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Siebentes Kapitel.
Bärbel wird in Verlegenheit gebracht

»Großmama? – – Herr Wendelin hat heute, am goldenen Sonntag frei, ich muß um ein Uhr im Atelier sein. Wir haben soooo viel zu tun! Bei Herrn Wendelin ist das anders, da ist der Sonntag ein Sonntag, – ein Ruhetag.«

»Das ist in jedem Beruf anders, mein Goldköpfchen. Auch der goldene Sonntag wird vorübergehen, und dann hast du die Weihnachtsfeiertage für dich!«

»Zwei, Großmama; Herr Wendelin hat drei.«

»Ich denke, mein Kind, du arbeitest gern?«

»Freilich, Großmama, aber so ein freier Tag ist immer etwas sehr Schönes. Nun, ich werde nicht klagen. Durch Klagen kommt man nicht weiter. Ich werde heute arbeiten, und andere werden den schönen Wintertag genießen.«

»Denke doch an die vielen Angestellten, für die gerade der goldene Sonntag so überaus anstrengend ist.«

Goldköpfchen nickte nachdenklich. »Ja, Großmama, du hast recht. Es ist eigentlich verkehrt, daß alle die Menschen, die in der Woche Zeit haben, erst am Sonntag einkaufen. – Weißt du, Großmama, es ist sehr wertvoll eingerichtet, daß ein junger Mensch sich im Beruf herumquälen muß, ich sehe aus einem ganz anderen Gesichtswinkel auf die Verkäuferinnen.«

»Ei ei, Goldköpfchen, das freut mich zu hören. Ich erinnere mich noch recht genau, daß ein kleiner Backfisch einstmals sehr unfreundlich zu solch einer Verkäuferin war, weil er nicht schnell genug bedient wurde.«

»Stimmt, Großmama, – aber damals war ich noch ein dummes Ding. Mit den Jahren kommt der Verstand.«

»Du mußt dich beeilen, mein Bärbel, es geht bereits auf ein Uhr.«

»Schön, Großmama, die Pflicht zerrt mich von dir fort. Ich glaube, heute wird es 'mal wieder toll hergehen.«

Bärbel hatte recht vermutet. Kurz nach zwei Uhr setzte im Atelier Brausewetter riesiger Hochbetrieb ein. Man wollte die Bilder, die heute nachmittag gemacht wurden, noch bis zum Weihnachtsfeste haben. Da mußte man sicherlich in den letzten drei Tagen allerhand Überstunden machen, um alle Wünsche zu befriedigen.

Bärbel wurde abwechselnd ins Empfangszimmer, in die Dunkelkammer oder in die Ateliers gerufen. Dem jungen Mädchen schwirrte der Kopf, denn es gab gar vieles zu überlegen und zu bedenken. Bärbel bewunderte Herrn und Frau Brausewetter, die ihre gleichmäßige Liebenswürdigkeit behielten, die jedem freundlich Rede und Antwort standen, während Herr von Sasseneck bereits ein wenig nervös geworden war. Auch der Empfangsdame merkte man es an, daß sie über Gebühr in Anspruch genommen wurde, trotzdem lächelte Fräulein Pertis stets verbindlich und unterhielt sich angelegentlich mit den wartenden Kunden.

Da wurde Bärbel plötzlich ins Empfangszimmer gerufen. Fräulein Pertis stand an der Tür.

»Zwei Herren aus der französischen Botschaft. Sie sprechen doch perfekt französisch?«

»Ich? – O oui!«

Bärbel erschrak. Wohl hatte sie Französisch in der Schule gelernt, doch ihr Eifer war nicht zu groß gewesen, und die französische Sprache hatte ihr manche Schwierigkeit bereitet. Bei ihrem Engagement hatte man geäußert, daß gerade Kenntnisse in französischer und englischer Sprache in diesem Berufe wertvoll seien. Man brauche diese Sprachen öfters. Da Fräulein Pertis nur englisch sprach, wurde Bärbel zur Hilfe herangezogen, zumal noch sechs andere Kunden anwesend waren. Die Herren aus der Botschaft würden also längere Zeit warten müssen, und Bärbel sollte dafür sorgen, daß sie Unterhaltung hatten, falls sie solche wünschten.

»Ich habe kein Seidenkleid an,« flüsterte Bärbel, »ich bin mehr fürs Atelier, ich bin doch nur Lehrling.«

»Rasch, fragen Sie die Herren nach ihren Wünschen.« Fräulein Pertis hatte natürlich nur wieder die Absicht, Goldköpfchen zu blamieren, weil sie ahnte, daß das junge Mädchen von der Schule her wohl nicht mehr allzu viel Kenntnisse in dieser Sprache besaß.

Mit klappernden Zähnen ging Goldköpfchen durch das Zimmer. Brustbild oder Ganzaufnahme, – dunkler oder heller Hintergrund. Alles das waren Fragen, die sie stellen mußte. Aber keine dieser Vokabeln war ihr bekannt. Sie würde wahrscheinlich die geäußerten Wünsche nicht verstehen. Außerdem sahen die Herren so hochmütig aus, daß Bärbel überhaupt keine Hoffnung hatte, daß dieser Zwischenfall gut ausging.

» Bonjour!« Das konnte sie. Aber nun mußte noch etwas Verbindliches gesagt werden.

Die Herren blieben schweigsam. Bärbel wurde immer unsicherer. Sie merkte, daß Fräulein Pertis zu ihr hinüberschaute. So nahm Bärbel mehrere Bilder zur Hand und reichte sie den beiden Herren.

» Ici!«

Die Herren murmelten Worte, die sie nicht verstand.

Goldköpfchens Stimme sank bis zum Flüstern hinab.

» Voulez-vous – –« Sie hielt ihren Arm quer vor die eigene Brust, dann bis an die Knie, schließlich nur bis an den Hals.

»Ich wünsche ein Brustbild.«

Bärbel wäre dem Franzosen am liebsten um den Hals gefallen. – Er sprach deutsch. Ein Glück, nun war sie gerettet. Ach, daß er doch recht leise spräche, damit es die Pertis nicht hörte. Sie brauchte nur zu sehen, wie man die Lippen bewegte, und sollte glauben, daß man in französischer Sprache parlierte.

Die Herren griffen aber sehr bald nach einer Zeitung, so merkte Bärbel, daß sie hier überflüssig war, und sagte laut und deutlich:

» Adieu, messieurs!«

Ihre Augen suchten Fräulein Pertis. Die unterhielt sich lebhaft mit einer älteren Dame. – Schade!

In demselben Augenblick, als Bärbel das Empfangszimmer verlassen wollte, öffnete sich die Tür, ein großer, schlanker Herr erschien.

»O-o-o-o,« das junge Mädchen lachte über das ganze Gesicht und eilte rasch durch das Zimmer. »Herr Wendelin!«

»Ich muß Sie doch auch einmal im Atelier besuchen, Fräulein Bärbel.«

Aber im nächsten Augenblick fiel es Bärbel schwer aufs Herz, daß sie den jungen Ingenieur als ihren Verlobten ausgegeben hatte. Fräulein Pertis mußte den Namen gehört haben, – sie hatte ihn gehört, denn sie schaute unverwandt den Eintretenden an. Bärbels Gesicht wurde blutrot. Sie faßte verstohlen nach der Rechten Wendelins.

»Bitte, gehen Sie wieder fort,« flüsterte sie.

»Warum denn?«

»Es – – ach – – es ist so voll hier – –, kommen Sie doch lieber nach Weihnachten wieder. – Sehen Sie, wir haben jetzt alle Händevoll zu tun. Sie sind doch immer so rücksichtsvoll. – Ach, bitte, gehen Sie wieder heim, oder gehen Sie in ein anderes Atelier.«

»Aber, Fräulein Wagner!« Die Empfangsdame stand wie aus der Erde gewachsen neben Bärbel. Sie mußte die letzten Worte gehört haben.

Bärbels Stimme zitterte.

»Ich meinte, – gehen Sie in ein anderes Atelier, dann werden Sie natürlich eine ganz schlechte Aufnahme bekommen, – nur im Atelier Brausewetter gibt es –«

»Wollen Sie mich nicht bekannt machen?«

»Das ist – – das ist – – ja, Herr Wendelin ist es.«

»Kommen Sie sich nach Ihrem Fräulein Braut umsehen?«

Ach, daß sich die Erde öffnete, um Bärbel zu verschlingen! Bärbel trat ein paarmal heftig auf den Fußboden, dann wurde sie blaß. – So ging es ihr immer. Sobald sie irgendeine Unwahrheit sagte, dauerte es nur kurze Zeit, und alles kam ans Tageslicht.

Der junge Ingenieur schaute fragend auf Bärbel, sah deren grenzenlose Verlegenheit und sagte ablenkend: »Fräulein Wagner meinte, ich würde heute zu lange warten müssen.«

»Es wird sich gewiß Gelegenheit finden, inzwischen mit Ihrem Fräulein Braut etwas zu plaudern. Wir haben freilich viel zu tun, doch will ich Ihr Fräulein Braut gern für Augenblicke vertreten.«

»Ja –« sagte Bärbel noch immer bebend, »aber mein Verlobter – nicht wahr, Herr Wendelin – – ach so, – – vor Fremden nennen wir uns immer Sie. – Aber ich glaube, es hat geklingelt, ich muß zu Herrn Brausewetter.«

Weg war sie. Den Blick dieser forschenden Männeraugen ertrug sie nicht. Mochte jetzt alles ans Tageslicht kommen, aber zugegen sein wollte sie nicht. Daß die olle Pertis auch stets zur ungelegenen Zeit kam! Was würde Herr Wendelin jetzt von ihr denken? Er würde sie verachten, – er würde sie für eine Männerjägerin halten. Wie oft hatte er gesagt, daß er an den jungen Damen die Zurückhaltung so sehr liebe.

Sie hatte einmal gelesen, daß ein anständiger Mann, wenn er durch andere in peinliche Situationen kam, als Ehrenmann die Pflicht habe, die Dame zu heiraten. Aber er würde ihr nur widerwillig einen Antrag machen.

Es stieg Bärbel heiß in die Augen. Wendelin würde sie fallen lassen, und dann war ihr dieser liebe Freund genommen, dem sie bisher alles anvertraut hatte. Der Gedanke, daß sie diesmal das Weihnachtsfest nicht daheim bei den Eltern verleben konnte, war schmerzlich für sie gewesen. Als einziger Trost erschien ihr der Besuch Wendelins, den die Großmama für beide Feiertage und auch zum Heiligen Abend eingeladen hatte. Er würde nun absagen. Er würde auch nicht mehr mit ihr auf die Eisbahn gehen. Wie eine Ausgestoßene würde sie von nun an allein auf der spiegelglatten Fläche dahingleiten. Der Freund war ihr verloren, ihre Ehre hin.

»Ach, hätte ich doch niemals diesen Unsinn gesagt! Aber es war doch nur ein Abwehrmittel gegen den aufdringlichen Sasseneck.«

Bärbel stand vor der Tür des Empfangszimmers und bemühte sich, durch das Schlüsselloch etwas zu erspähen. Es gelang nicht. – Was würde die Pertis jetzt mit Wendelin erzählen? Seit dieser Stunde wußte er, daß sie eine Lügnerin war, und wer log, war zu allen Schandtaten fähig.

Frau Brausewetter verlangte nach Bärbel. Das junge Mädchen hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen, und immer wieder überlegte Bärbel, ob sie nochmals die Gelegenheit suchen sollte, sich mit dem Freunde auszusprechen. Aber er würde sie von nun an meiden, und am Heiligen Abend würde sie mit der Großmama allein unter dem Tannenbaum sitzen. Herr Wendelin würde fehlen.

»Und dabei habe ich ihm doch zu verstehen gegeben, daß ich Mokkaschokolade so gern esse. – Da bin ich nun extra mit ihm die Königstraße entlang gegangen, weil es dort so schöne Mokkabohnen gibt. – Nun bekomme ich sie auch nicht. – Ach, welch ein elendes Leben muß ich von heute an führen!«

Einer nach dem anderen wurde photographiert; nun kam ja auch Herr Wendelin an die Reihe. Goldköpfchen sah ihn im Atelier von Brausewetter verschwinden. Wenn sie wenigstens noch einen Blick aus seinen Augen erhaschte! – Wie würde er sie anblicken? Wie Don Carlos, als er vom Leben Abschied nimmt, oder haßfunkelnd, wie Othello, ehe er Desdemona würgt?

»Alles durch meine eigene Schuld,« klagte sie, »wenn ich mir doch diese gräßliche Zunge herausreißen könnte, die immer viel mehr sagt, als ich selber will.«

Die Absicht, Wendelin beim Fortgehen zu sehen, mißlang. Bärbel hatte gerade in der Dunkelkammer zu tun und konnte nicht fort. Sie wagte sich aber auch nicht mehr ins Empfangszimmer. Trotzdem war es nicht zu verhindern, daß sie mit Fräulein Pertis in einem der Räume zusammentraf.

»Ein sehr angenehmer Herr, diese rechte Hand vom Direktor.«

Bärbel senkte schuldbewußt das Köpfchen.

»Wir haben uns ganz prächtig unterhalten. Ich wußte nicht, daß Herr Wendelin ein so guter Schlittschuhläufer ist. Da werden wir uns am ersten Feiertag nachmittags wohl auf der Eisbahn treffen?«

Auch jetzt schwieg Bärbel. In ihrem Innern brach etwas zusammen. Wendelin hatte seine Zuneigung Fräulein Pertis geschenkt, die ihn so girrend angelacht hatte. Wahrscheinlich bildete er sich ein, daß in Fräulein Pertis kein Falsch war, während sie als Lügnerin dastand.

»Ich habe mit meinen Freunden furchtbares Unglück,« philosophierte Bärbel, als sie allein war. »Wie hat mich Karl Schilling geliebt! Noch heute denke ich an das Stück Blutwurst, das er mir sandte. Und mein Gerhard Wiese, – er war zwar ein Dieb, er bestahl Heinrich Heine, aber er meinte es doch gut mit mir. – Und nun – – alles vorbei!«

Endlich erklärte Herr Brausewetter, daß das Atelier geschlossen werde. Er bat Herrn von Sasseneck, noch für eine Stunde hier zu bleiben, da noch allerlei Arbeiten zu erledigen wären. Bärbel und Fräulein Pertis konnten für heute heimgehen.

Bärbel atmete auf. Sie trödelte absichtlich lange, weil sie es vermeiden wollte, mit der Empfangsdame zusammen hinunterzufahren. Sie fürchtete, daß Fräulein Pertis ihr wieder spitze Bemerkungen sagen könnte.

Die Gehaßte war gegangen, Bärbel wartete noch eine Viertelstunde, dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl herunter. Es war ein Viertel nach sieben.

»Ein schöner goldener Sonntag, – für mich ein schwarzer Tag!«

Sie bog um die Straßenecke – da stockte ihr Fuß. Vor ihr her ging ganz langsam im Schlenderschritt ein Pärchen: Herr Wendelin und Fräulein Pertis.

Bärbel überlegte. Sollte sie zurückgehen und den Umweg durch die Sächsische Straße machen? Nein, – sie würde auf die andere Straßenseite gehen, Fräulein Pertis einen vernichtenden Blick zuwerfen und sich niemals wieder um Wendelin kümmern.

»Strich darunter,« sagte sie, machte eine energische Bewegung mit dem Arm, wobei sie eine des Weges kommende Dame kräftig stieß. Bärbel erhielt dafür einen unwilligen Blick, wollte soeben die Straße überqueren, da drehten sich Wendelin und die Pertis um.

»Ah, Fräulein Bärbel, – auf Sie haben wir gewartet.«

»Ich habe Eile!« Das war alles, was das junge Mädchen in seiner großen Ratlosigkeit hervorstieß. Bärbel schämte sich vor Wendelin, und der Pertis wollte sie nicht zeigen, wie es in ihr ausschaute.

»Ich darf Sie doch heimbringen, Fräulein Bärbel?«

»Sie – – mich? – – Auch jetzt noch?«

»Ich will nicht stören,« flötete Fräulein Pertis, »Brautleute soll man allein lassen.«

Sie verabschiedete sich, schüttelte Herrn Wendelin herzlich die Hand und lächelte ihn vielsagend an. Wendelin trat rasch an die Seite Bärbels, die eiligst weiterstrebte.

»Seit einer halben Stunde warte ich auf Sie, und jetzt wollen Sie mir fortlaufen?«

Bärbel verzog krampfhaft das Gesicht. Was würde nun kommen? Sie wagte nicht, ihren Begleiter anzuschauen.

»Sie sind recht froh, daß der schwere Arbeitstag vorüber ist?«

Da war es mit Bärbels Fassung vorbei.

»Warum reden Sie nicht, wie Sie denken, Herr Wendelin? Schelten Sie mich nur tüchtig aus. – Wenn eben die Trennungsstunde zwischen zwei Freunden schlägt, muß ich es ertragen. – Ich habe es aber nicht schlimm gemeint, – ich will Sie wahrhaftig nicht heiraten, ich habe doch meinen Beruf, meine Kamera, und in der Dunkelkammer fühle ich mich wohl. Auch in meinem Innern ist es dunkel! Ich wollte Ihnen nichts Schlimmes antun. Es war ein Schritt der Verzweiflung.«

»Warum sind Sie denn so erregt, kleines, liebes Bärbel?«

»Sie nennen mich noch liebes Bärbel, – nach den schrecklichen Vorkommnissen des Tages?«

»Was ist denn so Schreckliches vorgefallen?«

»Sie haben es doch selbst gehört,« stieß Bärbel krampfhaft hervor, »Fräulein Pertis hat es Ihnen ja gesagt. Aber denken Sie nur nicht, daß ich auf Sie Jagd mache, Herr Wendelin, ich heirate wirklich nicht, – nie – und Sie schon gar nicht! Aber der Sasseneck verfolgte mich, und ich mußte ihn loswerden. Da schob ich Sie vor in meiner großen Angst.«

»Das war sehr lieb von Ihnen, daß Sie in Augenblicken der Angst gerade an mich denken, Fräulein Bärbel.«

»Weil Sie eben mein Freund sind, und weil mir im Augenblick kein Besserer einfiel. Ich ahnte ja nicht, daß Sie einmal ins Atelier Brausewetter kommen würden. – Das kommt alles nur daher, weil Sie frei haben und ich arbeiten muß.«

»Ich fand es recht nett, daß Sie mich als Ihren Verlobten vorstellten, nur haben Sie später Ihre Rolle nicht ganz gut gespielt.«

»Sie brauchen nicht als Ehrenmann zu handeln, Herr Wendelin. Sie brauchen mir keinen Antrag zu machen, denn ich bleibe bis an mein Lebensende ledig.«

»Ich glaube nicht, daß Fräulein Pertis den kleinen Scherz geglaubt hat. Fräulein Pertis ist eine gewandte und erfahrene Dame – –«

»Da haben wir's,« sagte Bärbel mit tiefem Seufzer, »ich habe Ihnen doch erzählt, wie sie ist. Sie würden eine Schlange an Ihrem Busen tragen, wenn Sie die Pertis heiraten würden. Ich warne Sie, Herr Wendelin, nehmen Sie sich lieber ein ehrliches Mädchen zur Frau, eines, das nicht immer schwindelt und sich verstellt. Die Pertis ist so falsch, – wollen Sie wirklich mit ihr Schlittschuh laufen?«

»Kein Gedanke, Fräulein Bärbel, ich habe doch meine liebe Partnerin.«

»Ja, – wollen Sie denn noch weiter mit mir verkehren?«

»Warum denn nicht?«

»Obwohl ich Sie in eine recht merkwürdige Situation brachte?«

Er drückte leise ihre Hand. »Ich freue mich schon so sehr auf die Feiertage. Zwei ganze Nachmittage darf ich dann mit Ihnen verbringen.«

»Da haben sie was Rechtes.«

»Doch, Fräulein Bärbel, das ist für mich eine große Festfreude, ich hoffe, daß auch Ihnen die Feiertage gefallen, und daß Sie keine zu große Sehnsucht nach zu Hause haben werden.«

»Ein bißchen wird sie mich zwicken, aber wenn wir recht viel Ulk machen, wird es schon gehen.«

»Dann könnten wir ja Verlobte spielen, wir trinken Brüderschaft, nennen uns in Zukunft Harald und Bärbel, – wie wäre das?«

»Nein, Herr Wendelin, Sie wollen nur wieder den Ehrenmann spielen. Wir wollen es bei dem alten Zustand belassen. Wir wissen beide ganz genau, daß wir uns niemals heiraten werden. Wir nehmen jeder einen anderen, der uns geeigneter erscheint.«

»Ob wir das finden werden, Fräulein Bärbel?«

»Massenhaft!«

»Es gibt aber nicht viele Bärbel Wagners auf der Erde.«

»Nehmen Sie doch eine Ingrid oder eine Isolde, – oder gar eine Julia.«

»Das werde ich mir noch sehr überlegen, kleines Fräulein Bärbel.«

Als sie an einem Blumengeschäft vorüberkamen, trat Wendelin rasch ein, brachte eine schöne Rose heraus und reichte sie Bärbel.

»Sie waren heute so fleißig, Fräulein Bärbel, Sie müssen dafür eine kleine Belohnung haben.«

Goldköpfchen nahm die prächtige Rose entgegen.

»Ich danke Ihnen herzlich, Herr Wendelin. Es ist doch schön, daß Sie jetzt in besseren Verhältnissen sind als früher und etwas kaufen können. Damals hatten Sie doch gar nichts.«

»Nein, Fräulein Bärbel, ich war ein ganz armer Schlucker.«

»Verdienen Sie heute schon so viel, um eine Frau zu ernähren?«

»Wenn diese Frau nicht zu anspruchsvoll ist, mag es gehen.«

»Dann suchen Sie sich eine aus, die nicht immerzu neue Kleider haben will. Vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen. Meine Freundin Edith Scheffel würde ganz gut zu Ihnen passen.«

»Ich denke, ich warte mit dem Heiraten noch ein Weilchen.«

»Ach ja, Herr Wendelin, wir wollen lieber noch zusammen Schlittschuh laufen. Wer weiß, ob Ihre zukünftige Frau eine Freundin dieses Sportes ist. Wenn ich um etwas bitten darf, Herr Wendelin, so möchte ich Ihnen raten, warten Sie, bis ich mein eigenes Atelier habe. Ich photographiere dann die ganze Brautgesellschaft. Sie müssen es so einrichten, daß es meine erste Aufnahme wird.«

»Darüber reden wir später, Fräulein Bärbel.«

»Sie verachten mich also nicht, daß ich Sie als meinen Verlobten ausgab?«

»Wie könnte ich Sie verachten?« erwiderte er herzlich.

Bärbel hatte das Haus erreicht, in dem Frau Lindberg wohnte.

»Kommen Sie noch ein bißchen mit 'rauf, Herr Wendelin?«

»Nein, danke, ich habe ja die Freude, in drei Tagen bei Ihnen weilen zu dürfen.«

Sie reichten sich die Hände, dann eilte Bärbel die Treppe empor. Sie mußte der Großmama erzählen, was sich heute alles ereignet hatte. –

*

Heiliger Abend! Obwohl sich Frau Lindberg alle Mühe gegeben hatte, Bärbel zu erfreuen, konnte sie es doch nicht verhindern, daß Bärbel voller Sehnsucht der Eltern und Brüder gedachte. Es war das erstemal in ihrem Leben, daß sie am Weihnachtsabend das Geschrei der Brüder, die lieben Worte der Eltern nicht hörte. Die vielen Geschenke, die sie von daheim erhielt, erfreuten sie herzlich, aber Bärbel konnte sie nicht ohne Wehmut betrachten. Sie hielt sich aber trotzdem tapfer, und als Harald Wendelin endlich ankam, waren ihre Augen wieder hell und klar.

Er brachte wirklich die begehrte Mokkaschokolade und ein kleines Päckchen, in Seidenpapier eingewickelt. Frau Lindberg hatte einen prachtvollen Blumenstrauß erhalten, der jetzt die Tafel schmückte.

Ein übermütiger Schrei klang durch den Raum. Bärbel hielt in der erhobenen Rechten ein Bild.

»Großmama – – Atelier Brausewetter, – schau' rasch 'mal her! – Au, fein! Wissen Sie, Herr Wendelin, Sie sind auf dem Bilde viel hübscher als in Wirklichkeit!«

»So?« fragte der junge Ingenieur lächelnd.

»Nun sehen Sie doch nur 'mal her! – Frau Brausewetter hat Ihre Nase viel griechischer gemacht. – Ach, und was haben Sie für niedliche Lippen!«

»Aber Bärbel!«

»Die Augen sind dieselben, – nun ja, die Augen sind in Wirklichkeit recht hübsch. – Aber ich hätte den Kopf ein wenig mehr nach links geneigt.«

»Aber Kind, was schwatzest du denn für Unsinn!«

»Natürlich, für den Laien ist das alles sehr gut ausgeführt, – du darfst doch nicht vergessen, Großmama, daß ich im Atelier Brausewetter arbeite, wir Berufsleute sehen das alles unter einem ganz anderen Gesichtswinkel. – Finden Sie das nicht auch, Herr Wendelin? Aber es ist reizend, daß ich Ihr Bild habe!«

»Freuen Sie sich wirklich darüber, Fräulein Bärbel?«

»Na – mächtig. – – Großmama, das hänge ich übers Bett!«

»Dann weiß ich also, daß Sie mich an jedem Morgen ansehen werden.«

»Mach' ich, Herr Wendelin. Über dem Bett hängt nämlich mancher Unrat, eine Todsünde nach der anderen. Es ist das so 'ne Art Revue. – Wissen Sie, alles kommt darin vor. Mein ganzes Leben zieht in Bildern an mir vorbei. Wer weiß, was noch alles aufgehängt wird!«

»Davon müssen Sie mir erzählen, Fräulein Bärbel.«

»Kommen Sie mit, ich will Ihnen das zeigen.«

»Bleib' nur hier,« sagte Frau Lindberg, »Punsch und Pfannkuchen warten, wir wollen heute einen echten deutschen Weihnachtsabend feiern.«

»Und Sie spielen etwas. – Großmama, er kann so schön spielen.«

»Das will ich gern tun,« versprach Herr Wendelin.

»Wissen Sie noch, Herr Wendelin, wie ich Sie daheim immer bat, mir die Lieder aus ›Frauen Liebe und Leben‹ zu spielen?«

»Wie könnte ich das jemals vergessen, Fräulein Bärbel! Es war damals, als ich die ersten schönen Tage im Hause Ihrer Eltern verleben durfte.«

Goldköpfchen war ganz begeistert.

»Und dann spielten Sie von Grieg: ›Ich liebe dich‹. – Das können Sie mir heute auch 'mal wieder vorspielen, Herr Wendelin.«

»Das werde ich gern tun, Fräulein Bärbel. Aber ich denke, zunächst singen wir gemeinsam einige Weihnachtslieder.«

Er setzte sich ans Klavier, und die »Stille Nacht, heilige Nacht« klang durch den Raum. Bärbel begann mit heller Stimme zu singen; doch schon nach dem ersten Vers war ihr die Kehle wie zugeschnürt. Sonst hatte sie das Lied daheim mit den Eltern und Brüdern gesungen, heute war niemand von jenen anwesend.

Sie ließ die Geschenke der Eltern und Brüder durch die Finger gleiten, sang leiser und immer leiser und verstummte schließlich ganz. Auf das schöne, neue Kleid, das die Mutter geschenkt hatte, fielen Tränen.

Frau Lindberg sah es, aber sie ließ Goldköpfchen gewähren, drehte ihm sogar den Rücken zu. Sie wußte aus eigener Erfahrung, daß solch ein Weihnachtsabend allerlei Erinnerungen erweckt, Sehnsüchte aufsteigen läßt, und daß es nicht ratsam ist, diese Stimmung zu stören. Als das Lied geendet, flüsterte sie Wendelin leise zu, daß er gleich mit dem zweiten beginnen möge.

Der tat es. Auch er hatte einen schnellen Blick auf Bärbel geworfen, sah den gesenkten Kopf und die feuchten Augen.

»O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter!«

Bärbels Herz wurde immer schwerer. Sie schaute nach der geschmückten Tanne. Frau Lindberg hatte sich bemüht, den Baum möglichst ähnlich dem zu gestalten, wie ihn Bärbel daheim gewöhnt war. Aber Bärbel fand doch, daß dieser Christbaum nicht so strahlend brannte wie daheim, und plötzlich eilte sie aus dem Zimmer, ging in ihr Stübchen und weinte sich dort heimlich aus. Praktisch, wie sie veranlagt war, hatte sie nicht vergessen, die große Schachtel mit den Mokkabohnen mitzunehmen. Abwechselnd führte sie das Taschentuch an die Nase und steckte eine der Mokkabohnen in den Mund.

Harald Wendelin war mit der Großmutter allein. Frau Lindberg hielt es für richtig, nochmals auf den letzten törichten Streich der Enkelin zurückzugreifen. Sie gab dem jungen Ingenieur die nötigen Erklärungen für Bärbels unwahre Aussagen.

»Meine Enkelin hat sich wirklich nichts Schlimmes dabei gedacht, Herr Wendelin, ich kenne sie viel zu gut. Sie wollte ein wenig prahlen, auch wollte sie sich dadurch vor weiteren Zudringlichkeiten des Herrn von Sasseneck schützen. Sie hat mir alles genau erzählt, denn Bärbel hat zum Glück keine Geheimnisse vor mir.«

Harald Wendelin faßte einen Entschluß.

»Darf ich es Ihnen verraten, gnädige Frau, daß ich kein größeres Glück kennen würde, als wenn aus diesem Scherz einmal Wahrheit würde.«

»Bärbel ist so jung.«

»Jawohl, gnädige Frau, und aus diesem Grunde bleiben meine Lippen noch fest geschlossen, zumal Fräulein Bärbel über ihre eigenen Gefühle sich selbst noch nicht klar ist. Diese holde Mädchenblume hat sich noch nicht erschlossen. Ich glaube nicht, daß Fräulein Bärbel heute schon weiß, was Liebe ist.«

»Sie haben recht, Herr Wendelin, Bärbel schwärmt bald für diesen, bald für jenen, von Ihnen spricht sie stets als von ihrem besten Freunde. Sie haben es soeben aus ihren Bemerkungen gehört, daß Bärbel Ihnen gegenüber kein Blatt vor den Mund nimmt, sogar vor einer Grobheit nicht zurückschreckt.«

»Diese frische, ehrliche Natürlichkeit ist es, die mich so bezaubert.«

»Jawohl, es ist für uns alle eine große Freude, zu sehen, daß es auch heute noch junge Mädchen gibt, die fröhlich, frisch und unverdorben durchs Leben gehen. Bärbel ist gewiß kein Engel, sie hat viele kleine Fehler, aber ihr Charakter ist lauteres Gold. Das Häßliche und Unschöne, das das Leben so reichlich mit sich bringt, kommt an mein Bärbel nicht heran. Gebe der Himmel, daß es uns gelingt, sie weiter so zu erhalten, wie sie heute ist.«

»Fräulein Bärbel hat mir freilich herzlich wenig Hoffnungen auf die Zukunft gemacht,« lächelte Wendelin. »Sie will niemals heiraten, liebt nur die Kamera und hat mir sogar schon eine Braut vorgeschlagen. Aber trotzdem hoffe ich, diesen köstlichen Schatz zu erringen.«

»Nun will ich nach meiner Enkelin schauen. Es ist nicht gut, wenn sie zu lange allein bleibt. Seien Sie fröhlich, Herr Wendelin, Bärbel soll wieder helle Augen bekommen.«

Goldköpfchens größter Schmerz war bereits versiegt. Als Frau Lindberg das Zimmer betrat, lachte sie der Großmutter entgegen.

»Es stimmt schon, was die großen Dichter sagen: himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt, – glücklich allein ist die Seele, die liebt. – Es ist doch ein Skandal, daß mir der Gerhard Wiese keinen Weihnachtsgruß schickte. Ich glaube, er ist noch immer derjenige, der meine erste Herzkammer ausfüllt.«

»Nun, du hast ja vier Herzkammern, mein Kind, in der zweiten sitzt Armin Rabes, in der dritten der Dr. Hering, und in der vierten vielleicht Harald Wendelin.«

»Herr Wendelin – – hm – – koste 'mal, Großmama, die Mokkabohnen schmecken prächtig.« – –

Und dann wurde es doch noch ein recht fröhlicher Weihnachtsabend. Man sprach viel von daheim. Großmama Lindberg erzählte aus Bärbels frühester Kindheit.

»Du hast uns mancherlei zu schaffen gemacht, Kind! Da wolltest du wissen, wie es möglich ist, daß die Engel die Nachthemden über die Flügel ziehen, dann bist du hier bei deinem ersten Besuch einmal davongelaufen. Du warst eben immer eine kleine Range.«

Darauf mußte Harald Wendelin wieder Klavier spielen. Fröhliche Weisen erklangen unter seinen Fingern, und Bärbel sang manches Lied mit. Schließlich kam es am Heiligen Abend noch so weit, daß Bärbel und Harald Brüderschaft tranken.

»Harald ist ein schöner Name,« sagte sie, »es wird mir fabelhaft gut gefallen, wenn ich Sie von heute ab Harald nennen kann.«

»Und mir gefällt es noch viel besser, daß ich Bärbel zu dir sagen darf.«

Großmama Lindberg aber lächelte verstohlen. Sie hoffte, daß die Zukunft zwei Menschenkinder einander zuführen möge, die beide in ihrem Charakter so gut zusammenpaßten.


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