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Die Völkerschlacht bei Leipzig.

Aus: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. I.

Die Elbe war überschritten. In einer persönlichen Unterredung bewog Blücher den schwedischen Kronprinzen, seinem Zuge zu folgen; derweil Bernadotte in den süßesten Artigkeiten sich erging, rief der Alte seinem Dolmetscher zu: Sagen Sie dem Kerl, der Teufel soll ihn holen, wenn er nicht will! Schon am 8. Oktober stand die schlesische Armee in der Nähe von Düben, wenige Meilen nördlich von Leipzig, hinter ihr bei Dessau das Nordheer. Blüchers Vormarsch brachte alles in Bewegung. Während das böhmische Heer sich endlich anschickte auf Leipzig zu marschieren, nahm Napoleon seine Truppen vom rechten Elbufer zurück, mit dem Befehle, vorher alles bis auf den letzten Obstbaum zu zerstören, sicherte Dresden durch eine starke Garnison und eilte selber nordwestwärts, den beiden vereinigten Armeen entgegen. Doch Blücher wich abermals aus, zog sich westlich über die Saale, so daß ihm der Weg nach Leipzig offen blieb, und der diplomatischen Kunst Rühle von Liliensterns gelang es auch, den Kronprinzen, der schon über die Elbe zurückweichen wollte, zu dem Marsche über die Saale zu bewegen. Napoleon erkannte zu spät, daß er in die Luft gestoßen hatte. Jetzt, in der höchsten Bedrängnis, kam er nochmals auf seinen Lieblingsplan zurück und dachte an seinen fünften Zug gegen Berlin: so leidenschaftlich war sein Verlangen, den Herd der deutschen Volksbewegung zu züchtigen. Seine Vortruppen drangen bereits über die Elbe, Tauentzien trat mit seinem Korps einen übereilten Rückzug an, und am 13. Oktober befürchtete die preußische Hauptstadt noch einmal einen feindlichen Angriff. Doch inzwischen hatte der Imperator seinen Entschluß wieder geändert und wendete sich nach Leipzig zurück. Sein Stolz verschmähte die offene Rückzugslinie nach dem Rheine; er hoffte dicht vor den Mauern Leipzigs der von Süden heranrückenden böhmischen Armee die Schlacht anzubieten, bevor die beiden anderen Heere eintrafen. Das edle Wild war gestellt; das gewaltige Kesseltreiben dieses Herbstes näherte sich dem Ende.

Gneisenaus Augen leuchteten, als er am Morgen des 18. Oktobers das ungeheure Schlachtfeld überblickte, wie vom Nordwesten und Norden, vom Südosten und Süden her die Heersäulen der Verbündeten im weiten Halbkreise gegen Leipzig heranzogen. Er wußte, die Stunde der Erfüllung hatte geschlagen, und wie er empfand das Volk. Wie oft hatten sich die Deutschen erfreut an den Schilderungen der Kaufleute von dem vielsprachigen Völkergewimmel, das von Zeit zu Zeit marktend und schachernd die hochgiebligen Straßen der alten Meßstadt erfüllte; jetzt strömten wieder alle Völker des Weltreichs vom Ebro bis zur Wolga in den schlachtgewohnten Ebenen Obersachsens zusammen. Die große Zahlwoche kam heran, die Abrechnung für zwei Jahrzehnte des Unheils und der Zerstörung. Nach der Schlacht erzählte sich das Volk in der Pfalz, wie die acht Kaiser aus den Grüften des Speirer Doms sich erhoben hatten und nächtens über den Rhein gefahren waren, um bei Leipzig mitzukämpfen; nach vollbrachter Arbeit ruhten sie wieder still im Grabe. Die Verbündeten hatten für sich den dreifachen Vorteil der Überzahl an Mannschaft und Geschütz, des konzentrischen Angriffs und einer sicheren Flügelanlehnung. Napoleon stand im Halbkreise auf der Ebene östlich von Leipzig; hinter ihm lagen die Stadt und die Auen – jene wildreichen dichten Laubwälder, die sich meilenlang zwischen der Elster, der Pleiße und ihren zahlreichen sumpfigen Armen ausdehnen, ein für die Entfaltung großer Truppenmassen völlig unbrauchbares Wald- und Sumpfland, das die beiden Flügel der Verbündeten gegen jede Umgehung sicherte. Gelang der Angriff, so konnte der Imperator vielleicht versuchen, irgendwo den eisernen Ring der alliierten Heere zu durchbrechen und sich ostwärts nach Torgau durchzuschlagen – ein tollkühnes Wagnis, das bei einiger Wachsamkeit der Verbündeten sicher scheitern mußte. Sonst blieb ihm nur noch der Rückzug nach Westen offen, erst durch die enge Stadt, dann auf einer einzigen Brücke über die Elster, endlich auf dem hohen Damme der Frankfurter Landstraße quer durch die nassen Wiesen der Auen – der denkbar ungünstigste Weg für ein geschlagenes Heer.

Am 15. war Rühle von Lilienstern mit einer Botschaft des schlesischen Hauptquartiers bei dem Oberfeldherrn in Pegau angelangt. Gneisenau schlug vor, am ersten Schlachttage das Gefecht hinzuhalten, weil mindestens 80  000 Mann von der verbündeten Armee noch nicht zur Stelle waren. Sobald diese Verstärkungen eingetroffen, sollte der Angriff auf allen Stellen des Halbkreises mit entschiedener Übermacht wieder aufgenommen und indessen durch ein in Napoleons Rücken entsendetes Korps dem Feinde die einzige Rückzugsstraße gesperrt werden; dann war nicht nur ein Sieg, sondern eine Vernichtungsschlacht, eine in aller Geschichte unerhörte Waffenstreckung möglich. Zu so hohen Flügen vermochte sich freilich Schwarzenberg nicht aufzuschwingen. Eine Zeitlang hoffte er sogar die Schlacht gänzlich zu vermeiden, schon durch das Erscheinen der drei vereinigten Armeen den Imperator zum Rückzuge zu nötigen. Auch als er sich endlich überzeugen mußte, daß ein Napoleon so leichten Kaufes nicht zu verdrängen sei, entwarf er einen überaus unglücklichen Schlachtplan. Da die böhmische Armee vom Süden, die beiden anderen Heere vom Norden herankamen, so mußte der Oberfeldherr – das war die Meinung des schlesischen Hauptquartiers – die Entscheidung auf seiner rechten Flanke suchen, dort auf der Rechten sich mit der Nordarmee zu verbinden streben, um die Umklammerung des Feindes zu vollenden. Statt dessen ballte er eine Masse von 35 000 Mann, lauter Österreicher, auf seinem äußersten linken Flügel zusammen und ließ sie durch das unwegsame Buschland der Auen gegen Connewitz vorgehen, in der sonderbaren Hoffnung, dort auf ganz unzugänglichen Boden Napoleons rechten Flügel von der Stadt abzudrängen. Sein General Langenau hatte diesen unseligen Anschlag eingegeben; der ehrgeizige Sachse, der erst im Frühjahr zugleich mit dem Minister Senfft in österreichische Dienste übergetreten war, brannte vor Begier, sich in der Gnade seines Kaisers festzusetzen, und wollte darum den Hauptschlag durch die Österreicher allein ausführen, den Preußen, die er mit dem ganzen Ingrimm des Partikularisten haßte, eine untergeordnete Rolle zuweisen. Der kleinliche Gedanke sollte sich grausam bestrafen.

Napoleon sammelte die Hauptmasse seiner Streitkräfte bei Wachau, drei Stunden südöstlich der Stadt. Da er von dem Zauderer Bernadotte nichts befürchtete und die schlesische Armee noch weitab im Nordwesten bei Merseburg wähnte, so gab er dem Marschall Marmont, der im Norden bei Möckern stand, den Befehl, sich mit der Hauptarmee zu vereinigen, um die Niederlage des böhmischen Heeres vollständig zu machen. In der Tat entsprach Karl Johann den Erwartungen des Imperators. Die Nordarmee erschien am 16. gar nicht auf dem Schlachtfelde, dergestalt daß die Alliierten nur eine geringfügige Überzahl, 192 000 gegen 177 000 Mann, in das Gefecht führen konnten; eine weite Lücke blieb zwischen den beiden Hälften der verbündeten Heere offen, die Kämpfe des ersten Tages zerfielen in Wahrheit in zwei selbständige Schlachten, bei Möckern und bei Wachau.

Blücher dagegen kam nicht auf dem Umwege über Merseburg, sondern geradeswegs von Halle auf der Landstraße am Ostrande der Auen heran und zwang Marmont durch sein unerwartetes Erscheinen, bei Möckern stehen zu bleiben. Wie lieblich war den tapferen Schlesischen das Leben eingegangen die letzten Tage über, als sie jubelnd in Halle einzogen, von den Bürgern der endlich befreiten treuen Stadt auf den Händen getragen, und dann bei Becherklang und vaterländischen Gesängen, nach altem Burschenbrauche die Nacht verbrachten. Dem Rausche der jugendlichen Lust folgte die ernste Arbeit, die blutigste des ganzen Krieges, denn wieder fiel dem Yorkschen Korps die schwerste Aufgabe zu. Als York am Morgen des 16. in Schkeuditz unter seinen Fenstern die Husaren zum Aufsitzen blasen hörte, da hob er sein Glas und sprach den Kernspruch seines lieben Paul Gerhardt: den Anfang, Mitt' und Ende, Herr Gott, zum besten wende! Wohl mochte er sich einer höheren Hand empfehlen, denn unangreifbar wie bei Wartenburg schien wieder die Stellung des Feindes. Marmont lehnte sich mit seiner linken Flanke bei Möckern an den steilen Talrand der Elster, hatte die Mauern des Dorfes zur Verteidigung eingerichtet, weiter rechts auf den flachen Höhen eine Batterie von 80 Geschützen aufgefahren. Gegen diese kleine Festung stürmten die Preußen heran auf der sanft ansteigenden baumlosen Ebene; sechsmal drangen sie in das Dorf und verloren es wieder; das Gefühl der einzigen Größe des Tages beschwingte beiden Teilen die Kraft. Endlich führt York selber seine Reiterei zum Angriff gegen die Höhen unter dem Rufe: »marsch, marsch, es lebe der König«, nach einem wütenden Häuserkampfe schlägt das Fußvolk den Feind aus dem Dorfe heraus; am Abend muß Marmont gegen die Stadt zurückweichen, 53 Kanonen in den Händen der Preußen lassen, und an den Wachtfeuern der Sieger ertönt das Lied: Nun danket alle Gott, wie in der Winternacht von Leuthen. Aber welch ein Anblick am nächsten Morgen, als die Truppen zum Sonntagsgottesdienst zusammentraten. Achtundzwanzig Kommandeure und Stabsoffiziere lagen tot oder verwundet; von seinen 12 000 Mann Infanterie hatte York kaum 9 000 mehr, seine Landwehr war im August mit 13 000 Mann ins Feld gezogen und zählte jetzt noch 2 000. So waren an dieser einen Stelle die Verbündeten bis auf eine kleine Stunde an die Tore von Leipzig herangelangt.

Das Ausbleiben der Nordarmee hatte die üble Folge, daß Blücher seine Armee nicht schwächen durfte und nicht, wie seine Absicht war, ein Korps westlich durch die Auen auf die Rückzugslinie Napoleons entsenden konnte. Dort im Westen stand also Gyulay mit seinen 22 000 Österreichern den 15 000 Mann des Bertrandschen Korps allein gegenüber und er verstand nicht seine Übermacht zu verwerten; die große Frankfurter Straße blieb dem Imperator gesichert. Auch auf dem Hauptschauplatze des Kampfes, bei Wachau fochten die Verbündeten nicht glücklich. Hier hatte zwei Tage vorher ein großartiges Vorspiel der Völkerschlacht sich abgespielt, ein gewaltiges Reitergefecht, wobei König Murat nur mit Not dem Säbel des Leutnants Guido v. d. Lippe von den Neumärkischen Dragonern entgangen war. Heute hielt Napoleon selber mit der Garde und dem Kerne seines Heeres die dritthalb Stunden lange Linie von Dölitz bis Seifertshain besetzt, durch Zahl und Stellung den Verbündeten überlegen, 121 000 gegen 113 000 Mann. Auf dem linken Flügel der Alliierten, zwischen den beiden Flüssen, vergeudeten die unglücklichen Opfer der Feldherrnkunst Langenaus ihre Kraft in einem tapferen, aber aussichtslosen Kampfe; eingeklemmt in dem buschigen Gelände vermochten sie ihre Macht nicht zu gebrauchen, General Merveldt selbst geriet mit einem Teile seines Korps in Gefangenschaft; mit Mühe wurden die Reserven dieser Österreicher aus den Auen über die Pleiße rechtsab auf die offene Ebene hinaufgezogen. Es war die höchste Zeit, denn hier im Zentrum konnten Kleists Preußen und die Russen des Prinzen Eugen sich auf die Dauer nicht behaupten in dem verzweifelten Ringen gegen die erdrückende Übermacht, die unter dem Schütze von 300 Geschützen ihre Schläge führte. Die volle Hälfte dieser Helden von Kulm lag auf dem Schlachtfelde. Schon glaubt Napoleon die Schlacht gewonnen, befiehlt in der Stadt Viktoria zu läuten, sendet Siegesboten an seinen Vasallen König Friedrich August, der in Leipzig angstvoll der Entscheidung harrt. »Noch dreht sich die Welt um uns« – ruft er frohlockend seinem Daru zu. Ein letzter zerschmetternder Angriff der gesamten Reiterei soll das Zentrum durchbrechen. Noch einmal dröhnt die Erde von dem Feuer der 300 Geschütze, dann rasen 9 000 Reiter in geschlossener Masse über das Blachfeld dahin, ein undurchdringliches Dickicht von Rossen, Helmen, Lanzen und Schwertern. Da kommen die österreichischen Reserven aus der Aue heran, und während die Reitermassen, atemlos von dem tollen Ritt, allmählich zurückgedrängt werden, setzen sich die Verbündeten nochmals in den verlorenen Dörfern fest und am Abend behaupten sie fast wieder dieselbe Stellung wie am Morgen. Schwarzenbergs Angriff war gescheitert, doch der Sieger hatte nicht einmal den Besitz des Schlachtfeldes gewonnen.

Trat Napoleon jetzt den Rückzug an, so konnte er sein Heer in guter Ordnung zum Rheine führen; denn die schlesische Armee, die einzige Siegerin des ersten Schlachttags, stand von der Frankfurter Straße noch weit entfernt und war überdies tief erschöpft von dem verlustreichen Kampfe. Aber der Liebling des Glücks vermochte das Unglück nicht zu ertragen. Nichts mehr von der gewohnten Kälte und Sicherheit der politischen Berechnung; sein Hochmut wollte sich den ganzen Ernst der Lage nicht eingestehen, wollte nicht lassen von unmöglichen Hoffnungen. Der Imperator tat das Verderblichste, was er wählen konnte, versuchte durch den gefangenen Merveldt Unterhandlungen mit seinem Schwiegervater anzuknüpfen und gewährte also den Verbündeten die Frist, ihre gesamten Streitmassen heranzuziehen. Am 17. Oktober ruhten die Waffen, nur Blücher konnte sich die Lust des Kampfes nicht versagen, drängte die Franzosen bis dicht an die Nordseite der Stadt zurück.

Am 18. früh hatte Napoleon seine Armee näher an Leipzig herangenommen, ihr Halbkreis war nur noch etwa eine Stunde von den Toren der Stadt entfernt. Gegen diese 160 000 Mann rückten 225 000 Verbündete heran. Mehr als einen geordneten Rückzug konnte der Imperator nicht mehr erkämpfen; er aber hoffte noch auf Sieg, wies den Gedanken an eine Niederlage gewaltsam von sich, versäumte alles, was den schwierigen Rückmarsch über die Elster erleichtern konnte.

Die Natur der Dinge führte endlich den Ausgang herbei, welchen Gneisenaus Scharfblick von vornherein als den einzig möglichen angesehen hatte: die Entscheidung fiel auf dem rechten Flügel der Verbündeten. Napoleon übersah von der Höhe des Thonbergs, wie die Österreicher auf dem linken Flügel der Alliierten abermals mit geringem Glück den Kampf um die Dörfer an der Pleiße eröffneten, wie dann das Zentrum der Verbündeten über das Schlachtfeld von Wachau herankam. Es waren die kampferprobten Scharen Kleists und des Prinzen Eugen; über die unbestatteten Leichen der zwei Tage zuvor gefallenen Kameraden ging der Heerzug hinweg, man hörte die Knochen der Toten unter den Hufen der Rosse und den Rädern der Kanonen knarren. Vor der Front der Angreifer lagen langhingestreckt die hohen Lehmmauern von Probstheida, auf beiden Seiten durch Geschütze gedeckt – der Schlüssel des französischen Zentrums. Unter dem Kreuzfeuer der Batterien begann der Angriff, ein sechsmal wiederholtes Stürmen über das offene Feld, doch zuletzt behauptete sich Napoleons Garde in dem Dorfe, und auch Stötteritz nebenan blieb nach wiederholtem Sturm und mörderischem Häuserkampfe in den Händen der Franzosen; man sah nachher in den Gärten und Häusern die Leichen von Russen und Franzosen, die einander gegenseitig das Bajonett durch den Leib gerannt, angespießt auf dem Boden liegen. Unmittelbar unter den Augen des Imperators ward auch heute den Verbündeten kein entscheidender Erfolg, obgleich sie dicht an den Schlüsselpunkt seiner Stellung herangelangten. Indessen rückte auf ihrem rechten Flügel das Nordheer in die Schlachtlinie ein, füllte die Lücke, welche die böhmische Armee von der schlesischen trennte, schloß den großen Schlachtenring, der die Franzosen umfaßte. Es hatte der Mühe genug gekostet, bis Karl Johann, der am 17. endlich bei Breitenfeld auf der alten Stätte schwedischen Waffenruhmes angelangt war, zur tätigen Teilnahme beredet wurde; um den Bedachtsamen nur in den Kampf hineinzureißen, hatte Blücher seiner eigenen Tatkraft das schwerste Opfer zugemutet, 30 000 Mann seines Heeres an die Nordarmee abgetreten und damit selber auf den Ruhm eines neuen Sieges verzichtet. Einmal entschlossen zeigte Bernadotte die Umsicht des bewährten Feldherrn. Während Langerons Russen auf der äußersten Rechten der Angriffslinie durch wiederholten Sturm den Feind aus Schönefeld zu verdrängen suchten, traf die Hauptmasse der Nordarmee am Nachmittag auf der Ostseite von Leipzig ein. Bülow führte das Vordertreffen und schlug das Korps Reyniers aus Paunsdorf hinaus.

So stießen die alten Feinde von Großbeeren abermals aufeinander, doch wie war seitdem die Stimmung in den sächsischen Regimentern umgeschlagen! Wunderbar lange hatte die ungeheure Macht des deutschen Fahneneides die Truppen des Rheinbundes bei ihrer Soldatenpflicht festgehalten; außer einigen vereinzelten Bataillonen waren bisher nur zwei westfälische Reiterregimenter zu den Verbündeten übergegangen. Mit dem Glücke schwand auch das Selbstgefühl der napoleonischen Landsknechte; sie begannen sich des Krieges gegen Deutschland zu schämen, sie empfanden nach, was ihr Landsmann Rückert ihnen zurief:

Ein Adler kann vielleicht noch Ruhm erfechten,
Doch sicher ihr, sein Raubgefolg, ihr Raben
Erfechtet Schmach bei kommenden Geschlechten!

Die Sachsen fühlten sich zudem in ihrer militärischen Ehre gekränkt durch die Lügen der napoleonischen Bulletins; sie sahen mit Unmut, wie ihre Heimat ausgeplündert, ihr König von Ort zu Ort hinter dem Protektor hergeschleppt wurde; und sollten sie mit nach Frankreich entweichen, wenn Napoleon die Schlacht verlor und Sachsen ganz in die Gewalt der Verbündeten fiel? Selbst die Franzosen empfanden Mitleid mit der unnatürlichen Lage dieser Bundesgenossen; Reynier hatte bereits den Abmarsch der Sachsen nach Torgau angeordnet, als das Anrücken der Nordarmee die Ausführung des wohlgemeinten Befehls verhinderte. Nur König Friedrich August zeigte kein Verständnis für die Bedrängnis seiner Armee noch für seine eigene Schande. Unwandelbar blieb sein Vertrauen auf den Glücksstern des Großen Alliierten; noch während der Schlacht verwies er seine Generale trocken auf ihre Soldatenpflicht, als sie ihn baten, die Trennung des Kontingents von dem französischen Heere zu gestatten. Die deutsche Gutmütigkeit wollte dem angestammten Herrn so viel Verblendung nicht zutrauen. Die Offiziere glaubten fest, ihr König sei unfrei; keineswegs in der Meinung, ihren Fahneneid zu brechen, sondern in der Absicht, das kleine Heer dem Landesherrn zu erhalten, beschlossen sie das Ärgste, was der Soldat verschulden kann, den Übergang in offener Feldschlacht. In der Gegend von Paunsdorf und Sellerhausen schlossen sich etwa 3000 Mann der sächsischen Truppen an die Nordarmee an; mit ihnen eine Reiterschar aus Schwaben. Die Preußen und Russen nahmen die Flüchtigen mit Freuden auf; nur den württembergischen General Normann, der einst bei Kitzen die Lützower verräterisch überfallen hatte, wies Gneisenau mit verächtlichen Worten zurück. Friedrich Wilhelms Ehrlichkeit aber hielt den Vorwurf nicht zurück: wie viel edles Blut die Sachsen dem Vaterlande ersparen konnten, wenn sie ihren Entschluß früher, vor der Entscheidung, faßten! Der traurige Zwischenfall blieb ohne jeden Einfluß auf den Ausgang der Völkerschlacht; doch warf er ein grelles Schlaglicht auf die tiefe sittliche Fäulnis des kleinstaatlichen Lebens. Das Gewissen des Volkes begann endlich irr zu werden an der Felonie des napoleonischen Kleinkönigtums; trotz aller Lügenkünste partikularistischer Volksverbildung erwachte wieder die Einsicht, daß auch nach dem Untergange des alten Reichs die Deutschen noch ein Vaterland besaßen und ihm verbunden waren durch heilige Pflichten.

Gegen 5 Uhr vereinigte Bülow sein ganzes Korps zu einem gemeinsamen Angriff, erstürmte Sellerhausen und Stünz, drang am Abend bis in die Kohlgärten vor, dicht an die östlichen Tore der Stadt. Da währenddem auch Langeron auf der Rechten das hart umkämpfte Schönefeld endlich genommen hatte und ebenfalls gegen die Kohlgärten herandrängte, so war Ney mit dem linken Flügel der Franzosen auf seiner ganzen Linie geschlagen. Durch diese Niederlage ward Napoleons Stellung im Zentrum unhaltbar. Noch am Abend befahl er den Rückzug des gesamten Heeres. Nun wälzten sich die dichten Massen der geschlagenen Armee durch drei Tore zugleich in die Stadt hinein, um dann allesamt in entsetzlicher Verwirrung auf der Frankfurter Straße sich zu vereinigen. Daß dieser eine Weg noch offen blieb, war das Verdienst des unglücklichen Gyulay, der auch am dritten Schlachttage auf der Westseite nichts ausgerichtet hatte; bis zur Saale hin hielt Bertrand den Franzosen die Rückzugsstraße frei. Die Hunderttausende, die beim Feuerscheine von zwölf brennenden Dörfern auf dem teuer erkauften Schlachtfelde lagerten, empfanden tief erschüttert den heiligen Ernst des Tages; unwillkürlich stimmten die Russen eines ihrer frommen Lieder an, und bald klangen überall, in allen Zungen der Völker Europas, die Dankgesänge zum Himmel auf. Die Sieger beugten sich unter Gottes gewaltige Hand; recht aus dem herzen der fromm bewegten Zeit heraus sang der deutsche Dichter:

O Tag des Sieges, Tag des Herrn,
Wie feurig schien dein Morgenstern!

Nur der Feldherr, der von Amts wegen als der Besieger Napoleons gefeiert wurde, vermochte die Größe des Erfolges nicht zu fassen. Schwarzenberg weigerte sich die noch ganz unberührten russischen und preußischen Garden zur Verfolgung auszusenden – nicht aus Arglist, wie manche der grollenden Preußen annahmen, sondern weil sein Kleinmut die Geschlagenen nicht zur Verzweiflung treiben wollte. Blücher hatte den Tag über, wegen des verspäteten Eintreffens der Nordarmee, sein kleines Heer zusammenhalten müssen, um einen Ausfall in der Richtung auf Torgau, den man noch immer befürchtete, zurückweisen zu können; darum ward York erst am Abend auf dem weiten Umwege über Merseburg dem fliehenden Feinde nachgesendet. Also konnte Napoleon noch 90 000 Mann, fast durchweg Franzosen, aus der Schlacht retten. Die Deckung des Rückzugs, die Verteidigung der Stadt überließ er seinen Vasallen, den Rheinbündnern, Polen und Italienern; mochten sie noch einmal für ihn bluten, dem Kaiserreich waren sie doch verloren.

So mußte denn am 19. der Kampf um den Besitz der Stadt selber von neuem begonnen werden. Während Blücher im Norden seine Russen gegen das Gerbertor führt und dort zuerst von den Kosaken mit dem Ehrennamen Marschall Vorwärts begrüßt wird, bricht Bülows Korps aus den Kohlgärten gegen die Ostseite der Stadt auf. Borstells Brigade dringt in den Park der Milchinsel, Friccius mit der ostpreußischen Landwehr erstürmt das Grimmaische Tor. Noch stehen die Regimenter des Rheinbundes dicht gedrängt auf dem alten Markte, da tönen schon die Flügelhörner der pommerschen Füsiliere die Grimmaische Gasse herunter, dazwischen hinein der donnernde Ruf: Hoch Friedrich Wilhelm! Bald blitzen die Bajonette, lärmen die Trommeln und gellen die Querpfeifen auch in den andern engen Gassen, die nahe bei dem alten Rathause münden. Alles strömt zum Marktplatze; die Sieger von der Katzbach, von Kulm und Dennewitz feiern hier in Gegenwart der gefangenen Feinde jubelnd ihr Wiedersehen. Neue stürmische Freudenrufe, als der Zar und der König selber einreiten; selbst die Rheinbündner stimmen mit ein; alle fühlen, wie aus Schmach und Greueln der junge Tag des neuen Deutschlands leuchtend emporsteigt. Während den König von Preußen sein tapferes Heer frohlockend umdrängt, steht nahebei – ein klägliches Bild der alten Zeit, die nun zu Grabe geht – Friedrich August von Sachsen entblößten Hauptes, mitten im Gewühle an der Tür des Königshauses. Der hat während der Stunden des Sturmes ängstlich im Keller gesessen, betrogen von den prahlerischen Verheißungen des Protektors noch bis zum letzten Augenblicke auf die siegreiche Rückkehr des Unüberwindlichen gehofft. Nun würdigen ihn die Sieger keines Blickes, sein eigenes Volk beachtet ihn nicht, vor seinen Augen wird seine rote Garde von Friedrich Wilhelms Adjutanten Natzmer zur Verfolgung der Franzosen hinweggeführt. Mit naiver Freude wie ein Held des Altertums schreibt Gneisenau die Siegesbotschaft den entfernten Freunden in allen Ecken des Vaterlandes: »Wir haben die Nationalrache in langen Zügen genossen. Wir sind arm geworden, aber reich an kriegerischem Ruhme und stolz auf die wiedererrungene Unabhängigkeit.«

Dreißigtausend Gefangene fielen den Siegern in die Hände. Die Umzingelung der Stadt von den Auen her war bereits nahezu vollendet, als die Elsterbrücke an der Frankfurter Straße in die Luft gesprengt und damit den wenigen, die sich vielleicht noch retten konnten, der letzte Ausweg versperrt wurde. Ein ganzes Heer, an hunderttausend Mann, lag tot oder verwundet. Was vermochte die Kunst der Ärzte, was die menschenfreundliche Aufopferung des edlen Ostfriesen Reil gegen solches Übermaß des Jammers? Das Medizinalwesen der Heere war überall noch nicht weit über die Weisheit der fridericianischen Feldscherer hinausgekommen, und über der wackeren, gutherzigen Leipziger Bürgerschaft lag noch der Schlummergeist des alten kursächsischen Lebens, sie verstand nicht rechtzeitig Hand anzulegen. Tagelang blieben die Leichen der preußischen Krieger im Hofe der Bürgerschule am Wall unbeerdigt, von Raben und Hunden benagt; in den Konzertsälen des Gewandhauses lagen Tote, Wunde, Kranke auf faulem Stroh beisammen, ein verpestender Brodem erfüllte den scheußlichen Pferch, ein Strom von zähem Kot sickerte langsam die Treppe hinab. Wenn die Leichenwagen durch die Straßen fuhren, dann geschah es wohl, daß ein Toter der Kürze halber aus dem dritten Stockwerk hinabgeworfen wurde, oder die begleitenden Soldaten bemerkten unter den starren Körpern auf dem Wagen einen, der sich noch regte, und machten mit einem Kolbenschlage mitleidig dem Greuel ein Ende. Draußen auf dem Schlachtfelde hielten die Aasgeier ihren Schmaus; es währte lange, bis die entflohenen Bauern in die verwüsteten Dörfer heimkehrten und die Leichen in großen Massengräbern verscharrten. Unter solchem Elend nahm dies Zeitalter der Kriege vom deutschen Boden Abschied, die fürchterliche Zeit, von der Arndt sagte: »dahin wollte es fast mit uns kommen, daß es endlich nur zwei Menschenarten gab, Menschenfresser und Gefressene!« Dem Geschlechte, das solches gesehen, blieb für immer ein unauslöschlicher Abscheu vor dem Kriege, ein tiefes, für minder heimgesuchte Zeiten fast unverständliches Friedensbedürfnis.


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