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Zweites Kapitel.
Reiseerlebnisse

Die Rückreise nach Dresden an dem heißen Augusttage sagte Goldköpfchen nicht zu. Ihm war so eigentümlich weh ums Herz, daß es am liebsten ein wenig geweint hätte. Aber Bärbel meinte, daß eine junge Dame, die die Absicht habe, einstmals ein eigenes künstlerisches Atelier zu eröffnen, nicht so albern sein dürfe. Da sie allein im Abteil war, begann sie zu pfeifen, im Koffer herumzusuchen, alles ein wenig in Unordnung zu bringen, was sorgfältig hineingelegt war, um dann wieder gelangweilt zum Fenster hinauszusehen, ob die Umsteigestation nicht bald erreicht sei.

Endlich war es soweit. Bärbel hatte einen viertelstündigen Aufenthalt, ehe der D-Zug einlief, und da sie Durst bekommen hatte, ging sie nach dem Wartesaal, um dort eine Limonade zu trinken. Dabei fiel ihr ein, daß sie sich eigentlich ihr Reisefläschchen, das längst geleert war, neu füllen könnte. Sie überlegte. Wasser wurde zu warm. Ob sie es wohl mit etwas Wein versuchte? Am Nebentisch saßen einige Damen, die Rotwein tranken. Das imponierte der Apothekerstochter riesig, sie bestellte sich daher auch ein Glas Rotwein, das sie in das kleine Fläschchen zu füllen versuchte. Es gelang nicht recht, Bärbel goß den größten Teil auf die Erde. Eben wollte sie sich aus einer Papierserviette einen Trichter drehen, als ihr Blick auf die große Bahnhofsuhr fiel.

Lieber Himmel, zwei Minuten vor halb. Der D-Zug fuhr um halb ab. Da mußte er doch schon eingefahren sein. Bärbel winkte den Kellner heran, der mit einem mißbilligenden Blick das betropfte Tischtuch und den nassen Fußboden besah.

»Wann geht der D-Zug nach Dresden?«

»Der fährt in einer Minute ab.«

»Barmherzigkeit,« rief Bärbel so laut, daß alle Gäste des Wartesaales auf das erschreckte junge Mädchen blickten. Bärbel griff nach dem Koffer, wollte hinausstürmen, doch jetzt hielt sie der Kellner zurück.

»Bitte, zahlen!«

»Kommen Sie mit,« schrie ihn Bärbel an. »Wenn ich im Zuge sitze, bekommen Sie alles.«

»Neunzig Pfennige,« sagte der Kellner.

Bärbel stellte den Koffer wieder nieder, riß die Handtasche auf, einige Kleinigkeiten fielen auf die Erde, dann holte Bärbel aus dem Geldtäschchen ein Markstück hervor.

»Hier, aber jetzt lassen Sie mich rasch gehen.«

»Bitte, der Spiegel und der Taschenkamm.« Der Kellner reichte dem aufgeregten jungen Mädchen die aus der Handtasche entfallenen Gegenstände. Bärbel hatte keine Zeit, sie einzustecken, behielt sie in der Hand, stürmte aus dem Wartesaal und hielt in ihrer Erregung dem Bahnbeamten statt der Fahrkarte den Taschenspiegel hin.

»Nein, nein, Fräulein,« lachte der Beamte freundlich, »den will ich nicht.«

»Barmherzigkeit, – wo – – mein Zug fährt ab, – auf Ehrenwort, ich habe eine Fahrkarte!«

Sie suchte, – da wies der Beamte auf das kleine Seitentäschchen und sagte: »Da steckt sie.«

»Mein Zug, – mein Zug,« jammerte Bärbel.

»Laufen Sie nur recht schnell, dann bekommen Sie ihn noch.«

Bärbel stürmte davon. Der Koffer schlug sie mehrfach an die Schienbeine, doch Bärbel achtete der Schmerzen nicht. Da stand der Zug. Ein Bahnbeamter hatte sie bemerkt, riß die Tür des letzten Wagens auf.

»Nun rasch!«

Die Tür wurde hinter ihr zugeschlagen, Bärbel atmete beglückt auf. Sie hatte es gerade noch geschafft! Nun nahm sie wieder den Koffer zur Hand, um sich nach der zweiten Klasse zu schlängeln. Wenn man schon einmal eine grüne Fahrkarte hatte, wollte sie aber auch Eindruck machen. Im D-Zug war Bärbel noch niemals zweiter Klasse gefahren. Was würden die Reisenden wohl denken, wer sie sei! Wie schade, daß jetzt kein Dresdener Bekannter im Zuge war.

Endlich hatte sie ein Abteil gefunden, in dem gerade noch ein Platz frei war. Ein Herr half ihr höflich, den Koffer ins Netz zu heben. Bärbel bedankte sich sehr freundlich. Ihr Gesichtchen glühte vom schnellen Laufen, sie nahm daher den Hut ab, zog den leichten Mantel aus und war eben im Begriff, einen Schluck Rotwein aus dem Fläschchen zur Erfrischung zu nehmen, als der Zugschaffner kam und um die Fahrkarte bat. Mit nachlässiger Eleganz reichte Bärbel die Karte. Sie wollte den Eindruck erwecken, daß sie eine gewandte Reisende sei und kein Reisefieber habe.

»Aber, Fräulein, Sie sind ja in den falschen Zug gestiegen; wir fahren nach Görlitz.«

»Nach Görlitz?« ächzte Bärbel.

Der Beamte nickte.

»Jawohl, – Sie wollen doch nach Dresden. Sie hätten auf dem anderen Gleise einsteigen müssen.«

»Da muß ich ja 'raus – –«, Bärbel erhob sich, streckte die Arme nach dem Koffer aus; aber der Beamte wehrte ab.

»Jetzt können Sie nicht aussteigen. Sie müssen bis Bautzen mitfahren und dort auf den D-Zug warten, der zurückfährt.«

»Was soll ich denn in Bautzen?« jammerte Bärbel.

»Warten.«

»Das ist ja schrecklich, – was wird nur die Großmama dazu sagen.«

Der Beamte zog das Kursbuch hervor und teilte dem jungen Mädchen mit, daß es in Bautzen volle zwei Stunden Aufenthalt habe. Dann käme der D-Zug durch, der nach Dresden fahre.

Geknickt setzte sich Bärbel wieder auf den Platz und schaute scheu auf die Mitreisenden. Neben ihr saß ein junger Herr, der anscheinend einen Ausflug machte, denn er trug einen schneeweißen Anzug. Dieser Herr schaute Bärbel mit einem so höhnischen Blick an, daß dem jungen Mädchen erneut das Blut heiß ins Gesicht schoß. Bärbel ärgerte sich. Wie kam dieser junge Dachs dazu, sie auszulachen! Jeder Mensch konnte sich einmal verfahren.

Sie bemerkte, daß sie von ihrem Nachbar mehrfach von der Seite angeschaut wurde, und das ergrimmte Bärbel noch mehr. Die finstersten Rachegedanken tauchten in dem goldlockigen Köpfchen auf, und als der Wagen bei einer Kurve schleuderte, stieß Bärbel absichtlich ihren Nachbar mit dem Ellenbogen in die Seite. Er warf ihr einen unfreundlichen Blick zu, doch das ermunterte Bärbel nur noch mehr. Die neuen, braunen Schuhe, mit denen er gar so auffällig kokettierte, reizten das junge Mädchen gleichfalls. Und als es sich abermals erhob, trat Bärbel ganz absichtlich auf einen der braunen Schuhe.

»So sehen Sie sich doch etwas vor!« sagte der junge Mann unfreundlich.

»Entschuldigen Sie,« sagte Bärbel, und ein vernichtender Blick traf den Reisegefährten.

»Grünes Gemüse,« murmelte der.

In Bärbel kochte der Zorn hoch. Am liebsten hätte sie den Frechen einen Lausebengel genannt, wie sie das so gern den Brüdern zurief. Aber heute fuhr sie in der zweiten Klasse und durfte daher keinen schlechten Eindruck machen.

Wenn doch nur erst Bautzen käme! Aber als der Zugschaffner abermals kam und sie ihn wieder befragte, sagte er ihr, daß man noch volle zwanzig Minuten zu fahren habe.

Da zog Bärbel das Fläschchen mit dem Rotwein hervor und setzte es an die Lippen, um sich zu stärken.

»Aus der Flasche, – sehr vornehm,« klang es murmelnd von der Seite her.

Bärbel lächelte dazu. Dieser Jüngling war neidisch auf den guten, erfrischenden Trunk. Sie setzte das Fläschchen ab, betrachtete es liebevoll, leckte mit der Zunge die Lippen, – da kam schon wieder eine Kurve, der junge Mann stieß Bärbel an, und der Inhalt des Fläschchens ergoß sich auf seine weiße, neue Hose.

»Das ist arg!« fuhr der Jüngling zornig auf.

Bärbel erschrak heftig, – das hatte sie nicht gewollt.

»Entschuldigen Sie,« stammelte sie verwirrt, »das wollte ich wirklich nicht!«

»Was ist denn das?«

»Das ist Rotwein.«

»Rotwein, – – das ist ja 'ne nette Geschichte, – Rotwein auf mein funkelnagelneues Beinkleid. – Rotweinflecke gehen nicht wieder heraus. Sie werden mir das Beinkleid ersetzen.«

Bärbel wurde abwechselnd rot und blaß.

»Ich gebe Ihnen die Adresse meiner Großmama, der können Sie das Beinkleid zusenden. Sie wird es reinigen lassen.«

»Das kann jeder sagen, – ich kann doch nicht mit diesen Flecken umherlaufen.«

Bärbel reichte dem erzürnten Manne ihr sauberes Taschentuch. »Wenn Sie sogleich tüchtig reiben – –«

»Blödsinn,« erwiderte der andere, »dieses Beinkleid ist neu, es kommt direkt vom Schneider. Sie werden mir das Beinkleid ersetzen!«

Interessiert horchten die Mitreisenden auf diese Unterhaltung. Ein älterer Herr lächelte belustigt, wenn er Bärbel anschaute. Das junge Mädchen wurde immer ratloser und verstörter.

»Ich gebe Ihnen meine Adresse – –«

Aber da wurde sie barsch unterbrochen.

»Zum Teufel, ich habe Ihnen schon gesagt, daß mir Ihre Adresse ganz wurscht ist. Das Beinkleid ist verdorben, ich kann es nicht mehr brauchen!«

Bärbel würgte an den aufsteigenden Tränen. Sie sah sich bereits in einen riesigen Schadenersatz-Prozeß verwickelt. Man würde sie vor Gericht rufen, sie verhören, sie würde eine hohe Geldstrafe zahlen müssen. Wie konnte sie diesem entsetzlichen Schicksal entgehen?

Sie blickte ratlos vor sich nieder und sagte schließlich zaghaft: »Ich werde Ihnen ein neues Beinkleid kaufen.«

Der junge Mann holte seine Brieftasche hervor und hielt Bärbel einen Zettel hin.

»Da ist die Schneiderrechnung. Dreiundzwanzig Mark.«

Bärbel betrachtete das Papier. »Die Rechnung ist noch nicht bezahlt, ich werde von Dresden aus dem Schneider das Geld senden.«

»Ich laufe doch nicht mit einer beschmutzten Hose umher,« schrie der junge Mann wütend.

Nun riß auch Bärbel die Geduld. Sie hatte den besten Willen gezeigt, wollte jeden Schaden gutmachen, und jetzt gab ihr dieser dumme Junge eine so dreiste Antwort. Zwanzig Mark hatte sie bekommen. Sie besaß außerdem noch einiges Silbergeld. Sie hatte keine Lust, sich von allen Mitreisenden spöttisch anschauen zu lassen.

Sie zählte dreiundzwanzig Mark ab und reichte sie ihrem Nachbar.

»Hier ist das Geld für das Beinkleid.«

»Na, das ist doch ein Wort,« sagte der junge Mann.

Bärbel funkelte ihn an. »Jetzt habe ich das Beinkleid gekauft, bitte, geben Sie es mir!«

Im Abteil wurde es nun lebendig.

Der alte Herr brach in Lachen aus, das die anderen Reisenden ansteckte. Aber Bärbel war viel zu erbittert, um die Situation voll zu erfassen.

»Sie wollen in der beschmutzten Hose nicht umhergehen,« rief sie, »gehen Sie nebenan, ziehen Sie sich was anderes an, die Hose habe ich gekauft.«

»Das ist – – das ist unerhört!«

»Das ist durchaus korrekt,« mengte sich jetzt der alte Herr ein. »Ich bin Rechtsanwalt und kann wohl sachgemäß über diesen Fall entscheiden. Die junge Dame hat Ihnen, mein Herr, die dreiundzwanzig Mark ausgehändigt, das Beinkleid ist somit durch Kauf in den Besitz der jungen Dame übergegangen.«

Der gesenkte Kopf Bärbels hob sich, ihre Augen strahlten. Diese dreiundzwanzig Mark taten ihr zwar bitter leid, denn was sollte sie mit der weißen Hose beginnen? Vielleicht kaufte sie ihr Bruder Joachim ab.

Der junge Mann wandte sich an den Rechtsanwalt und versuchte seinen Standpunkt zu verteidigen, doch er bekam kein Recht.

»Sie können das Beinkleid auf Kosten der jungen Dame reinigen lassen, aber wenn Sie es, wie Sie es wollen, verkaufen, müssen Sie sich umkleiden.«

Es gab ein erregtes Hin und Her. Bärbel beteiligte sich nicht mehr daran. Sie merkte, daß der alte Herr auf ihrer Seite war, der führte als Fachmann ihre Sache am besten.

»Sie wollten doch in Bautzen aussteigen, Fräulein?« Es war der Beamte, der diese Worte sprach.

Bärbel fuhr auf. Richtig, der Zug hielt bereits.

»Die Hose oder meine dreiundzwanzig Mark,« rief sie, indem sie nach ihrem Koffer griff und ihn so hastig aus dem Netz riß, daß eine der im Abteil sitzenden Damen schmerzhaft davon berührt wurde.

Der junge Mann legte Bärbel das Geld auf die Polster.

»Was werde ich mich mit Ihnen noch weiter abgeben, es lohnt mir nicht.«

»Fräulein, Sie müssen sich beeilen!«

Bärbel nahm das Geld in die Hand, warf den Mantel über den Arm, packte den Koffer und eilte mit raschem Gruß aus dem Abteil. Als sie den Bahnsteig erreicht hatte, hörte sie lautes Rufen.

»Gnädiges Fräulein – –«

War das nicht die Stimme des Rechtsanwalts? Sie wandte sich um. Er schaute aus dem Fenster des Zuges und winkte mit ihrem Hut, den sie in der Erregung liegengelassen hatte. Und gerade, als der Zug anrückte, hielt sie ihr Eigentum wieder in der Hand, hörte aber deutlich, wie der junge Herr mit der weißen Hose sagte:

»So eine Gans!«

Mit einem bösen Blick schaute Bärbel dem fortfahrenden Zuge nach. Zwei volle Stunden Aufenthalt in Bautzen. Erst wollte sie ihr Geld erneut in Sicherheit bringen, das sie glücklicherweise wieder aus den Klauen dieses gierigen jungen Mannes gerissen hatte. Es geschah, und dann betrachtete Bärbel liebevoll den neuen Hut. Es wäre jammerschade gewesen, wenn er nach Görlitz und sie nach Dresden gefahren wäre. Die Mutter hatte ihr den Hut kurz vor der Abreise in Dillstadt erst gekauft.

Was sollte sie jetzt mit den zwei Stunden Aufenthalt beginnen? In den Wartesaal wollte sie nicht gehen, Hunger hatte sie auch nicht. Die Stadt ansehen? – O nein, dann fuhr ihr am Ende wieder der Zug davon.

Sie fragte einen Beamten nach dem Zuge nach Dresden.

»Sie müssen ins Büro kommen, Fräulein.«

Wieder erschrak Bärbel.

»Sie sind doch die Dame, die verkehrt gefahren ist?«

Sie nickte. Sie mußte im Büro nachzahlen, die Fahrkarte erhielt einen Vermerk, und nachdem sich Bärbel genau erkundigt hatte, auf welchem Gleise der Zug käme, setzte sie sich auf eine der Bänke und wartete.

Die zwei Stunden wurden ihr zur Ewigkeit. Die Großmama würde sich ängstigen. Ob sie ihr telegraphierte? Aber dann fuhr vielleicht der Zug nach Dresden wieder weg. Jedesmal, wenn ein Zug in die Halle brauste, forschte das junge Mädchen erregt, ob dieser der rechte sei.

Endlich war es soweit. Bärbel stieg in ein Abteil zweiter Klasse, in dem nur ein einzelner Herr saß. Er hatte einen der Fensterplätze inne, Bärbel nahm ihm gegenüber Platz. Verstohlen betrachtete sie den Mitreisenden; sie wartete darauf, daß er ihr den Koffer ins Netz heben würde. Aber der andere blieb unbeweglich auf seinem Platze sitzen.

Das ist auch kein Kavalier, dachte Bärbel und stellte den Koffer neben sich auf den Sitz. Vielleicht besann er sich, dann wollte sie ihm eine entsprechende Antwort geben. Eigentlich war er recht hübsch – – groß und schlank. Seine Augen waren von einer blauen Brille bedeckt.

Ein junger Professor, überlegte Bärbel, da will ich sein Verhalten entschuldigen, Professoren sind immer zerstreut.

Er schien sich wenig um die Mitreisende zu kümmern. So holte Bärbel ein Buch hervor und begann zu lesen. Der Zug brachte sie unweigerlich nach Dresden, sie brauchte keine Sorgen mehr zu haben, daß sie etwa nicht ans Ziel kam.

Nach einer Weile erhob sich der Mitreisende, trat hinaus in den Gang, blieb dort wohl eine halbe Stunde lang stehen. Bärbel ärgerte sich eigentlich, daß sie gar nicht beachtet wurde. Sie wollte den Herrn zum Reden zwingen und legte, während der andere draußen stand, den schönen, neuen Hut auf den Platz gegenüber, auf dem bisher der Herr gesessen hatte. Dann holte sie den kleinen Spiegel hervor und brachte das verwirrte Haar wieder in Ordnung.

Der Mitreisende kam endlich wieder ins Abteil zurück. Bärbel gab sich den Anschein, als habe sie den Hut völlig vergessen.

Jetzt stand er vor seinem Platz – – Bärbels Herz pochte stürmisch. Würde er ihren Hut selbst fortnehmen oder sie darum bitten, es zu tun? Vielleicht war er aber auch so ungezogen wie sein Geschlechtsgenosse in der weißen Hose.

Zwei Sekunden später schrie Bärbel entsetzt auf –, der Herr hatte sich auf ihren neuen Hut gesetzt. Er schnellte zwar sofort wieder empor, griff danach und hielt die vollkommen zerdrückte Kopfbedeckung ratlos in der Hand.

»Mein neuer Hut,« sagte Bärbel entrüstet.

»Verzeihen Sie, Gnädigste, ich habe ihn nicht gesehen.«

»Man sieht doch einen Hut, – er ist ja groß genug.«

»Ich bitte nochmals um Entschuldigung, – aber – ich bin blind.«

Da blieb jedes weitere Wort dem jungen Mädchen im Halse stecken. Ein eiskalter Schauer lief ihm am Rücken herunter. Eine Blutwelle rötete das hübsche Mädchengesicht, und scheu nahm Bärbel den zerdrückten Hut aus den Händen ihres Mitreisenden entgegen.

»Ist der Hut verdorben, Gnädigste?«

»Nein – nein –,« stammelte Bärbel mühsam, »bitte, entschuldigen Sie, es ist ein Hut, auf den man sich setzen kann.«

Das war nun freilich eine Unwahrheit, das starre Strohgeflecht war ruiniert. Aber Bärbel hätte in dieser Stunde nichts anderes sagen können.

Ihr Reisegefährte, den sie in Gedanken für einen unhöflichen Mann gehalten hatte, weil er ihr den Koffer nicht ins Netz gesetzt hatte, dieser Mitreisende war blind.

Wohl noch niemals hatte Bärbel eine so tiefe Scham empfunden wie in diesem Augenblick. Sie war stets sehr schnell mit ihrem Urteil fertig, und schon oft hatte die Mutter warnend gesagt, daß sie diesen Fehler ablegen müsse. Junge Mädchen in ihrem Alter könnten sich noch kein Urteil über die Mitmenschen erlauben. Die blauen Brillengläser verdeckten zwei tote Augen; alles das, was draußen hell, sonnig und herrlich war, konnte der Ärmste nicht sehen.

Bärbel wagte nicht einmal mehr, den zerdrückten Strohhut zu betrachten. Sie hatte dabei das Gefühl, als müsse es der unglückliche Blinde merken. So lächelte das junge Mädchen krampfhaft, indem es die eingedrückte Stelle zu beseitigen versuchte.

»Es tut mir unendlich leid,« begann der Blinde erneut, »ich hätte mich vergewissern sollen – –«

»O nein,« beteuerte Bärbel, »ich bin allein schuld daran. Aber es ist wirklich nicht schlimm, es ist ein alter garstiger Hut, es hat ihm auch gar nichts geschadet.«

Sie ersehnte das Ziel ihrer Reise; sie fühlte sich unbehaglich, wenn sie ihr Gegenüber ansah, denn sie fühlte sich schuldig.

Der Mitreisende fragte, wohin sie fahre; sie gab ihm sehr sanft Bescheid.

»Ich steige ebenfalls in Dresden aus, ich will dort einen lieben Bekannten besuchen, den ich längere Zeit nicht sah.«

Die Worte schnitten dem jungen Mädchen erneut tief ins Herz. Lieber Himmel, der Ärmste war doch blind und konnte keinen Menschen mehr sehen.

Bärbel hatte das Verlangen, diesem Fremden etwas Liebes zu sagen. Sie erzählte von daheim, von den Streichen der Zwillinge, von ihrer Schulzeit, bis ihr plötzlich wieder einfiel, daß die Eltern gesagt hatten, sie möge Fremden gegenüber nicht das Herz auf der Zunge haben. Aber der Blinde tat ihr ganz gewiß nichts an, sie wollte ihn gern einmal zum Lächeln bringen, er hatte gewiß wenig Freunde auf der Welt.

»Ich habe nun meine letzten Ferien daheim verbracht – jetzt heißt es lernen,« begann Bärbel nach einer Weile. »Es war immer so schön daheim, was haben wir da für Streiche gemacht. Ich habe noch einen großen Bruder, der ist in Berlin angestellt. Er ist Ingenieur. Der brachte uns oft seinen Freund zu den Ferien mit heim, und Herr Wendelin ist jetzt in einem Vorort von Dresden in einer Maschinenfabrik. Ich kenne ihn sehr gut.«

»Wendelin,« fragte der Blinde interessiert, »Harald Wendelin?«

»Ja, so heißt er.«

»Wie merkwürdig ist das, mein gnädiges Fräulein, gerade diesen Harald Wendelin will ich besuchen. Er ist um zehn Jahre jünger als ich, wir haben uns in jüngeren Jahren gut angefreundet, und da mich der Weg in diese Gegend führt, bat mich Harald, ihn aufzusuchen.«

»Ach, wie ist das drollig« sagte Bärbel, »Herr Wendelin kommt öfters zu meiner Großmama, aber er hat noch niemals von Ihnen erzählt.«

»Das ist schon möglich.«

»Wird er am Bahnhof sein?«

»Gewiß, er versprach, mich abzuholen.«

Bärbel seufzte. »Mich holt keiner ab, ich komme nämlich zu spät, ich habe mich verfahren.«

»Das ist aber bedauerlich.«

»Das kann doch 'mal vorkommen,« sagte sie hastig; sie wollte nicht, daß er mehr fragte. »Ich habe jetzt so allerlei im Kopfe, ich werde nämlich später ein künstlerisches Atelier eröffnen, und da hat man schon heute viel zu bedenken.«

»Darf ich fragen, was für ein Atelier Sie eröffnen wollen?«

»Ich werde Photographin und komme zu Herrn Brausewetter, um diese schwere Kunst gründlich zu erlernen.«

Man war in der besten Unterhaltung, als der Zug in Dresden einfuhr.

Bärbel schaute zum Fenster hinaus und suchte nach Harald Wendelin.

Wieviele Erinnerungen stiegen mit diesem Namen vor ihr auf! Bruder Joachim hatte den verwaisten Studiengenossen einstmals zu den Ferien ins Elternhaus gebracht. Harald Wendelin hatte Joachim stets beim Arbeiten geholfen und den Unbegabteren gefördert. Beide Jünglinge hatten zusammen studiert. Harald Wendelin war dann ein häufiger Gast in Dillstadt geworden, und wenn auch Bärbel anfangs den stillen Studenten wenig schätzte, änderte sich das ganz allmählich, als Harald ihr auf dem Klavier ihre Lieblingslieder vorspielte. Schließlich fühlte sie herzliche Zuneigung zu dem ernsten jungen Manne, der, wenn es seine Zeit erlaubte, zu Frau Lindberg kam, um dort gemeinsam mit Bärbel einen fröhlichen Abend zu verbringen.

Sie hatte den jungen Ingenieur erspäht und winkte ihm mit dem zerdrückten Hut.

Harald Wendelin eilte erfreut herbei.

»Sie habe ich allerdings nicht erwartet, Fräulein Bärbel – es soll mit diesem Zuge ein lieber Bekannter von mir kommen – –«

»Ja, ich bringe ihn mit!«

»Nun sehen Sie 'mal an – haben Sie sich mit Herrn Gessert bereits angefreundet?«

Die beiden Herren begrüßten sich, Bärbel wollte dem Blinden helfen, doch der lehnte dankend ab. Sie staunte über die Sicherheit, mit der er sich bewegte.

Bärbel aber war jetzt doppelt glücklich, daß sie ihren vorlauten Mund im Zaume gehalten hatte. Es wäre ihr schrecklich gewesen, wenn Harald Wendelin durch diesen bemitleidenswerten Mann gehört hätte, daß ihm Barbara Wagner unfreundliche Worte gesagt hatte.

Sie behielt den Hut in der Hand, denn es war ganz ausgeschlossen, ihn aufzusetzen. Sie würde sich der Großmama anvertrauen, und man würde gemeinsam einen neuen Hut kaufen. Den alten aber wollte sie sich ins Zimmer an die Wand hängen als lebende Mahnung, daß man mit seinen Äußerungen recht vorsichtig sein müsse.

»Ich denke, wir nehmen ein Auto und fahren Sie zuerst heim, Fräulein Bärbel.«

Sie war damit einverstanden.

»Hoffentlich hat sich die Großmama nicht zu sehr geängstigt.«

Bärbel lehnte die Begleitung Wendelins dankend ab, der sie, als der Wagen hielt, hinaufbringen wollte.

»Lassen Sie nur,« sagte sie altklug, »es könnte für mich doch Vorwürfe geben, da ist es besser, ich bin mit der Großmama allein.«

Frau Lindberg öffnete selbst die Tür.

»Wie froh bin ich, daß du da bist, mein geliebtes Bärbel. – Warum kommst du denn erst jetzt? Ich war zum Fünfuhrzuge an der Bahn.«

»Ach, Großmama,« sagte Bärbel mit einem langen Seufzer, »was ich alles erlebt habe – man könnte einen dicken Roman darüber schreiben.«

»Hoffentlich nichts Schlimmes, mein Kleines? – Nun komm rasch herein.«

Dann saß man beim Abendessen zusammen. Sehr ausführlich erzählte Bärbel von dem Herrn mit der weißen Hose. Frau Lindberg lachte belustigt dazu, doch verwies sie der Enkelin ihr vorlautes Wesen.

»Ach, Großmama – allzu vorlaut bin ich eigentlich nicht, und das war mein Glück, sonst wäre etwas Entsetzliches geschehen.«

»Was denn, mein Kind?«

»Dann hätte ich mich furchtbar schämen müssen. – Großmama, nachher nageln wir zusammen meinen Sommerhut an die Wand. – Weißt du, das wird genau so wie im ›Wilhelm Tell‹.«

»Deinen Sommerhut? Wollten dir die Eltern nicht einen neuen Hut kaufen?«

»Ja, Großmama, der Hut ist drei Tage alt, aber er ist schon kaputt. Ich hänge ihn aber doch auf, denn jeden Tag muß ich ihn sehen.«

»Einen Hut nagelt man doch nicht an die Wand, Bärbel.«

»Der Hut hat seine Geschichte, Großmama. Und wenn wir fertig gegessen haben, erzähle ich dir auch das. – Ich mag vor dir kein Geheimnis haben, und wenn sich Bärbel auch einmal wieder sehr dumm benommen hat, du kennst mich ja, Großmama.«

Frau Lindberg legte ihre Rechte auf die Hand ihrer Enkeltochter.

»Freilich kenne ich dich genau, mein liebes Bärbel, und wenn du glaubst, daß wir den Hut gemeinsam an die Wand hängen müssen, wird es wohl richtig sein.«

»Ja, Großmama, es ist wirklich richtig.«


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