat. – Was mache ich nun?«

Wem sollte sie sich anvertrauen? Das Unheil war so groß, daß es nicht wieder gutzumachen war. – Der Geheimrat geplatzt, mittendurch geplatzt!

Die Tränen tropften ihr aus den Augen, die Hände zitterten, die Füße versagten ihr fast den Dienst, sie mußte sich niedersetzen. Wenn Frau Brausewetter kam, wenn sie die verdorbene Platte sah, mit Schimpf und Schande würde man sie aus dem Atelier weisen.

»Was nützen mir alle deine Krebsforschungen, – da du nun doch geplatzt bist!«

Bärbel hätte am liebsten laut geweint. Hier war niemand, nein, keiner, dem sie ihr Herz ausschütten durfte. Alles kam ans Tageslicht, man jagte sie gewiß davon, die Lehrzeit hatte ein Ende.

»Ich will gerne zweitausend Tage lernen,« weinte sie, »wenn nur die Platte wieder heil würde. – Ich will alles geduldig ertragen. – Ach, warum habe ich die Platte aufgenommen!«

Zunächst wußte sich Bärbel keinen Rat. Gänzlich gebrochen blieb sie in der Dunkelkammer sitzen und vergaß, daß sie Frau Brausewetter doch Bescheid geben sollte. Die zerbrochene Platte füllte ihr ganzes Denken aus.

Was sollte sie nun werden? Mit der Photographie war es wohl zu Ende. Kein anderes Atelier würde sie annehmen, wenn man erfuhr, daß sie den berühmten Geheimrat Rose zerbrochen hatte.

Die Viertelstunden verrannen, Goldköpfchen merkte es nicht, bis sie schließlich draußen ihren Namen rufen hörte.

»Wo steckt denn diese Person?« Es war der Löwenkopf, der so laut brüllte. Und nun erst kehrten Bärbels Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Sie steckte die verdorbene Platte in die Schürzentasche, sie mußte ihr Vergehen gestehen, es blieb ihr nichts anderes übrig. Ach, sie sollte doch Frau Brausewetter benachrichtigen. Nun lagen die Platten noch immer in der Flüssigkeit. – Ob ihnen das wohl schadete?

Langsam und schwerfällig erhob sich Bärbel, zog den dunklen Vorhang zur Seite und öffnete die Tür. Das Licht blendete sie, die Augen schmerzten.

»Wo stecken Sie denn? Seit einer Stunde schreie ich nach Ihnen! Geheult haben Sie auch noch.«

»Ja, ich hatte Ursache dazu.«

»Kann mir's denken, daß der Chef Sie angepfiffen hat. Freilich, Sie bilden sich auch ein, wenn die Katze aus dem Hause ist, tanzen die Mäuse.«

»Wo ist denn Frau Brausewetter?«

»Sie ist soeben fortgegangen.«

»Fortgegangen?« ächzte Goldköpfchen. »Sie soll doch kommen, in der Dunkelkammer schwimmt alles!«

»Was schwimmt in der Dunkelkammer? Und wer verlangt nach Frau Brausewetter?«

Zögernd gab Bärbel Auskunft. Von der zerbrochenen Platte aber fiel kein Wort. Herr von Sasseneck war nicht die rechte Stelle, den Unfall zu melden. Das wollte Goldköpfchen Herrn Brausewetter selbst sagen. – Was dann weiter geschah, das wußte sie nicht.

Es gab allerlei Handreichungen zu machen, Fräulein Pertis und Herr von Sasseneck beanspruchten Bärbel dauernd. Wieder wurden Kinderaufnahmen gefordert, eine Dekoration mußte aufgestellt werden, kurzum, Bärbel wurde viel beansprucht. Sie tat alles mechanisch, denn in ihren Ohren sausten und brausten die Worte: mit Schimpf und Schande entlassen, weil der Geheimrat zerbrochen war.

In einer kurzen Ruhepause hörte Bärbel den Namen des berühmten Mannes. Die Empfangsdame behauptete, der Geheimrat sei der liebenswürdigste Herr, der auf der Erde zu finden sei. Er habe ihr sehr freundlich zugelächelt, ihr die Hand gedrückt; wenn mehr Zeit gewesen wäre, hätte er sie sicherlich gebeten, am heutigen Fest teilzunehmen.

Weiter erfuhr Bärbel, daß der Geheimrat im Hotel »Römischer Kaiser« abgestiegen sei, daß er ein Freund der Jugend wäre und daß er außerordentlich viel Humor besitze.

Da entstand in Bärbels Herzen ein verzweifelter Entschluß. Wenn einer sie jetzt retten konnte, war es Geheimrat Rose selbst. Sie mußte das Letzte versuchen.

Sie schaute nach der Uhr. In einer Viertelstunde war Mittagspause. Sie würde heute nicht heimgehen, sie würde nach dem »Römischen Kaiser« gehen und dem Geheimrat alles gestehen.

Das Herz schlug Bärbel bis zum Halse, als sie sich mittags fertigmachte. Immer wieder schaute sie in den Spiegel. Würde sie vor dem berühmten Manne bestehen? Würde er sie überhaupt vorlassen?

Das Hotel »Römischer Kaiser« war ihr bekannt. Sie benutzte die elektrische Straßenbahn und fuhr hin. Als sie die Vorhalle betrat, schlugen ihr die Zähne vor Erregung zusammen. Ein Herr trat an sie heran und fragte nach ihrem Wunsche.

»Wohnt hier Herr Geheimrat Krebs? Ach nein, Herr Geheimrat Rose?«

»Jawohl, der Herr Geheimrat ist hier abgestiegen.«

»Ich möchte ihn sprechen, – – ich muß ihn sprechen. – sagen Sie ihm – – alles steht auf dem Spiele.«

»Der Herr Geheimrat ist nicht zu sprechen.«

Bärbel wurde blaß und rot. Abermals füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Bitte, sagen Sie ihm, ich bitte Sie von ganzem Herzen, sagen Sie ihm, es handle sich um etwas sehr Wichtiges. Der Herr Geheimrat ist ein so guter Herr –«

»Herr Geheimrat gab den Auftrag, nicht gestört zu werden.«

»Dürfen Sie ihm wenigstens einen Brief abgeben?«

Unschlüssig schaute der Pförtner das junge Mädchen an.

»Ach, bitte!« flehte sie erregt.

Er reichte Bärbel einen Briefbogen mit Umschlag. Die Feder flog über das Papier.

»Hochverehrter Herr Geheimrat! Sie haben mich heute früh im Atelier Brausewetter gesehen. Nun ist mir ein großes Unglück mit Ihnen passiert. Ich bitte Sie, lassen Sie mich fünf Minuten zu Ihnen, damit ich nicht meine Stelle verliere.

Hochachtungsvoll

Bärbel Wagner.«

Sie klebte den Brief fest zu, händigte ihn dem Pförtner aus, der den Boy beauftragte, das Schreiben sogleich nach Zimmer Nr. 10 zu tragen.

Bärbel stand wartend in der Vorhalle. Bei jedem Geräusch zuckte sie nervös zusammen. Endlich kehrte der Boy zurück.

»Der Herr Geheimrat läßt bitten.«

»Nun ist alles gut,« sagte Bärbel aufatmend. Dann nahm sie die zerbrochene Platte aus der Handtasche und stieg hinter dem Boy die Treppe empor.

Man ließ sie eintreten. Der Geheimrat reichte ihr die Hand hin.

»Wenn Sie mir solch einen flehenden Brief schreiben, muß ich schon mein Ruhestündchen unterbrechen.«

Bärbel sah die flüchtig zusammengelegte Diwandecke, ein Beweis, daß sich der Geheimrat soeben erhoben hatte. Das machte sie noch verwirrter.

»Herr Geheimrat – – Herr Geheimrat – – Herr – – Herr Geheimrat – –«

»So nehmen Sie doch Platz. Warum sind Sie so sehr erregt?«

»Da haben Sie den Salat, – – Herr Geheimrat.«

Bärbel legte die gesprungene Platte auf den Tisch und begann bitterlich zu weinen.

»Aber, mein liebes Fräulein Bärbel Wagner, was ist denn eigentlich los?«

»Mitten durchs Gesicht sind Sie mir geplatzt – und nun lasse ich Sie nicht 'mal schlafen. – Mich werden sie fortjagen, denn es ist eine hohe Ehre für uns. – Aber ich habe es nicht gewußt, daß Sie den Krebs entdeckt haben. – Ich bin ja so dumm – – nur weil ich Sie noch 'mal sehen wollte, habe ich die Platte zerschlagen.«

»Ganz klug bin ich aus Ihren Worten noch nicht geworden, liebes Fräulein Bärbel Wagner, aber anscheinend haben Sie die photographische Platte zerbrochen.«

Bärbel nickte nur, sprechen konnte sie nicht.

»Herr Brausewetter war darüber wohl sehr ungehalten? Seien Sie ruhig, ich werde mit ihm telephonieren.«

Bärbel war aufgesprungen und legte beschwörend beide Hände auf den Arm des Geheimrates. »Um Himmelswillen, bleiben Sie sitzen, das wäre ja noch viel schlimmer!«

Geheimrat Rose amüsierte die Art dieses jungen Mädchens sehr. Er, der große Menschenkenner, sah sofort, daß hier ein ganz unverdorbenes, aber vollkommen verängstigtes junges Mädchen vor ihm stand, das diesen Unfall auf das höchste aufbauschte. Man hatte ja zwei Aufnahmen gemacht. Wenn also wirklich die eine Platte verdorben war, schuf die zweite Ersatz. Er begann Bärbel zu beruhigen, und ganz allmählich flaute auch die große Erregung Goldköpfchens ab.

»'rauswerfen tun sie mich doch wohl,« sagte Goldköpfchen. »Was soll ich nun werden?«

Geheimrat Rose schaute nach der Uhr. »Ich habe freilich sehr wenig Zeit, Fräulein Bärbel Wagner, aber da anscheinend Ihr ganzes Lebensglück auf dem Spiele steht, will ich's einrichten, heute nochmals nach dem Atelier zu kommen.«

»Ach, Sie engelsguter – –« Bärbel breitete beide Arme weit aus, ließ sie aber sofort wieder erschreckt sinken. »Ich meinte nur, Herr Geheimrat, Sie sind viel zu gut zu mir!«

»Am besten ist es wohl, wir gehen sogleich zurück ins Atelier.«

»Und Ihr Mittagsschlaf?«

Er lachte belustigt. »Den opfere ich für Ihr Lebensglück.«

»Das will ich Ihnen vergelten, tausendmal. – Aber jetzt ist doch keiner da. Herr Brausewetter kommt erst um drei Uhr.«

»Haben Sie jetzt Freizeit?«

»Ja, sonst gehe ich heim, aber heute konnte ich es nicht, heute mußte ich doch zu Ihnen kommen. Ich hätte ja doch keinen Bissen heruntergebracht.«

»Werden sich die Eltern nicht ängstigen?«

»Hier in Dresden lebt nur meine Großmama.«

»So will ich Ihnen einen Vorschlag machen, Fräulein Bärbel Wagner. Mit meinem Mittagsschlaf ist es doch vorbei. Wir nehmen gemeinsam unten im Hotel ein kleines Frühstück ein, und Ihrer Großmama schicken wir einen Boten. – Ich bestelle auch etwas ganz Schönes.«

»Ich weiß nicht recht – –«

»Denken Sie an die verdorbene Platte. – So, und jetzt kommen Sie, wir essen zusammen Hummermayonnaise.«

Da wurde Bärbel wieder glühend rot. »Ich habe ja nicht gewußt, daß Sie kein Reisender sind.«

»Nun kommen Sie, und die liebe Großmama erhält eine Nachricht. Es ist so herzerfrischend, mit Ihnen zu plaudern.«

»Ob es sich gehört, weiß ich im Augenblick nicht, aber ich möchte wohl gern mit Ihnen mitkommen, und Hunger habe ich auch mächtig.«

»Nun also,« meinte der Gelehrte gütig lächelnd, »dann kommen Sie mit mir, und nachher fahren wir zu Herrn Brausewetter.«

Für den weitgereisten, ernsten Mann war es eine Stunde froher Entspannung, als er mit Bärbel Wagner im Speisezimmer saß und Hummermayonnaise verzehrte.


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