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Milton.

(Königstein 1860)

Die Lust zu scheinen und zu blenden ist eine ewig gleiche Eigenheit unseres Geschlechts, zugleich ein Zeichen unserer vornehmen Natur und ein Quell häßlicher Verirrungen. Seltsam nur, in wie verschiedener Weise, je nach der Gesittung der Zeiten, diese Neigung sich Luft macht. In alten Tagen, da ohne kriegerische Tüchtigkeit niemand sich durch das Leben schlug, war das Prahlen mit erfundenen Heldentaten die üblichste Art der Lüge. Heute, da die gute Gesellschaft einen gewissen Grad von Kenntnissen und Belesenheit von jedermann als selbstverständlich erwartet, ist es ein Gewohnheitslaster der höheren Stände geworden, sich mit dem Scheine der Bildung zu schmücken; und der ehrliche Blick erschrickt vor dem Wuste von Unwahrheiten, welcher durch solche Unart in die Welt gekommen. Bemerkungen über die höchsten Probleme des Denkens hören wir aus dem Munde der Kinder und Narren, und ein gewiegtes Urteil über Platon oder Leibniz scheint eine Spielerei für jeden, der sich im Vollgenusse des ersten Frackes tummelt: also, daß ein gutmütiger Gesell über all dem gebildeten Gerede zu dem Glauben gelangen mag, die Stunde der Weltliteratur, von welcher Goethe träumte, habe bereits geschlagen. Auch über den Dichter und Denker, welchem diese Zeilen gelten, ist das allgemeine Urteil längst fertig: sein Name gleicht einer Münze, deren Gepräge uns der Mühe überhebt, ihren Goldgehalt zu prüfen. Und doch werden nur wenige der gebildeten, ja sogar der gelehrten Deutschen unverwirrt standhalten vor der einfachen Frage: was kennst du von Milton? Gewiß, ein solches Rechnen mit festen überlieferten Begriffen läßt sich nicht gänzlich vermeiden in einer Zeit, für deren eigenes Schaffen die Ergebnisse einer uralten Kultur bloß die Voraussetzung bilden. Nur ein Pedant wird dem Laien zumuten, daß er aus ihren eigenen Schriften jene bahnbrechenden Geister kennen lerne, deren Gedanken uns längst in Fleisch und Blut gedrungen: wer Goethe, Schiller und ihre Nachfolger kennt, der hat das Unsterbliche der Werke Herders und Wielands genossen. Milton aber ist nicht der Vorläufer größerer Geister gewesen; er steht in der Geschichte der Kunst so einsam wie die Revolution, welcher er als ein gläubiger Kämpfer diente, in der Geschichte der Staaten; und noch immer lohnt es der Mühe, das Bild des Mannes uns vor die Seele zu führen, denn jene einzige Verbindung von künstlerischem Genie und Bürgertugend, die wir in ihm bewundern, hat noch keineswegs das rechte Verständnis in Deutschland gefunden. John Milton ward am 9. Dezember 1608 zu London geboren, und der frühreife Knabe wuchs auf in einem strengen gottseligen Hause. Sein Vater, damals Notar, war in jungen Jahren von seinen katholischen Eltern verstoßen worden, als er zur protestantischen Lehre übergetreten, und erfüllte bald des Sohnes Herz mit Begeisterung für den neuen Glauben. Nur die feierlichen Klänge der Musik, welche der Vater mit vieler Begabung übte, unterbrachen dann und wann die gesammelte Stille dieses puritanischen Hauses, dem eine liebevolle und wohltätige Hausfrau mit gemessenem Ernste vorstand. Schon in London ward dem jungen John die Kenntnis des klassischen Altertums durch einige gediegene Gelehrte erschlossen; und denselben eisernen Fleiß wie bisher bewährte er auch, als er, sechzehn Jahre alt, in das Christchurch-College zu Cambridge eintrat. Die Freuden des Burschenlebens lockten ihn nicht. Wie oft, wenn der Schimmer seiner nächtlichen Lampe vor dem Lichte des jungen Tages verblich, wenn der frohe Schlag der Lerche sein stilles Denken störte, hat er damals jenen Zauber des Frühmorgens erlebt, welchen er später mit Vorliebe besungen hat. Doch er war mehr als ein guter Schüler. Der zartgebaute junge Mensch mit den sanften, mädchenhaften Zügen, den seine Kameraden neckend die lady of Christchurch nannten, offenbarte früh einen freien selbständigen Geist. Ihn empörte die Methode des englischen gelehrten Unterrichts, die selbst in dem freieren Cambridge nicht über mechanische Abrichtung hinausging; und als sein Vater ihm vorschlug, Theolog zu werden, erklärte er, daß er sich nie zu dem Sklavendienste herabwürdigen werde, die Artikel der bischöflichen Kirche zu unterschreiben.

So hat an Milton sich ein Wort erfüllt, das er als Greis gesprochen: »die Jugend zeigt den Mann, gleichwie der Morgen den Tag verkündet.« In diesem ganzen reichen Leben erscheinen kaum leise Spuren innern Kampfes. Ernst und keusch und tätig verbringt er seine Tage in puritanischer Strenge und doch voll Bewunderung für die alte klassische Herrlichkeit. Eine feste Selbstgewißheit, ein glückliches Gleichmaß der Stimmung hebt ihn über Zweifel und Versuchung hinweg, »als ob das Auge seines großen Lehrmeisters immer auf ihm ruhte«. Sicher und notwendig wie das allmähliche Anschießen der Zweige und Knospen eines Baumes läßt dieser stetige Entwicklungsgang doch die Grenzen von Miltons Begabung klar erkennen. Wir sind zwar weit entfernt von jenem romantischen Wahne, der in dem Schlammbade jugendlicher Ausschweifungen die notwendige Schule großer Künstler sieht oder gar die leidenschaftlichen Schwächen der Dichter als das untrügliche Kennzeichen ihrer genialen Natur betrachtet. Aber wenn anders die Proteus-Natur, die Gabe mit tausend Zungen zu reden, eine wesentliche Dichtertugend bleibt, so muß ein junger Künstler das Liebliche, das Lockende der Sünde, die Gebrechlichkeit der Welt und die Verzweiflung aller Kreatur sehr tief und stark empfunden haben. Denn wie mag er das Leben in der ganzen Fülle seiner Pracht und seiner Widersprüche darstellen, wenn er nicht schrecklich im Innersten die gemeinen Kämpfe der Menschheit durchgefochten hat? In der Tat, wie Miltons Jugend in ihrem geradlinigen Fortgange sich von Grund aus unterscheidet von den stürmischen Anfängen fast aller großen Dichter und mehr an die ersten Tage einseitiger tatkräftiger Naturen erinnert, so ist auch der gereifte Dichter Milton nur groß in seiner Einseitigkeit. Und dieser Subjektivste der Poeten, der nie imstande war, ein Bild des ganzen Lebens zu schaffen, der nie etwas anderes schilderte, als seine eigene große Seele, – er tritt dennoch ebenbürtig ein in den Kreis der vornehmsten Dichter. Es ist nicht möglich, der lauteren Hoheit seines Charakters ein größeres Lob zu spenden.

Von der hohen Schule kehrte Milton nach Hause zurück. Auf dem freundlichen Landsitze seiner Eltern in der Grafschaft Berk verbrachte er bis zu seinem dreißigsten Jahre eine lange Zeit in stillen Studien und genoß in vollem Maße jenes unschätzbare Glück, das in dem atemlosen Treiben unserer Tage so unendlich selten geworden, das Glück, sich auszuleben und erst in voller gesättigter Reife hinauszutreten auf den Markt des Lebens. Mit herzlichen Worten dankt er seinem Vater für solchen Segen: »Du zwangst mich nicht, den breitgetretnen Pfad zu wandeln, der zum Wohlstand führt; du nahmst mich weit hinweg vom Lärm der Stadt zur tiefen Einsamkeit und ließest mich beseligt weilen an Apollos Seite.« Es waren nicht bloß Jahre gelehrter Muße. Er tummelte sich gern in Wald und Feld, denn von seinen lieben Alten hatte er gelernt, die leibliche Verkümmerung der Gelehrten zu verachten; er schlug eine gute Klinge und verwarf nur die adligen Künste des Reitens und Jagens. Seine kleinen Gedichte aus jenen glücklichen Tagen lassen uns ahnen, daß auch er seinen aufrechten Gleichmut nicht gänzlich ohne Selbstüberwindung errungen hat. Über die gemeinen Zweifel der Jünglingsjahre freilich schreitet er rasch hinweg. Wohl überkommt ihn einmal (in einem Sonette, geschrieben am dreiundzwanzigsten Geburtstage) die Neigung dieses Alters, die Frucht vom blühenden Baume zu verlangen, aber bald schwindet die Reue über die Langsamkeit seiner Bildung, und er ermannt sich in dem klaren Bewußtsein, daß seine Stunde noch nicht gekommen sei. Weit bitterer empfand er, daß seine reiche Dichterkraft zur ungünstigsten Zeit, zu spät, geboren sei. »Jener glänzende Abendstern glückseligen Angedenkens, Königin Elisabeth,« liest der Brite noch heute dankbar in seinem Prayerbook . Welch eine Zeit, da dies Gestirn noch glänzte über einem reichen, befriedeten Lande, und dicht hinter Spenser, dem lieblichen Sänger romantischer Ritterherrlichkeit, der junge Shakespeare erstand! Noch schien die Welt nicht fähig, so viel Schönheit zu ertragen; der einzigen Größe folgte ein jäher Fall. Entsetzlich schnell verwilderte die Bühne nach Shakespeares Tode, sie ward eine Zofe der Stuarts und unterhielt den Hof mit unzüchtigen Spaßen. Es war ein Treiben, von Grund aus frivol wie nur das Königtum jener Stuarts selber, die ihren bibelfesten Untertanen befahlen, am Sabbat wider ihr Gewissen den Lärm weltlicher Lustbarkeit zu schauen. Inzwischen hatte der Werkeltag des siebzehnten Jahrhunderts begonnen. Ungeheure Kämpfe zerrütteten Staat und Kirche. Die Wissenschaft stand im Vordergrunde des geistigen Lebens der Völker. »Die Zeit will keine Verse,« klagt Hugo Grotius in einem seiner lateinischen Gedichte, »sie fragt: warum freie Worte in unnötige Fesseln schlagen?« Unselige Tage für einen ernsten Dichtergeist, da die Poesie zuchtlos war und die Tugend prosaisch!

Sehr früh und mit Hellem Bewußtsein nahm Milton eine feste Stellung in dieser schweren Zeit. Sein Bürgerstolz verschmähte die Lakaienrolle eines Bühnendichters, seine herbe Sittenstrenge verwarf den Schmutz des entarteten Theaters. Voll Bewunderung allerdings schaute er auf zu dem Genius Shakespeares, vor dessen Größe der Betrachter »zu Stein erstarre«; doch ein Muster für sich wollte er in den »kunstlosen Waldliedern« dieser grandiosen Naturkraft nimmermehr erkennen. Daß diese ursprüngliche Dichtung zugleich vollendete Kunst und an den Sünden ihrer Nachfolger schuldlos war, hat er nie begriffen. Er war ein Gelehrter, er hatte sich, wie Rubens und die italienischen Maler seines Jahrhunderts, sorgfältig geschult an den großen Vorbildern vergangener Kunstepochen. Köstliche Kräfte der Jugend hatte er vergeudet, um mit bedachtsamem Fleiße die Treibhausgewächse der lateinischen Poesie zu erzeugen. Nun gedachte er, der Modedichtung des Tages eine hochgebildete, kunstgerechte Poesie entgegenzustellen, die den Spuren der Alten und der biblischen Sänger folgen sollte. Noch mehr, er tadelte jene echten Dichter, welche, wie Shakespeare als »fröhliche Kinder der Phantasie« das Schöne, nichts als das Schöne schufen. Er wußte sich berufen, zu schreiben »für die Ehre und Bildung seines Vaterlandes und zum Ruhme Gottes«. Mit unbefangener schöpferischer Lust hatte Shakespeare den erhabenen Gestalten seiner Kunst allein gelebt. Protestant durchaus, verschmähte er doch mit künstlerischer Weisheit den dogmatischen Streit. Nur dann und wann wirft er einen spöttischen Seitenblick auf die sauersehenden Puritaner, die Hasser der Bühne; und so ganz verschwindet er hinter seinen Gestalten, daß wir eben nur erraten können, der royalistische Dichter selber rede aus den zornigen Worten: »und soll das Bild von Gottes Majestät, sein Hauptmann, Stellvertreter, Abgesandter durch Untertanenwort gerichtet werden?« Diese Tage künstlerischer Seligkeit waren dahin. Die Parteien begannen sich zu scheiden. Jetzt galt es zu wählen zwischen dem weltverachtenden Ernste der Puritaner und der vornehmen Leichtfertigkeit der Kavaliere; mit nichten war Miltons Meinung, daß der Dichter solcher Wahl sich entziehen dürfe.

Wie Milton sich in diesem Streite entschied, das mag ein feines Ohr schon heraushören aus den berühmten Gedichten l'Allegro und il Penseroso . In dem heiteren Gedichte besingt der Dichter die lachende Schönheit der Erde, den Zauber des englischen Waldes, die Freuden der Jagd und ländlicher Feste, das trauliche Treiben am winterlichen Herde; deutlich vernehmen wir den gedämpften Nachklang der herrlichen Frühlings- und Winterlieder in Shakespeares loves's labour lost . Doch alsbald stellt er im Penseroso diesen nichtigen Freuden, dieser Brut der Torheit ohne Vater geboren, das höhere Glück des Denkers gegenüber, der im Forschen die Welt vergißt, der seine Seele nährt an den großen Geisteswerken alter Tage und endlich im härenen Kleide, in moosiger Zelle die erhabene Weisheit des Propheten erlangt. Beide Gedichte gehören wegen der Pracht und anschaulichen Wahrheit der Schilderung zu dem Schönsten, was die Zwittergattung beschreibender Dichtung geschaffen; doch keines von beiden gibt rein und unvermischt die Stimmung wieder, welche der Titel andeutet. Weil aber jene schwankende, zweifelnde Verfassung des Gemüts, welcher die Gedichte Ausdruck geben, mehr nachdenklich als heiter erscheint, so hat das allgemeine, selbst von Macaulay geteilte Urteil irrigerweise dem Penseroso den Preis zuerkannt. Ungleich deutlicher spricht Miltons puritanische Gesinnung aus der Hymne auf Christi Geburt, dem Gedichte, das von seinen Jugendwerken den reinsten Eindruck hinterläßt, weil nur hier die wunderbare lyrisch-musikalische Begabung des Mannes zur freien Geltung gelangt. Wohl wirft er da einen wehmütigen Blick auf den Untergang der reichen Welt heidnischer Schönheit, aber ihr verführerischer Glanz verbleicht vor dem reinen Lichte, das von der Wiege des Erlösers ausgeht; die lockenden Gesänge der Nymphen müssen verstummen vor den feierlichen Harfen-Chören der Seraphim.

Immer aufs neue drängt sich des Dichters puritanischer Eifer hervor. Ein Freund stirbt ihm; er legt einem dorischen Hirten ein Klagelied in den Mund, und selbst in diese Elegie (den vielbewunderten Lycidas) mischt er Zornreden wider die ungetreuen Hirten, welche Gottes Herde verwahrlosen: er droht, schon sei das zweischneidige Schwert erhoben, das die Pfaffen treffen werde. In offenem Kampfe tritt er der unzüchtigen Bühnendichtung entgegen mit dem Maskenspiele »Comus«. Die tendenziöse Bedeutung des Comus hat zuerst überzeugend nachgewiesen A. Schmidt, Miltons dramatische Dichtungen, Königsberg 1864. Wie oft hatten die Großen des Hofs den Triumph des Verführers im frechen Mummenschanze dargestellt! Der puritanische Poet feiert den Sieg der Keuschheit über die Versuchung. Die ausgelassenen Geister der Nacht, Comus und sein Gefolge, umschwärmen verlockend ein unschuldiges Mädchen, sie preisen die Wonne süßer Sünden, sie rufen das köstliche Narrenwort: »was hat die Nacht mit dem Schlaf zu tun?« Doch der Dichter ist mit nichten gemeint, den zügellosen Geistern, wie es ihnen gebührt, den kurzen Rausch eines selig-trunkenen Daseins zu gönnen; sie müssen das ernst-moralische Lob der Keuschheit aus dem Munde der Jungfrau hören und nehmen ein Ende mit Schrecken wie in der Kinderfabel. Gewiß, diese nüchterne Moral wirkt erkältend, sie ist das Gegenteil echter Kunst, und wenn es erlaubt ist von genialen Pedanten zu reden, so trifft dieser Name unsern Dichter. Doch diesem England tat not, daß endlich einmal in das wiehernde Gelächter der Lüsternheit die Stimme eines Sängers hineinklang, dem es heiliger Ernst war mit jedem seiner Worte. Dies Maskenspiel ward aufgeführt in dem Hause des Grafen von Bridgewater, und Milton verstand sich anzueignen, was allein in jenen adligen Kreisen der Nachahmung wert war: ein feines, weltmännisches Betragen. Mit seinen Ansichten und seiner Liebe hing er nach wie vor an den Mittelklassen. Wie alle reformatorischen Köpfe Englands, von Wicliffe bis herab zu dem verwegenen Demagogen des neunzehnten Jahrhunderts William Cobbet, fühlte er sich mit Stolz als ein Angelsachse. Dem Volksglauben getreu, verehrte er in dem guten Sachsenkönig Edward den Gründer englischer Freiheit; von den Dichtern seines Landes liebte er besonders den alten eifrigen Sachsen Chaucer, und nie hat er sich zu dem Eingeständnis entschlossen, daß sein Sachsenvolk von den Normannen unterworfen worden sei.

In allen diesen vielverheißenden kleinen Gedichten offenbarte sich das Talent eines großen Hymnen- und Elegiendichters, dazu ein Gedankenreichtum und eine plastische Kraft der Zeichnung, die in der beschreibenden Poesie ihresgleichen nicht finden. Aber noch hatte Miltons Genius sein heimisches Feld nicht betreten. Immerhin genügten diese Werke, seinen Namen berühmt zu machen, denn trostlos arm war die Zeit an echten Künstlern. Damals gerade brach Deutschlands uralte Kultur zusammen, als unser Volk für die religiöse Freiheit des ganzen Weltteils blutete; mit Tasso war der letzte von Italiens Klassikern gestorben, und noch hatten die großen Tage der französischen Dichtung nicht begonnen. So war Milton ein berühmter Reisender, als er im Jahre 1638, tief erschüttert durch den Tod seiner Mutter, Italien besuchte, das noch immer wie in Shakespeares Tagen den Briten als das goldne Land der Künste galt. Seine Aufnahme war glänzend; denn man verehrte in ihm den Dichter und den urbanen Gelehrten, und – als erkenne man in ihm eine den Romanen verlorene Lauterkeit des Sinnes und der Sitten – der geistige Adel des Landes kam dem jugendfrischen und jugendlich reinen Inglese mit jener Innigkeit entgegen, welche noch heute den Verkehr der feineren italienischen und germanischen Geister belebt. Dort im Süden schaute Milton eine Farbenpracht und festliche Freudigkeit des Daseins, die der finstre Ernst seiner Heimat verwarf; an der Decke der Sixtinischen Kapelle sah er das verlorene Paradies von Buonarottis Pinsel verherrlicht; auf den zahlreichen Bühnen trat ihm eine kecke Lust an schönem Spiel und freier formvollendeter Nachahmung entgegen, die England selbst gekannt, aber längst wieder verloren hatte. In den Akademien der vornehmen Welt atmete er den Zauber feinster geselliger Unterhaltung. Er dichtete im eleganten poetischen Wettkampfe lateinische Elegien und italienische Sonette, ohne doch über der kunstvollen Nachahmung die Kraft selbständigen Schaffens zu verlieren, und ließ sich gefallen, daß seine zierlichen Freunde sein Dichterlob mit romanischer Überschwenglichkeit sangen; ja in Rom, so wird erzählt, war er nahe daran, sein Herz zu verlieren an die schöne Sängerin Leonora Baroni. Dennoch vermochte die Verführung epikureischen Genusses nicht seinen fertigen Charakter zu biegen oder die durchdringende Schärfe seines Blickes abzustumpfen. Als er in dem Hause des Marchese Manso, eines Freundes Tassos, weilte, ward ihm klar, daß dies Geschlecht von Epigonen, trotz aller Fruchtbarkeit seiner Maler, in der Dichtkunst jeder schöpferischen Kraft entbehrte. Durch solche Einsicht stählte er sich in seinem Lieblingsglauben, daß staatliche Freiheit unentbehrlich sei auch für die geistige Größe eines Volkes. Denn mit Erstaunen und Beschämung erfuhr er, daß England – das England Karls I. – dieser unglücklichen Nation, die unter dem Joche der Spanier seufzte, als ein beneidetes Reich der Freiheit galt. Und wie wertlos erschien dem Puritaner alle künstlerische Herrlichkeit Italiens, als er die römische Hure in ihrem eigenen Babel aufsuchte und den Pomp des Papsttums, »dies schwerste aller Gerichte Gottes«, vor Augen sah! In der Stadt des »dreifachen Tyrannen« wappnete er sich mit dem ganzen Stolze eines kühnen Ketzers; den Rat vorsichtiger Freunde verschmähend, gab er laut seinen Abscheu kund über das Treiben der Jesuiten. Voll Ehrfurcht besuchte er den greisen Galilei, das erlauchte Opfer pfäffischen Geisteszwanges. Und mächtiger vielleicht denn alles, was ihm Italien bot, wirkte auf Milton ein Gespräch zu Paris mit Hugo Grotius, dem Dichter und Denker, dem Vorkämpfer religiöser und bürgerlicher Freiheit.

So vollendete Milton während drei reicher Jahre in Italien seine ästhetische Ausbildung. Aber noch immer suchte seine Dichterkraft unsicher tastend umher. Der Mann des Bürgertums trug sich, angefeuert durch die Erinnerung an Tasso, bereits mit dem Plane eines ritterlichen Heldengedichts von König Artur und seiner Tafelrunde. Da riß ihn der Sturm des Völkerkampfes aus seinen künstlerischen Träumen. Das englische Volk begann jenen Streit, in welchem sich offenbaren sollte, daß der Protestantismus, nachdem er lange als ein von außen aufgedrungenes Gut nur in den Institutionen des Landes bestanden, jetzt endlich nach langer, stiller, geistiger Arbeit in den Herzen der Nation festgewurzelt, ihr sittliches Eigentum geworden sei. Die große Kunde traf den Dichter, da er eben nach Griechenland, dem teuersten Lande seiner Sehnsucht, überzufahren gedachte. Alsbald kehrte Milton in die Heimat zurück, denn ihm galt es für »schmählich, fern zu weilen, derweil seine Mitbürger für die Freiheit stritten«. Ihm war, als sehe er seine »edle und mächtige Nation gleich einem Riesen sich vom Schlummer erheben und ihre Simsonslocken schütteln«. Noch ein kurzer, herzstählender Aufenthalt in Genf, der hohen Schule und dem Musterstaate der streitbaren Jünger Calvins; dann betrat er die heimische Insel, die ihm als die Wiege der Reformation galt und nun die letzten blutigen Siege des Protestantismus schauen sollte. Jetzt erfuhr er, welch ein Segen für den Poeten darin liegt, wenn er auch der ungebundenen Rede mächtig ist, damit er nicht nötig habe, die Muse zu mißbrauchen für die endlichen Zwecke, zu deren Verfolgung die Härte des Lebens unerbittlich zwingt: Milton hat kaum je einen satirischen Vers geschrieben, um die persönlichen Händel auszufechten, in welche sein Wirken als Publizist ihn verflocht. –

Wollen wir diesen Streitschriften gerecht werden, womit er während eines Vierteljahrhunderts die drei Grundlagen jedes menschenwürdigen öffentlichen Lebens, die religiöse, die häusliche und die politische Freiheit, verteidigte, so müssen wir uns des gewaltigen Abstandes der Zeit lebhaft bewußt bleiben. Die meisten der Beweisgründe, welche er damals allen zur Überraschung zuerst aussprach, sind im Verlaufe des langen Kampfes um die Freiheit der Völker zu Gemeinplätzen, zu Vorurteilen aller Gebildeten geworden. Eine Eigentümlichkeit der Epoche ist die Form, eine Eigenheit des Volkes ist die Breite der Darstellung, welche Milton mit allen Gliedern dieser Nation lakonischer Sprecher sonderbarerweise teilt. Auch sein Mangel an historischem Sinne bei einer Fülle historischen Wissens wird uns nicht befremden, wenn wir bedenken, daß das Verständnis für die Geschichte, obwohl der Idee nach im Wesen des Protestantismus enthalten, damals noch unentwickelt war. Die berufene, gewaltige Heftigkeit seiner Polemik endlich, welcher es auf ein pecus oder stultissimum caput nicht ankam, erklärt sich von selbst aus den Sitten einer Zeit, deren göttliche Grobheit noch heute in den Streitschriften der Theologen fortwirkt, aus dem natürlichen Ingrimm eines Kampfes gegen mächtige Gegner, welche das Verbrennen durch Henkershand als die geeignete Antwort auf mißliebige Schriften ansahen, und aus Miltons persönlichen Erlebnissen. Denn ein hartes Geschick vereinigte in ihm wie in einem Brennpunkte die Leiden, Hoffnungen und Kämpfe seines Volkes. In seinem eigenen Hause sollte er die großen Schmerzen der Zeit erfahren; darum redet eine dramatische Wahrheit aus seinen Schriften. Der gemeinen Mittelmäßigkeit der Menschen ist der Ausdruck einer Meinung wichtiger als die Meinung selber; deshalb ist Milton, der gemäßigte Ansichten mit schonungsloser Ehrlichkeit aussprach, der törichten Nachrede verfallen, er zähle zu den Schwarm- und Rottengeistern, den Demagogen des Protestantismus.

Ausgerüstet für seine Aufgabe war Milton mit einer allseitigen Bildung und einer schöpferischen Gewalt über die Sprache, deren Prosa er mit einer Fülle altertümlich kräftiger Worte bereichert hat. Und was mehr sagen will: er war durchaus getränkt von dem echten Geiste protestantischer Freiheit. Daß, wer erlöst sein will, seinen eigenen persönlichen Glauben haben müsse, blieb seine erste Überzeugung, und er stritt für sie mit reinen Händen. Was auch seine erbosten Gegner über die unlauteren Beweggründe seines Handelns fabelten: jede neue historische Forschung beweist immer klarer, daß nie etwas Niedriges, Unreines, Schwächliches in seine Seele Eingang fand. Vielmehr liegen Miltons Fehler auf der entgegengesetzten Seite – es sind die Sünden kühner aufstrebender Menschen. Obwohl kein eigentlicher Parteimann, besaß er doch die ganze jüdische Starrheit der Puritaner, er war vollkommen unfähig, die relative Berechtigung seiner Feinde zu begreifen. Er sah in ihnen nur Götzendiener, Hurer, Despoten, Priester des Bauches; und nie begegnet uns in seinen Schriften jenes überlegene, objektive Lächeln, das wir von einem genialen Menschen selbst im Feuer des Parteikampfes dann und wann erwarten. Auch Milton hatte das Schmettern der Posaunen und die frohe Botschaft des Engels vernommen: »sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon die große und eine Behausung der Teufel geworden«; auch ihn, wie die Verwegensten der Puritaner, trieb ein heiliger Eifer, das Volk Gottes zu mahnen zum Auszuge von Babel, »auf daß ihr nicht teilhaftig werdet ihrer Sünden, auf daß ihr nicht empfanget etwas von ihren Plagen.« In jedem seiner Bücher liegt sein Innerstes ausgesprochen. Nur die Stimme seines wachen Gewissens hieß ihn die Waffen der Publizistik ergreifen – ihn, der sich immer bewußt blieb, daß er zu höherem geboren sei und in dem kühlen Elemente der Prosa nur den Gebrauch seiner linken Hand behalte. Doch gerade deshalb verfiel er in den alten Irrtum harmonischer, tief-gewissenhafter Naturen. Er fand einen objektiven Zusammenhang zwischen seinen politischen und religiösen, ästhetischen und sittlichen Meinungen, während dieser Zusammenhang doch nur subjektive Wahrheit haben konnte, nur für ihn, den ganzen einheitlichen Menschen bestand. »Religion und Freiheit hat Gott unzertrennlich in Eins verwebt, die christliche Religion befreit die Menschheit von den zwei schrecklichsten Übeln, Furcht und Knechtschaft.« Auf diese Sätze gestützt, gebrauchte er dreist religiöse Argumente für politische Zwecke, und umgekehrt – eine Verirrung, die freilich einer Partei sehr natürlich zu Gesichte stand, welche für die Freiheit des Staats und der Kirche zugleich auftrat. Daher hat er das scharfe philosophische Scheiden der Begriffe nicht verstanden, und er so wenig wie irgendein Brite besitzt die Gabe der deutschen und hellenischen Philosophen, die Dinge auf ihre letzten Gründe zurückzuführen.

Der unvergängliche Wert seiner prosaischen Schriften liegt in der unermüdlichen Durchführung der ewigen Wahrheit, daß die sittliche Tüchtigkeit eines Volkes die Vorbedingung bleibt für seine staatliche Größe, die Blüte seiner Kunst und die Reinheit seines Glaubens. Auch darin zeigt sich der glaubenseifrige Puritaner, daß er nicht glänzen will durch einen großen Reichtum von Ideen, sondern überzeugen will durch fortwährende Vertiefung und Klärung weniger, aber mit ganzer Seele ergriffener Gedanken. Nur eines tritt als ein störender unharmonischer Zug in seinen Werken hervor. Selbst dieser freie Geist hat, wie alle seine Zeitgenossen und wie noch heute die ungeheure Mehrzahl der Briten, nicht gewagt, die letzten Konsequenzen der protestantischen Freiheit zu ziehen. Auch sein Denken ist theologisch gebunden, ist wesentlich scholastisch, obgleich er die alte scholastische Wissenschaft heftig bekämpft. Ihm gilt als selbstverständlich, daß die Forderungen der Vernunft mit den Aussprüchen der heiligen Schrift stets übereinstimmen müssen, und wird der Widerspruch gar zu handgreiflich, so hilft er sich mit dem verzweifelten Ausspruche: »so Unvernünftiges kann die Bibel gar nicht behaupten wollen.« Diese theologische Verbildung und die jüdische Härte des puritanischen Wesens entfremdet Miltons Werke gar oft uns Söhnen eines geistig freieren Volkes. Wer den ungeheuren Abstand zwischen deutscher Freiheit und englischer Befangenheit des Geistes ermessen will, der vergleiche Milton mit einem beliebigen Buche unseres Luther. Welche milde, menschenfreundliche Weisheit verbreitet sich in Luthers Tischreden über alle Höhen und Tiefen des Lebens! Wie herzlich weiß sich der Reformator das Leben der heiligen Familie auszumalen, er sieht es vor Augen, wie die Mutter Maria auf dem Zimmerplatze ängstlich auf ihren Knaben wartet und ihn fragt: wo bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Wie pedantisch erscheint neben diesem traulichen Bilde der Jesus Miltons, der die kindlichen Spiele kalt verschmäht und als Knabe schon sich mit dem »öffentlichen Wohle« beschäftigt! Sicher, der deutsche Theolog predigt eine reinere, weltlich freiere Menschlichkeit, er redet uns auch heute noch lauter und freundlicher zum Herzen als der weltlichste und kühnste Kopf der Puritaner, der uns um anderthalb Jahrhunderte näher steht.

Der Protestantismus war gefährdet, seit die Kreaturen König Karls versuchten, die anglikanische Kirche durch Verschärfung der bischöflichen Verfassung dem Katholizismus wieder anzunähern. Gegen diesen Grundschaden der englischen Reformation erhob sich Milton in fünf Streitschriften, welche nach seiner Rückkehr in die Heimat in den Jahren 1641 und 1642 erschienen. Mit dem sicheren praktischen Blicke seines Volkes, den er bei all seinem idealistischen Schwünge durchaus besaß, eiferte er zunächst nur gegen die Verfassung der Kirche. Durch ihn ward zuerst in vornehmer Sprache den Gebildeten der Nation bewiesen, was die eifrigen Apostel der Puritaner schon längst auf den Gassen gepredigt hatten, daß die bischöfliche Kirche – diese »ephesische Göttin« der Götzendiener – nur eine neue, nicht minder unevangelische Hierarchie an die Stelle der gestürzten römischen gesetzt habe, Abschaffung des Prälatentums, Beseitigung der Häufung der Pfründen in Einer Hand, welche bereits eine »Verteuerung der geistigen Speise« hervorgerufen, endlich Wahl der Seelsorger durch die Gemeinden – in diesen Forderungen gab er den Wünschen der Mittelstände klaren Ausdruck. Wie alle echten Jünger der Reformation mahnte er zur Rückkehr in die Armut und Einfachheit des apostolischen Zeitalters. Wie vordem Dante und mit Dantes Worten erklärte er die Schenkung Konstantins, welche den weltlichen Reichtum der Kirche gegründet, für »die wahre Büchse der Pandora«. Er stützte sich auf jenes goldne Wort, das die Summe aller protestantischen Weisheit über kirchliche Verfassungsfragen enthält: »wo zwei oder drei von euch versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Alsbald stürzten die Bischöfe sich auf ihn mit dem furchtbaren Rüstzeuge jener perfiden Mittel, welche nur gereizter Pfaffenhochmut nicht verschmäht. Weil Milton in seiner eifrigen Strenge einmal von falschen Bärten und Nachtschwärmern gesprochen, so ward die fleckenlose Reinheit seines Wandels verleumdet; denn nur wer Bordelle und Spielhäuser besuche, könne Kunde haben von solchen Dingen. Steinigt diese hündische Mißgeburt zu Tode, auf daß ihr nicht selbst verderbet, – das war der Ton, den die Bischöfe Hall und Usher anschlugen, um den kecken Reformator zu züchtigen. Doch die Entrüstung gegen die Prälaten ward allgemein; und nach seiner kühnen Weise, der es nur in den Vorderreihen der Streiter wohl war, verschmähte Milton jetzt, noch ferner teilzunehmen an einem Kampfe, dessen Ende nicht mehr zu verkennen war.

Als er nach Jahren (1659) wieder über kirchliche Fragen zu schreiben begann, war sein Denken bereits kühner, sein Standpunkt freier. Er hatte erfahren, daß auch die Presbyterianer, denen er selbst zum Siege über die Bischöflichen verholfen, sich nicht frei hielten von jenen theokratischen Neigungen, deren jede organisierte Kirche voll ist. Man weiß, auf welchen zähen Widerstand Cromwell stieß, als er den finstern Fanatismus seiner Gläubigen zur Duldung bewegen wollte. Milton hatte nicht gesäumt, seinen großen Freund in diesen Kämpfen zu bestärken und anzufeuern, »denn auch der Frieden hat seine Siege«. Er sang ihm zu: »befrei die Seelen von der Mietlingsrotte, die ihrem Magen frönt als ihrem Gotte.« Nach dem Tode des Protektors, da die Gefahr religiöser Verfolgung wieder nahe gerückt war, richtete er an das Parlament die Denkschrift »über Regierungsgewalt in kirchlichen Dingen« – eine Verherrlichung der Duldung. Jetzt wagt er das kühne Verlangen »Trennung von Staat und Kirche«; denn der Vermischung dieser beiden Gewalten verdanken wir alle Kriege des letzten Jahrhunderts. Der Staat, der seinem Wesen nach nur »die Wirkung, nicht den Sitz der Sünde« treffen und strafen kann, verzichte fortan auf die väterliche Gewalt, die der Kirche gebührt. Die Kirche verschmähe, obrigkeitliche Rechte zu üben, »sie ist zu hoch und würdig, um sich gleich einer Weinrebe am Stamme des Staats emporzuranken«.

Freilich, wenn die Kirche nicht von dieser Welt ist, so besteht und wirkt sie doch unzweifelhaft in dieser Welt; diese bittere Wahrheit hatte schon Luther erfahren. Noch um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts war niemand, auch Milton selber nicht, fähig, den wahren Sinn des vieldeutigen Wortes »Trennung von Staat und Kirche« zu begreifen und zu erfüllen. Auch Milton beurteilt den Staat nach religiösen statt nach rechtlichen Begriffen, und – seine Duldung hat ihre Grenzen. Sie umfaßt alle Sekten, deren Menge er als ein Zeichen des zunehmenden Denkeifers freudig begrüßt, sogar die Socinianer, welche unsern deutschen Lutheranern geradezu als Heiden erschienen; nur eines umfaßt sie nicht – popery and open superstition . Der Katholizismus ist ihm eine politische Partei, welche unter dem Scheine einer Kirche die priesterliche Tyrannei anstrebt. Selbst die Gottesleugner mag der Staat ertragen, nur diese Papisten nicht, denen der Papst jederzeit einen Freibrief für alle Verbrechen ausstellen kann. Milton so wenig wie nach ihm der Skeptiker Bayle wollte begreifen, daß mit dieser einen Ausnahme der Befreiung der Kirche vom Joche des Staates die Spitze abgebrochen wird. Fürwahr, wenn jede reinere Menschensitte von den Völkern nur auf Umwegen erreicht wird, so sind die Irrgänge der religiösen Duldung die seltsamsten von allen. Wie in Preußen die Toleranz, die köstliche Frucht der inneren Freiheit der Menschen, damit begann, daß sie den widerstrebenden Predigern vom Staate anbefohlen ward, so ward in England das friedliche Leben der Konfessionen nebeneinander erst dadurch möglich, daß man die aggressive Macht der römischen Kirche eine Zeitlang von der allgemeinen Duldung ausschloß. Selbst ein Idealist wie Milton konnte sich dieser handgreiflichen Notwendigkeit nicht verschließen. Sein starker Geist, gewohnt die historischen Dinge in der ganzen Schärfe ihrer Gegensätze zu begreifen, bekannte sich zu dem Worte: wer Autorität sagt, sagt Papst, oder er sagt gar nichts – zu jenem schrecklichen Worte, welches nur darum nicht wahr ist, weil der müden Mehrzahl der Menschen der Mut fehlt, ihren Glauben bis in seine letzten Spitzen zu verfolgen. Ein Ketzer ist in Miltons Augen nur, wer in Sachen des Glaubens menschlichem Ansehen folgt; das allein galt ihm als die wahre Sünde wider den heiligen Geist. Und es scheint nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß diese Meinung mit den Lehren der ältesten Kirche, ja sogar noch der päpstlichen Dekretalien sehr nahe verwandt ist.

So war Milton unter die kühnsten religiösen Reformer, unter die Independenten getreten, und eine neue, noch im selben Jahre erschienene Schrift »gegen die Mietlinge in der Kirche« gab davon Zeugnis. Hatte er vordem nur den Lippendienst der Agende bekämpft, weil sie die lebendige Kraft des freien Gebetes verdränge, so wendet er sich jetzt gegen die Geistlichkeit selber, den neuen Stamm Levi. Er versteht das Priestertum der Laien, dies Palladium der Protestanten, im verwegensten Sinne, er verwirft die Bildung einer theologischen Kaste und heischt das Recht des Predigens für jeden Bibelkundigen. Hatte er einst die harte puritanische Kirchenzucht verteidigt, so weiß er nun geistige und weltliche Dinge klarer zu scheiden und erkennt die Ausschließung als die einzige gerechtfertigte kirchliche Strafe. Während seiner reifsten Jahre hat der fromme Dichter nie mehr eine Kirche betreten. Noch im hohen Alter stellte er sich nach den Worten der Bibel eine christliche Dogmatik zusammen und wahrte sich damit sein protestantisches Recht auf einen persönlichen Glauben.

Freilich, hätte er vermocht, die Fesseln der Scholastik abzustreifen, so mußte er noch einen Schritt weiter gehen. Denn er bekannte sich zwar im ganzen und großen zu den Lehren des Calvinismus: vereinigte doch diese Kirche damals, da die schöpferische Kraft des Luthertums erloschen schien, in sich alle treibenden, fortschreitenden Mächte, allen Freiheitsmut des Protestantismus. Aber ein wahrhaft unbefangener Blick in sein Inneres mußte ihm sagen, wie vieles ihn von diesem Glauben trennte. Nicht nur hielt er sich rein von den pfäffischen Verirrungen der Gottseligen, welche, gleich vielen Frommen unserer Tage, mit dem Gottseibeiuns auf weit vertrauterem Fuße lebten, als mit dem Herrgott selber; sondern als ein rechter Apostel der Freiheit verwarf er auch die entsetzliche Lehre von der Vorherbestimmung. Ohne die Freiheit des Willens war ihm das Leben des Lebens nicht wert; die Notwendigkeit, »der Rechtsgrund der Tyrannen«, fand keine Stelle in seinem Katechismus. Ja, in seinen letzten Jahren erkannte er bereits die Unvergänglichkeit der Materie, die Untrennbarkeit von Leib und Seele und die Immanenz Gottes. Noch mehr, in Worten und in Werken fügte er den mehr negativen Tugenden des Christentums die positiven des antiken Heidentums hinzu. Wie ehrlich gestand er, daß die ersten christlichen Jahrhunderte einen argen Rückschritt in den Sitten zeigen gegen die großen Tage der Hellenen und Römer! Mit welchem naiven Stolze, mit wie heidnischer Unbefangenheit sprach er, gleich dem modernen Heiden Scaliger, von seinem eigenen Werte! Und wie ganz »unchristlich« – nach den theologischen Begriffen der Zeit – war seine Auffassung der Moral: wir sollen zu stolz sein, uns zu hoch halten für die Sünde! »Alle Bosheit ist Schwäche«; er findet nicht Worte genug, die Kleinheit, die Verächtlichkeit der Sünde zu schildern. Mit diesen Zügen durchaus antiker Sittlichkeit vermischen sich in seiner Seele die herbsten Gedanken christlicher Askese, eine tiefe Weltverachtung und die heilige Überzeugung, alles Wissen, alle Kunst der Menschen sei wertlos, wenn sie nicht geradeswegs hinführen zu dem »Leben in Gott« – nur daß er selber dieser Widersprüche nimmer sich bewußt ward. Nach dem geistreichen Holländer Coornhert war Milton der erste Denker, welcher vermochte, in einer Zeit des konfessionellen Hasses den Geist des Christentums in gläubiger Seele zu hegen, ohne sich dem Dogma einer Konfession völlig anzuschließen. –

Inzwischen hatten sorgenvolle Erlebnisse Milton zum Nachdenken geführt über einen andern Grundpfeiler des Völkerglückes, über die häusliche Freiheit. Der strenge Mann, der nie ein Liebesgedicht geschrieben, fühlte doch nach Art stolzer, spröder Naturen sehr lebhaft das Bedürfnis der Liebe. Er war vielleicht zu sehr ein in abstrakten Begriffen befangener Gelehrter, um jene dämonische Anziehungskraft zu besitzen, welche die Naturgewalt großer Künstler auf die Gemüter der Frauen ausübt; immerhin war er wohl imstande, ein Weib zu beglücken, das tief und innig genug empfunden hätte, um die Schroffheit des Gatten zu tragen und zu mildern. Leider fand er in seiner Gattin Mary Powel nur das platt Alltägliche. Die oberflächliche vergnügungslustige Tochter eines lustigen Landedelmanns sehnte sich bald hinweg aus der ernsten Einförmigkeit des stillen Gelehrtenhauses. Und Milton empfand die traurigste Nachwirkung politischer Kämpfe: die Wirren des Staates störten den Frieden seines Hauses. Die anerzogenen royalistischen Grundsätze seiner Gattin lehnten sich auf gegen das Puritanertum des Mannes. Nach Verlauf eines Monats kehrte sie zu ihrem Vater heim, und nachdem Milton vergeblich versucht, sie zurückzuführen, unterfing er sich, die Gesetzgebung seines Landes von einem Makel zu befreien, dessen Schwere er an sich selbst erfahren. Er verfaßte jene vier Schriften über die Ehescheidung (1643-1645), welche der sittlichen Bildung seiner – und leider auch unserer – Tage weit vorauseilten. Die ganze Kühnheit dieses Schritts begreifen wir erst, wenn wir uns erinnern, wie allgemein dieses Zeitalter – Milton selbst nicht ausgeschlossen – der Unart ergeben war, hinter jeder überraschenden Meinung unlautere persönliche Motive des Schriftstellers zu wittern. Von alters her war die Freiheit der Ehe ein Lieblingsthema jener sinnlichen Naturen, welche der laxen Moral ein bequemes Lotterbett bereiten wollen. Der puritanische Denker dagegen ward ein Verteidiger der Ehescheidung, weil seine stolze Tugend sehr streng und vornehm dachte von dem Wesen der Ehe.

Milton war hier in der mißlichen Lage, allgemeine Regeln aufzusuchen für Fälle, welche als Ausnahmen von der natürlichen Ordnung nur eine individuelle Beurteilung dulden; aber er löste seine Aufgabe mit der Logik eines schlagfertigen Denkers und mit dem Mute eines guten Gewissens. Er will die Welt, wie von der Last des Aberglaubens in der Kirche, so von den eingebildeten Schrecken der Sünde im Kreise des Hauses befreien. Siegreich zeigt er die Sinnlichkeit des kanonischen Rechts, das nur durch fleischlichen Ehebruch die Ehe gelöst wissen will. Sein protestantisches Gewissen empört sich gegen die leichtfertigen Dispensationen vom Gesetz, welche solche übertriebene Härte notwendig veranlaßt. So streitet Milton, ihm selber vielleicht unbewußt, für die harmonische Gleichmäßigkeit der Sitte, die wir modernen Menschen verehren, und gegen die Roheit jener alten Tage, die zwischen Zwang und Ausschweifung haltlos taumelten. Mit ergreifenden Worten schildert er das Glück, das ihm selber versagt war, das Glück der Ehe als einer göttlichen, bürgerlichen und leiblichen Gemeinschaft. Freilich, diese leibliche Gemeinschaft ruhig zu würdigen, war den Männern der Reformation nicht gegeben. Auch Milton haftet noch an der lutherischen Meinung, der natürliche Trieb sei sündhaft, wenn nicht Gottes absonderliches Erbarmen seinen Mantel darüber decke. Der Beruf des echten Liebesgottes, ruft der Puritaner, beginnt und endet in der Seele. Ist jene göttliche Gemeinschaft gebrochen, so ist die leibliche wertlos, so sind die Kinder »Kinder des Zorns«. Der Zweck der Ehe ist das Glück der Gatten – und »kein Vertrag kann binden, wenn seine Ausführung dem Zwecke des Vertrages widerspricht«. Damit ist einer jener radikalen Sätze gesprochen, die mit ihrem schneidenden Klange die träge Welt aus dem Schlafe rütteln und ihr bei den verschiedensten Anlässen immer und immer wieder in die Ohren gellen: hat doch in unseren Tagen der Freistaat Venezuela genau mit denselben Worten seine Unabhängigkeit gerechtfertigt.

So dringt dieser reine Mensch in allem, was er ergreift, auf das Wesen, auf den sittlichen Kern der Dinge. Nur leider hindert ihn auch hier seine theologische Verbildung, die köstlichsten Früchte seines Denkens zu ernten. Er ahnt, daß diese höchstpersönlichen Fragen durch die Aufstellung gesetzlicher Scheidungsgründe niemals gelöst werden können. Aber statt daraus zu folgern, daß sie billigerweise dem Wahrspruche eines Schwurgerichts von Standesgenossen unterliegen sollten, verwirft er kurzweg jede Einmischung der Gerichte in eheliche Verhältnisse; ja, er will die Entscheidung über die Trennung der Ehe dem Gewissen des Mannes anvertrauen und so unsere milderen Sitten verbessern durch die brutalen Rechtsbegriffe der Juden, welche die Menschenwürde des Weibes nicht fassen konnten!

Abweichend von der dürren Jurisprudenz der Zeitgenossen, aber übereinstimmend mit den großen Staatslehrern unter den Alten sah Milton in der Familie die Grundlage des Staats. Um dem häuslichen Leben nach allen Seiten hin gerecht zu werden, schrieb er – damals beschäftigt mit der Erziehung der Kinder einiger Freunde – sein Buch »über Erziehung«. Vielleicht hat in jenen Tagen nur der Deutsche Samuel Hartlieb diese Schrift, welche der englische »Schulmeister« ihm widmete, ganz verstanden; so wenig hatte der Miltonische Plan eines freien, wahrhaft klassischen Jugendunterrichts mit den theologischen Begriffen des Jahrhunderts gemein. – Die häusliche Freiheit ward nicht zur Wahrheit, solange nicht »die Geburt des Gehirns ebenso frei war, wie die Geburt des Leibes«, solange der Staat die Preßfreiheit verkümmerte. Die Presbyterianer hatten im langen Parlament die Oberhand gewonnen, aber nach dem Siege bewiesen sie die gleiche Unduldsamkeit wie die gestürzten Bischöflichen, sie beschlossen (1644), daß für den Druck jeder Schrift eine Lizenz eingeholt werden müsse. Da erkannte Milton die Gefahr, daß der große Freiheitskampf seiner Nation mit dem Siege einer Partei über die andere kläglich ende. Er richtete an das Parlament die Areopagitica , die berühmte schwungvolle Rede zum Schutze der Preßfreiheit, unzweifelhaft die schönste seiner prosaischen Schriften. Hier ist Miltons großartiger Idealismus an der rechten Stelle, hier redet sein freudiger, zweifelloser Dichterglaube an die Allmacht der Wahrheit, die – ein umgekehrter Proteus – nur aller Fesseln ledig Worte des Heiles kündet. Ein gutes Buch ist wie eine Phiole voll der reinsten Lebenskraft des schaffenden Geistes; wer einen Menschen erschlägt, tötet ein vernünftiges Wesen, wer ein Buch vernichtet, tötet die Vernunft selber, denn allerdings ist möglich, daß eine Wahrheit, einmal gewaltsam unterdrückt, nie wiederkehre in der Geschichte. Mit der Vernunft hat uns Gott die Freiheit der Wahl gegeben. Daß Ein Mensch durch freie Wahl zur Tugend gelange, frommt der Welt mehr, denn daß zehn durch Zwang dazu getrieben werden. – Die Rede vermochte zwar nicht die Herrschsucht der siegreichen Partei zu belehren; doch an einzelnen tieferen Naturen fand der Apostel der Preßfreiheit schon jetzt willige Hörer. Ein Zensor legte sein Amt freiwillig nieder, weil er durch Milton die Verächtlichkeit seines Wirkens und den päpstlichen Ursprung der Zensur kennen gelernt hatte. Erst ein Jahrhundert später ging Miltons Saat auf. Seine Rede ward eine Macht in jenen Kämpfen, welche unter Georg III. die Unabhängigkeit der englischen Presse endgültig entschieden, und kurz vor der Berufung der französischen Nationalversammlung übersetzte Mirabeau die Areopagitica für seine Landsleute und schrieb dazu: nicht seine Verfassung hat den englischen Staat so hoch erhoben, sondern die Durchführung der Miltonischen Ideen, die Achtung vor der öffentlichen Meinung.

Als diese Händel unter steigender Erbitterung der Geistlichkeit durchgefochten waren, verbrachte Milton vier Jahre (1645 bis 1649) in stiller Muße, schrieb an seiner Geschichte Englands in der angelsächsischen Epoche und folgte mit Spannung der anschwellenden Flut der Ereignisse. Das Königtum von Gottes Gnaden wurde von seinem Verhängnis ereilt. Ein Ausspruch Jakobs I. mag die Bedeutung des Kampfes bezeichnen – jenes blasphemische Wort aus der Thronrede vom Jahre 1609: »Gott hat Gewalt zu schaffen und zu zerstören, Leben und Tod zu geben. Ihm gehorchen Seele und Leib. Dieselbe Macht besitzen die Könige. Sie schaffen und vernichten ihre Untertanen, gebieten über Leben und Tod, richten in allen Sachen, selber niemand verantwortlich denn allein Gott. Sie können mit ihren Untertanen handeln als mit Schachpuppen, das Volk wie eine Münze erhöhen oder herabsetzen.« Zwischen dieser frivolen Selbstvergötterung eines durchaus ungermanischen Despotismus und dem gekränkten Rechtsgefühle eines gläubigen Volkes war jede Vermittlung unmöglich. Die Entscheidung mußte der Partei zufallen, welche allein den Mut hatte, ehrlich mit dem Königtume zu brechen, der Partei der Independenten, die nach dem eigenen Geständnis der Royalisten durch den Glanz ihrer Talente im Lager und im Rat alle anderen Parteien verdunkelte. Milton hatte ehemals Englands Heil gesehen in dem ehrlichen Befolgen der alten Verfassung mit ihrem »freien Parlamente unter einem freien, nicht bevormundeten Könige«. Er hatte dann sich zu Cromwells Meinung bekehrt, der von Anfang an die Dinge mit königlichem Blicke beherrschte und den Nagel auf den Kopf traf, als er erklärte, mit dem falschen versteckten Stuart sei jedes Verhandeln vergeblich.

Wie sollte ihn, der den Zauber einer tiefern Poesie im Herzen trug, der romantische Reiz der ritterlichen Kavalierehre blenden? Eine edle Freundschaft verband ihn jetzt mit Cromwell. Er erkannte in dem Helden, »der Gottes Schlachten schlug«, der voran stand, »als des Messias großes Banner flog«, den gebornen Herrscher, dem die von Gott gewollte Regierung der Besten zufallen müsse. Wie verschieden geartet die beiden auch waren: der schöne, feingebildete Dichter und der plumpe, wetterfeste, nüchterne Mann des Kriegs und der Geschäfte begegneten sich in dem tiefen Ernste ihres Glaubens, in ihrer Verachtung des Scheines, und beide standen hoch genug, um keiner Partei sich gänzlich zu verpfänden. Solche grundverschiedene Naturen mit gleicher Überzeugung schließen sich leicht aneinander zu dauernder, werktätiger Freundschaft. Milton ward der Anwalt der großen Rebellion, er ward nach Dante der einzige große Dichter, der als politischer Schriftsteller sich einen Kranz errungen hat. An ihm mag man die Nüchternheit des gesunden Menschenverstandes verlernen, der schon bei dem Worte »Dichter und Politiker« selbstgefällig zu lächeln beginnt. Sicher, Milton war ein Idealist von verwegenster Kühnheit, er konnte an unabweislichen Tatsachen der Wirklichkeit mit einer, in dieser Nation von Baconianern unerhörten Gleichgültigkeit vorübergehen. Doch es ist gefährlich, zu spotten über die Weissagungen des Genius, denn noch ist keiner als ein falscher Prophet erfunden worden, der an das Edle in der Menschheit glaubte. Wenn die klugen Leute jener Tage des Dichters lachten, der die Befreiung von Griechenland und Italien träumte, mit welcher Ehrfurcht sollen wir vor solcher Sehergabe stehen! Wohl irrte er, wenn er meinte, »der Deutschen männliche Kraft« werde für den Freiheitskampf der Briten in die Schranken treten, denn unser Volk lag damals tief danieder in philisterhafter Verzagtheit und sah in den Puritanern nur eine unbändige Rotte wilder Mörder, – aber wie nun, wenn Milton heute lesen könnte in den Herzen der edelsten Deutschen?

Rasch nacheinander hatte der Sturm der Revolution die bischöfliche und die presbyterianische Partei danieder geworfen. König Karl stand als Angeklagter vor dem Hause der Gemeinen; das Gemeinwesen von England war gegründet. Aus freiem Antrieb begann Milton, noch während der Prozeß des Königs schwebte, die Schrift »über die Stellung der Könige und Obrigkeiten« und ließ sie kurz nach Karls Hinrichtung erscheinen. Jetzt, da das Wohl des Staats eine große Tat gebieterisch forderte, schien es ihm feig und müßig, nach Präzedenzfällen und Gründen des positiven Rechts zu fragen. Er gab eine unbedingte Rechtfertigung der furchtbaren Tat nach Gründen des Naturrechts. Der Erfolg war ungeheuer bei Freund und Feind. Die neue Republik ernannte ihren feurigen Verteidiger zum lateinischen Staatssekretär, und im Auftrage des Staatsrats führte er nun den Federkrieg gegen die Kavaliere. Alsbald nach der Hinrichtung des Königs ward offenbar, wie schwere Wunden diese Tat der Sache der Freiheit geschlagen. Der Spruch war gefällt wider das Recht des Landes, in der Person des Königs schien die Sicherheit jedes Bürgers bedroht. Der königliche Märtyrer, der doch »nur für sich, nicht für die Wahrheit Zeugnis abgelegt«, fand sentimentale Bewunderer unter denen, welche dem lebenden Tyrannen geflucht, und die Kavaliere säumten nicht, diese weinerliche Stimmung zu benutzen. Der Bischof von Exeter verfaßte die berufene Schrift »Eikon Basilike, das Bildnis seiner geheiligten Majestät in seiner Einsamkeit und Qual«. Das Buch, voll gefühlvoller Todesbetrachtungen und frommer Wünsche für England, erschien anonym und gab sich für ein nachgelassenes Werk des Königs selber. Es ward bald in 47 Auflagen im Lande verbreitet, und ihm vornehmlich ist zu verdanken, daß der meineidige, herzlose Stuart fortan als ein edler, großmütiger Herr in dem Herzen der Masse lebte. Unverzüglich antwortete Milton mit seinem grimmigen Eikonoklastes. Dieser Bilderstürmer enthüllte unbarmherzig den plumpen Betrug, welcher jenem königlichen Bilde zugrunde lag. Er sprach goldene Worte wider die weibische Schwäche, welche die großen öffentlichen Sünden eidbrüchiger Fürsten vergißt über den kleinen Tugenden ihrer Häuslichkeit – goldene Worte, welche die harmlosen Bewunderer des musterhaften Familienlebens deutscher Kleinkönige noch heute nicht beherzigt haben.

Ein neuer Anwalt des absoluten Königtums und der bischöflichen Kirche trat auf. Der bekannte philologische Polyhistor Claude Saumaise, der noch vor kurzem das Bistum als eine papistische Einrichtung verdammt hatte, schrieb jetzt »für den Judaslohn von hundert Jakobstalern« die defensio regia . Mit gutem Grunde spottete Milton: wenn Karl Stuart sich den Verteidiger des Glaubens nannte, so mag sich auch Salmasius den Verteidiger des Königs nennen, denn beiden ist eigen, daß sie zerstören, was sie verteidigen wollen. In der Tat, nicht unglücklicher konnte die Sache des Königtums verfochten werden. Wie leicht war es, die Unverantwortlichkeit des Königs als einen unumstößlichen Grundsatz des englischen Rechts aufzuweisen! Ja, selbst die absolutistischen Gewalttaten König Karls boten einem gewandten Sachwalter einen sehr dankbaren Stoff. Keine Frage, sie hatten das Land an den Rand des Verderbens geführt, aber dem positiven Rechte widersprachen sie keineswegs so unzweifelhaft, wie man gemeinhin behauptet. Hatten doch die Tudors hundert Jahre lang ungestraft ein nicht minder absolutes Regiment, freilich zum Ruhme des Landes und zum Besten der niederen Stände geführt. Aber der Streit zwischen Volk und Krone von England war längst ein großer Prinzipienkampf geworden. So stützte sich denn Salmasius, statt auf die schwer zu widerlegenden Gründe des positiven Rechts, auf das Naturrecht. Er erweiterte die fluchwürdige Politik der Habsburger, das » novus rex, nova lex « Ferdinands II., zu einem Systeme des Meineids. »Die Kreuzigung Christi war eine unschuldige Kleinigkeit im Vergleich zu Karls Hinrichtung. Wie der einzelne sich freiwillig in ewige Sklaverei verkaufen kann, so auch die Völker. Darum bindet den König kein Schwur, kein Gesetz; seine Gewalt ist göttlich, väterlich, schrankenlos.« – So furchtbar war die Verblendung und Verbitterung der Parteien, daß selbst ein solches Werk der jungen Republik gefährlich scheinen mußte. Milton schrieb zur Erwiderung die defensio pro populo Anglicano , das berühmteste seiner prosaischen Werke, und brachte damals seinem Lande ein Opfer, würdig der großen Taten römischer Bürgertugend, ein Opfer, schmerzlicher vielleicht als die Hingabe des Lebens. Längst schon war durch die wiederholte Anstrengung der Nachtarbeit die Gesundheit seiner Augen untergraben. Das eine Auge war bereits trübe geworden, und jetzt gerade erklärten ihm die Ärzte, daß auch das Licht des andern sich nur erhalten lasse durch sorgsame Schonung. Aber Salmasius hatte die Streiter Gottes ein Volk von Räubern und Mördern genannt: Milton ermaß die ganze Schwere des drohenden Verlustes, tröstete sich an dem Bilde des homerischen Achill, wählte gleich ihm ein schmerzenreiches Leben voll Ruhmes, schrieb die Verteidigung seines Volkes und – erblindete für immer. So offenbart sich in Milton in idealer Vollendung, was auch den Weltlichsten mit immer neuer Bewunderung zu diesem finstern Heiligen hinzieht – die Macht eines Glaubens, der Berge versetzen mag. Die Feinde frohlockten, sie erkannten in Miltons Erblindung Gottes sichtbare Rächerhand und schilderten ihn als das

monstrum horrendum informe ingens cui lumen ademptum.

Er aber schrieb einem Freunde: »was hält mich aufrecht in so schwerem Leid? Nur dies Gefühl: ich gab mein Augenlicht als Opfer hin für jenen hehren Streit, von dem die Welt im Nord und Süden spricht.« Das kleine Buch, geschmückt mit dem Wappen der neuen Republik – dem roten Kreuz und der irischen Harfe – ging von Hand zu Hand; die defensio wurde das politische Erbauungsbuch der Puritaner. Wohl ward das Werk in Paris und Toulouse von Henkershand verbrannt, aber Salmasius erlag dem Fluche des Lächerlichen, den Miltons erbarmungslose Polemik auf ihn herabgerufen. Um den Anwalt der Freiheit drängten sich preisend die Staatsmänner von England und die Gesandten der fremden Mächte. Noch in mehreren kleinen Flugschriften verfocht Milton die Sache der Republik. Das Kriegsrecht herrschte in England; ihn beirrte es nicht. In greuelvollem Kampfe ward Irland unterworfen, also daß die irische Mutter noch heute mit dem Namen Cromwell ihr weinendes Kind zur Ruhe schreckt; dem Dichter aber war kein Zweifel, wider Papisten und Rebellen müsse der Streiter Gottes das Schwert Gideons gebrauchen.

In allen diesen politischen Streitschriften Miltons offenbart sich zunächst, welchen mächtigen Schritt die staatliche Einsicht vorwärts getan durch die Arbeit der Reformatoren. Der Staat war endlich zu seinen Jahren gekommen, er ward gewürdigt nach seinem eigenen Rechte und galt nicht mehr, wie in den Tagen des Papsttums, als ein Reich des Fleisches, als ein dienendes Anhängsel der Kirche. Hatte Luther einst, wie er gern von sich rühmte, als der erste gezeigt, was Stand und Würde christlicher Obrigkeit sei, so war der Glaube an die Selbständigkeit des Staats nunmehr allen Protestanten in Fleisch und Blut gedrungen. Unmöglich konnte die neue Kirche auf die Dauer sich beruhigen bei der lutherischen Lehre vom leidenden Gehorsam; wer die von Gott eingesetzten Oberhirten der Kirche nicht mehr anerkannte, mußte schließlich auch das unbeschränkte Königtum bekämpfen. Den Calvinisten bleibt das Verdienst, daß sie die letzten politischen Konsequenzen des Protestantismus gezogen. Seit den Greueln der Bartholomäusnacht ließ sich die Frage nicht mehr abweisen, wann das Recht des Widerstandes gegen tyrannische Obrigkeiten in Kraft trete. In schlagfertigen Schriften verfochten die hugenottischen Politiker, die Hotoman, la Boétie, Languet, das Recht des Volkes, den König, den es sich selber gesetzt, im Falle des Mißbrauchs der Gewalt wieder abzusetzen. Sie alle waren, wie schon früher der Schotte Buchanan, beherrscht von der calvinistischen Vorstellung, daß der Herr Zebaoth einen Bund, einen covenant , mit seinem gläubigen Volke geschlossen habe. Aber aus einem Wuste unklarer theologischer Begriffe brach doch bereits jene Lehre hervor, welche zwar noch der festen wissenschaftlichen Begrenzung bedurfte, doch in ihrem Kerne rechtlich und sittlich unanfechtbar bleiben wird, solange freie Männer leben. Hubert Languet faßte das Gleichgewicht der Pflichten und Rechte, die wahre Grundlage des Rechtsstaates, in dem klassischen Worte zusammen: »wir wollen uns vom Könige beherrschen lassen, wenn er sich von dem Gesetze beherrschen läßt.«

An diese Denker knüpft Milton an, und er verhält sich zu ihnen, wie die Puritaner überhaupt zu den Hugenotten: er ist kühner, tiefsinniger, aber auch härter, fanatischer. Die unbequemen Tatsachen der Geschichte schiebt der Idealist mit einigen kühnen Griffen zur Seite: das Veto des Königs ist unvernünftig und hat daher wohl niemals in England zu Recht bestanden, das Unterhaus ist sicherlich älteren Ursprungs als das Haus der Lords! Osiris, Saul und David, die Erhebung der Schmalkaldener wider Karl V. werden als Präzedenzfälle für die Hinrichtung Karl Stuarts angeführt. Der Schwerpunkt seiner Beweisführung liegt durchaus in dem großartigen Idealismus seiner naturrechtlichen Doktrin. Angeboren ist die Freiheit den Menschen; kein Volk kann für immer darauf verzichten. Der König leitet seine Gewalt vom Volke her und darf sie nur üben innerhalb der Schranken des Gesetzes. Ein Tyrann ist nicht mehr König, nur die Larve eines Königs, er verfällt demselben Strafgesetze wie jeder andere Bürger, denn das Volk ist älter, mächtiger als der König. Doch nicht der Pöbel, zu welchem Milton den Adel und die niederen Klassen zählt, soll herrschen; von dem Kerne der Nation vielmehr, von dem gebildeten Mittelstande wird das christliche Gemeinwesen von England geleitet. Damit, offenbar, ist ohne jede Rücksicht auf die Verschiedenheit der Staatsformen, die den Staat auf den Kopf stellende vieldeutige Lehre der Volkssouveränität verkündet – das Kind einer Epoche, welche alles zu fürchten hatte von dem Mißbrauche fürstlicher Gewalt. Sie hat seitdem ruhigeren Theorien das Feld räumen müssen, welche auch erwägen, wie das Königtum zu schützen sei gegen die Übergriffe des Volkes. Dauern aber für alle Zeiten werden jene schlagenden Sätze, womit Milton das göttliche Recht des Königtums widerlegt: »daß ein Staat bestehe, ist Gottes Ordnung, die Wahl der Staatsformen aber ist in der Menschen Hand gelegt. Es ist mehr Göttliches in einem Volke, das einen ungerechten König entsetzt, denn in einem Könige, der ein unschuldiges Volk unterdrückt.« Eben jetzt war überall in Europa das absolute Königtum im Aufsteigen; doch allmählich begann in den Gemütern die Miltonische Lehre Wurzel zu schlagen: »es gibt keine Götter mehr von Fleisch und Blut,« und Cromwell durfte das stolze Wort sprechen: »der Wahn, das Volk gehöre dem Könige, die Kirche und das Heilige dem Papste und den Geistlichen, wie ihr sie nennt – beginnt in der Welt ausgepfiffen zu werden.«

Hier wieder indes verfällt Milton seinem tragischen Lose, daß in den Ursachen seiner Größe zugleich die letzten Gründe seiner Irrtümer enthalten sind. Dieselbe Kraft und Innigkeit des religiösen Glaubens, welche allein ihn und seine Genossen befähigte, den Despotismus zu Boden zu schlagen, stürzte ihn auch in die entsetzlichen Lehren des jüdischen Rechts der Rache. Milton hat allerdings, wie Cromwell, die ganze schreckliche Verkettung der Umstände gewürdigt, welche für die Sicherung der Freiheit kaum einen andern Ausweg offen ließ, als die Hinrichtung des Königs. Aber der Beweggrund, welcher seinen Entschluß wirklich bestimmte, war ersichtlich seine tiefe Überzeugung von der Wahrheit der hebräischen Lehre »Aug' um Auge, Zahn um Zahn«. Dieser glänzende Geist dachte im Grunde der Seele nicht anders als jene gottseligen Dragoner, welche das Parlament bestürmten, »den Blutmann Karl Stuart zur Rechenschaft zu ziehen für das vergossene Blut«. – Die Anhänger des konstitutionellen Königtums waren vorderhand verstummt; nur die feilen Verfechter des frivolen Absolutismus traten dem Dichter entgegen. Was Wunder, daß Milton, solchen Feinden gegenüber, in eine streng republikanische Richtung hineintrieb? Er verdammt jetzt schlechthin die Monarchie. Unter den Menschen ragt kein Geschlecht durch seine Tugenden so unzweifelhaft hervor, wie unter den Pferden die Rasse von Tutbury; unter Gleichen aber – schon Aristoteles sagt es – darf keiner herrschen. Daß gerade die schreiende Ungleichheit unserer Bürger, die Macht unserer sozialen Gegensätze die Monarchie notwendig hervorruft – die Bedeutung dieser verwickelten wirtschaftlichen Tatsache vermag der starre moralische Rigorismus des Puritaners nicht zu begreifen. Er erklärt jede Staatsverfassung kurzerhand aus dem Volkscharakter; lebt ein Volk in einem unfreien Staate, so fehlt ihm eben jener edle Mut, welcher die Freiheit mit der Armut dem behaglichen Luxus der Knechtschaft vorzieht.

Um dieser tief sittlichen Auffassung des Staates willen stehen Milton und alle die protestantischen Verteidiger der Volkssouveränität, welche die britischen Dissidenten gern als die » liberty authors « anführen, hoch über den Jesuiten, den Suarez und Mariana, welche dem Wortlaute nach eine sehr ähnliche Lehre verfochten, aber ohne Glauben an die sittliche Würde, an das selbständige Recht des Staats, lediglich Zum Zwecke der Herrschaft der Kirche über den Staat. Selbst jene milden Freidenker, welche später, gehoben durch den glücklichen Erfolg der zweiten Revolution, für Englands Volksrechte stritten, selbst Locke und seine Schüler haben zwar die Probleme der Staatslehre mit dem Lichte einer unvergleichlich reicheren Erfahrung erhellt; aber wie weit bleibt ihr mattherziger Versuch, das Gefühl an die Stelle der Tugend zu setzen, zurück hinter Miltons mannhafter sittlicher Strenge! Wieder und wieder mahnt der blinde Seher seine Landsleute, daß es in ihrer Hand liege, die ungeheure Umwälzung sittlich zu rechtfertigen. »Wenn ihr jetzt nicht alles von euch abweist, was klein und niedrig, wenn ihr jetzt nicht all euer Denken und Tun auf das Große und Erhabene richtet, dann ist jedes Schmähwort des Salmasius bewährt!« Die Tyrannei trachtet, die Bürger möglichst schafmäßig im Geist und Willen zu machen; ein freies Volk aber soll den Tyrannen im eigenen Busen niederkämpfen und den Staat also gestalten, daß er Einem großen Christenmenschen gleiche.

Es läßt sich nicht verkennen: Miltons schwungvoller Idealismus, weil er so hoch denkt von dem Wesen des Staats, vermag nicht die Aufgabe des Staats in festen Grenzen zu halten, er vermengt Recht und Sittlichkeit, er führt in die moderne Politik antike Begriffe ein, welche die soziale Freiheitsliebe der Neueren niemals ertragen wird. Jeder scharfe Kopf mußte fragen, wie denn der Staat eine so ausgedehnte erziehende Gewalt üben könne, wenn es wirklich – wie Milton meint – nur eine religiöse Sittlichkeit gibt, die Religion aber dem Staate nicht unterworfen ist. Sehr erklärlich also, daß der geistreichste Gegner der Puritaner, Thomas Hobbes, mit der souveränen Verachtung eines mathematischen Kopfes auf die Widersprüche der Miltonischen Lehre herabschaute. Zu dem Streite des Salmasius mit Milton meinte er in seiner grimmigen Weise, er wisse nicht, bei welchem von beiden die schönere Sprache und die schlechteren Gründe zu finden seien. Wie viel folgerichtiger wußte Hobbes seine Staatslehre auszuführen, indem er dem alles verschlingenden Leviathan, dem Staate, die ausschließliche höchste Entscheidung über alle menschlichen Dinge zuwies: »gut und böse, heilig und teuflisch ist, was die Staatsgewalt dafür erklärt.« Der Verfechter der schrankenlosen Staatsallmacht dachte ebenso niedrig, materialistisch von der menschlichen Natur, wie Milton vornehm, idealistisch; die beiden redeten zwei Sprachen, Jede Verständigung zwischen den zwei größten politischen Denkern, welche England damals besaß, war unmöglich. Das mochten sie selber empfinden, sie haben beide weislich vermieden, sich miteinander zu messen.

Am letzten Ende liegt die welthistorische Bedeutung Miltons darin, daß er kühner, eindringlicher, denn irgend einer zuvor, die Freiheit als ein angeborenes Recht der Völker verkündete, während die Völker noch immer nach mittelalterlicher Weise hergebrachte Freiheiten als einen privatrechtlichen Besitz verteidigten. Insofern war der Dichter wirklich einer der Pioniere einer neuen Zeit, deren Morgengrauen wir heute erst schauen, und es ist erklärlich, daß noch in den Tagen der heiligen Allianz ein Übersetzer der defensio in der Schweiz hart bestraft ward. Er selber kannte die Größe seines Wirkens. »Mir ward auferlegt, ruft er, eine edlere Pflanze als jene, die Triptolemus von Land zu Lande trug, von meiner Heimat aus unter den Völkern zu verbreiten, eine freie und bürgerliche Menschensitte in den Städten, den Reichen, den Nationen auszusäen.«

Mit schöner Schwärmerei schaute Milton auf den Helden, welchem er nun diente. Seit Cromwell das Ruder der Republik ergriffen, sah die Welt endlich wieder eine wahrhafte Politik der Ideen. Nach innen freilich konnte das kühne Gebäude der Republik nur durch eine eiserne militärische Zucht vorläufig und notdürftig gestützt werden. Man bewegte sich in der unfruchtbaren, rein negativen Staatskunst eines Gemeinwesens »ohne König und Oberhaus«. Denn gar zu gewaltsam war der Zusammenhang einer uralten Verfassung zerschnitten, gar zu sehr entfremdet waren die Herzen der Stände, welche die Selbstregierung der Grafschaften vorzugsweise tragen, und gar zu schmerzlich vermißten die geängsteten Gemüter der Menschen in der strengen Ordnung des Freistaates jene belebende Kraft, deren auch der Staat nimmer entbehren kann – die Freude, den harmlos-fröhlichen Genuß der Stunde. Um so großartiger und freier entfaltete sich des Protektors Politik nach außen: der Protestantismus hatte wieder einen gewaltigen Schirmherrn gefunden. Die Staatsschriften, welche Milton im Dienste dieser erhabenen Staatskunst schrieb (ein Teil der unter dem Namen Epistolae Pseudosenatus Anglicani bekannten Sammlung), fesseln nicht bloß durch ihr klassisches Latein, sie reden auch eine Sprache voll Kraft und Wahrheit, welche wie voller mächtiger Glockenklang das dürftige Gezwitscher des »möchte« und »dürfte« gemeiner diplomatischer Redeweise übertönt.

Cromwells Hoffnung war, »den gesamten protestantischen Namen in brüderlicher Eintracht zusammenzuknüpfen« und diese gesammelte Macht dem Hause Habsburg entgegenzustellen. Unermüdlich mahnte Milton den großen Kurfürsten von Brandenburg zum Frieden mit Schweden, die Lutheraner und Calvinisten Deutschlands zum Beilegen des Brüderstreits. Alle protestantischen Höfe rief er in die Schranken zum Schutze der verfolgten Waldenser; ihm schwoll das Herz von Grimm – ein schönes Sonett bezeugt es – wenn er diese ehrwürdige Heimat der Ketzerei mißhandelt sah, »dies Volk, das schon den wahren Gott bekannte, als unsre Väter noch vor Klötzen knieten«. So glänzend hatte der Inselstaat seit langem nicht dagestanden als jetzt, da Cromwell durch gebieterische Drohungen den Papst zur Herausgabe englischer Schiffe zwang und von dem Könige von Spanien seine »beiden Augen« – Abschaffung der Inquisition und freien Handel in Westindien – forderte. Freilich, diese protestantische Tendenzpolitik erschien zu spät. Schon begannen andere, rein politische Gegensätze die Welt zu erschüttern, schon hatte die Freiheit Europas mehr zu fürchten von dem begehrlichen Frankreich als von dem tief gedemütigten Spanien, und der große Kurfürst wußte wohl, warum er in dem protestantischen Schweden seinen Todfeind sehen mußte. Reiche, angeregte Stunden verlebte Milton an dem Hofe des letzten Helden des Protestantismus im Verkehre mit Waller, Georg Wither und Selden; dann und wann erschien Cromwell mit der Lady Protectreß in Miltons Hause und lauschte dem Orgelspiele des Dichters. Und doch lebte man in schwülen Tagen. Nie hatte das englische Volk die Herrschaft eines ruchlosen Königs so unruhig getragen wie das Regiment seines größten Beherrschers. Die Aufstände wollten sich nicht legen, das Pamphlet Killing no murder verlangte die Ermordung des Protektors. Und bald ist Milton selbst, wie es scheint, irr geworden an seinem Helden. Von jenen wüsten Träumern freilich, welche das Nahen des Tausendjährigen Reiches erwarteten, schied den eleganten Gelehrten schon sein guter Geschmack. Aber der die Wiedergeburt der antiken Freistaaten gehofft hatte, vermochte sich nicht zu befreunden mit der Fortdauer der Diktatur. Er begann den Staatsmann nicht mehr zu verstehen, welcher den Mut hatte, das Notwendige zu wollen, und das Königtum, das unentbehrliche, neu zu gründen trachtete.

Seinem republikanischen Staatsamte ist der Dichter bis nach Cromwells Tode treu geblieben; und auch in den politischen Federkrieg trat er wieder ein, als die Zügel des Regiments, den schwachen Händen Richard Cromwells entgleitend, schlaff am Boden hingen, als der Freistaat verlassen ward von dem Glauben des Volkes, und immer lauter und zuversichtlicher der Ruf der Kavaliere erklang: the king shall rejoice his own again . Da erfüllte sich Miltons Prophetenwort: die Briten waren »unversehrt durch das Feuer gegangen, um dann an dem Qualm zu sterben«. Keine Spur der harten Tugenden, welche das gefährdete Gemeinwesen heischte: überall die verzweifelte Müdigkeit, die der Anspannung ungeheurer Taten zu folgen pflegt. In offenen Briefen und in der Schrift »der mögliche und leichte Weg, ein freies Gemeinwesen herzustellen« stritt Milton als der Letzte für die »gute alte Sache«. Nach der Weise solcher hellsehenden Naturen im einzelnen irrend, aber im großen und ganzen untrüglich, meinte er einen glatten Heuchler wie Monk durch den Hinweis auf die sittliche Reinheit der Republik zu rühren, und zugleich sprach er die tiefsinnigen Worte, daß ein zurückkehrendes Königtum die schlimmste der Gewaltherrschaften sei, daß Englands Volk noch einmal für sein Recht werde bluten müssen.

Eben jetzt, da die kleinen Menschen an dem Gemeinwesen verzweifelten, erhob sich sein Idealismus zum verwegensten Fluge. War nicht mit Cromwells Tode die Gefahr der Tyrannis verschwunden und die Möglichkeit gegeben, den Staat nach den höchsten Anforderungen protestantischer Freiheit umzugestalten, eine feste Burg des Protestantismus, ein westliches Rom zu gründen? Et nos consilium dedimus Sullae, demus populo nunc , schrieb Milton und entrollte den Plan seines Staatsideals. Alle Standesunterschiede sollen schwinden, vornehmlich muß die Anhäufung des Grundbesitzes in wenigen Händen, welche die normannische Eroberung verschuldet, durch eine Äckerverteilung vernichtet und also der Schwerpunkt des Staats, der Mittelstand, gestärkt werden. Unbedingte Freiheit des Glaubens, des Wissens, des Verkehrs. Aber mit nichten wollte Milton, der auf die Masse mit dem vornehmen Stolze aller feineren Geister herabschaute, daß diese demokratisierte Gesellschaft auch demokratisch regiert werde. Auch er bewunderte jene seegewaltige Republik des Protestantismus, welche Cromwell durch einen ewigen Bund mit England zu vereinigen dachte. Ein lebenslänglicher Senat, ähnlich den Generalstaaten im Haag, sollte den verjüngten Freistaat regieren, Großbritannien sollte sich umgestalten zu einem Bunde freier Provinzen und Gemeinden nach dem Muster der Vereinigten Niederlande, nur mit einer ungleich stärkeren Zentralgewalt. Noch niemals waren die demokratischen Ideen des Calvinismus so kühnlich durchgeführt worden. Doch dies königliche England war nicht gesonnen, den Träumen seines Dichters zu lauschen. Erst hundert Jahre später, unter den Männern, die ihren puritanischen Glauben über das Weltmeer gerettet, trat das Staatsideal des Independenten ins Leben; aber auch die Union von Nordamerika hat jenen Adel der Geistesbildung nicht entfaltet, welchen der Dichter von der vollendeten Demokratie erwartete. Das waren die letzten Worte der sterbenden Freiheit. Milton selber verglich sich dem Propheten, der von den tauben Menschen sich abkehrend die schweigende Welt anruft: »O Erde, Erde, Erde!« Höher und höher schwoll »die Sündflut dieses epidemischen Wahnsinns«, man hatte die traurigste der Künste gelernt, die ein Volk niemals lernen soll, die Kunst, das Unwürdige zu vergessen. Ohne jede Bedingung ward der Staat einem Stuart ausgeliefert, »auf den Knieen ihrer Herzen« begrüßen die Gemeinen von England den legitimen König. Die »Rückkehr nach Ägyptenland« war vollbracht. Das Volk, entledigt des puritanischen Zwanges, tanzte jubelnd um das goldene Kalb, und in den Ratsälen der Cromwell und Bradshaw tummelte sich die Gemeinheit eines verwilderten Hofes. Als jetzt das Gericht der Rache verhängt ward über die großen Rebellen, als man die Leiche des Protektors aus dem Grabe riß, da ward auch Milton von den Verfolgern ereilt. Am 16. Juni 1660 verbrannte der Henker die defensio , und nur der Verwendung einflußreicher Freunde gelang es, den bereits verhafteten Dichter zu befreien. Aber wenn man meinte, der verstockte Rundkopf werde sich freuen, so billigen Kaufes zu entkommen, so kannte man wenig den unbeugsamen Rechtssinn des Mannes: nicht eher schied er aus dem Gefängnis des Hauses der Gemeinen, als bis er eine Klage eingereicht gegen den serjeant at armes , welcher ihm zu hohe Gebühren angerechnet.

Und nun stand der Letzte der Puritaner allein, das England Karls II. hatte keinen Platz für einen Milton. Alles, was ihm heilig, war ein Spott der Buben geworden, und jene wunderbare Fügung, welche unter die Herrschaft des verächtlichsten Königs den Beginn des gesicherten konstitutionellen Regiments in England verlegte – er sollte sie nicht mehr erkennen. Den ganzen Schmerz eines Patrioten, der an der Würde seines Volkes verzweifelt, legte er nieder in den trostlosen Worten eines Briefes an einen Freund: »Meine kindliche Liebe zum Vaterlande hat mich endlich ohne ein Vaterland gelassen.« War es möglich, baß ein römischer Bürger das Verderben seines Landes über den Freuden seines Hauses vergessen konnte, so sollte Milton auch dieser Trost versagt bleiben. Häusliches Unglück, das Los der meisten großen Dichter Englands, war auch das seine. Seine ungetreue Gattin hatte nach mehrjähriger Abwesenheit endlich zu Miltons Füßen sich niedergeworfen und die Verzeihung des Sanftmütigen erfleht. Dann waren die beiden bis zu Marys Tode nebeneinander hingegangen, ohne daß ihre Seelen sich fanden. Darauf, in den Tagen seines politischen Wirkens, ward ihm das Glück, in Catharina Woodcock ein Weib nach seinem Herzen zu finden – doch nur für ein kurzes Jahr. Wie oft ist dann die liebliche Gestalt der Toten mit ihrem gütigen Lächeln durch seine Träume geschritten, bis ein trauriges Erwachen ihn zurückführte in die kalte Nüchternheit seiner Vereinsamung: »ich wache – und der Tag bringt meine Nacht zurück.« Endlich ließ sich der fünfzigjährige hilfsbedürftige Blinde durch das Zureden seiner Freunde zu einer dritten Heirat bewegen. Den der gewaltige Wechsel der Völkergeschicke zu Boden geschmettert, er sollte jetzt noch durch die Nadelstiche alltäglicher kleinlicher Leiden gepeinigt werden. Die rohe, derbe Haushälterin Elisabeth Minshull blieb seinem Herzen ebenso fremd, wie die unholde Kälte seiner älteren Töchter. Und wie sehr mußte er den etwas willigeren Gehorsam seiner jüngsten Tochter Deborah ausbeuten, wenn er sie die unverstandenen griechischen Werke vorlesen ließ oder ihr buchstabenweise seine lateinischen Briefe diktierte. Sein Vermögen war in den Wirren des Bürgerkrieges verloren, sein Haus von dem großen Londoner Brande vernichtet worden. Nur einige armselige Gesellen, wie der Quäker Elwood, wagten noch den gemiedenen Puritaner aufzusuchen, wenn er abends im ärmlichen Zimmer seine Tonpfeife rauchte. Am schwersten aber lastete auf seiner tatenlustigen Natur das Gefühl seines Leibesgebrechens. Wenn die verzärtelte Prüderie der Gegenwart dem Dichter gern das Reden über höchst-persönliche Leiden untersagen möchte, so empfand Milton bei allem Stolze viel zu einfach und sicher, um sich die natürlichste der Klagen zu verbieten. Sein Sonett » on his blindness « gehört zu den schönsten Klageliedern aller Zeiten: auf die vorwurfsvolle Frage, warum sein Pfund so frühe sich vergrabe, findet der fromme Poet die tröstliche Antwort, daß der Herr in seinem königlichen Haushalt tausend bereite Diener habe,

und die nur stehn und harren, dienen auch.

Freilich, wie verstand sein feuriger Geist dies »stehn und harren«! Ein Teil seiner selbst geworden war das freudigste aller Bibelworte: »daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten gereichen.« Auch er, wie alle edleren Naturen, ward durch das Körperleid geadelt, gehoben. Eine Zeit der Schande war gekommen, da jedes ernste, fromme Wort den Schriftsteller in den Verdacht rebellischer Gesinnung brachte. Abermals, und frecher noch als unter Karl I., ward die Unzucht der Bühne vom Hofe begünstigt. Weder Drydens zierliche Reime, noch jene unflätigen Späße, womit Butler in seinem Hudibras die geschlagenen Puritaner bewarf, konnten den Kopf eines Milton beschäftigen. Aus dieser Welt der Flachheit und Gemeinheit flüchtete er unter die unvergänglichen Schätze, die er seit langem im Geiste trug. In den stillen Stunden einsamer Sammlung fühlte er die Kräfte seiner Seele wachsen; laut und lebendig in ihm wurden der Geist der Bibel und die Nachklänge jener großen Dichterwerke, welche die Liebe seiner Jugend gewesen. Während sein leibliches Auge geschlossen war, schwebten vor seiner Seele die reinen Gestalten einer höheren Welt und mahnten ihn, sie festzuhalten. So wurden ihm die Tage körperlicher Leiden, häuslichen Kummers und staatlichen Elends verklärt von einem Glücke, das seinen sonnigsten Jugendtagen so schön nicht gelächelt hatte. Allnächtlich – er selber erzählt es – erschien vor seinem Lager seine Muse, der Geist Gottes, und hauchte ihm himmlische Melodien zu. Der alternde Milton schuf das Verlorene Paradies, und mit gerechtem Stolze durfte er sich selbst der Nachtigall vergleichen, die im Dunkel am herrlichsten singt.

Fünfundzwanzig Jahre lang hatte das Feuer unter der Asche geschlafen, das jetzt in hellen geläuterten Flammen hervorbrach. Nur selten hatte er die harte politische Arbeit unterbrochen und eines jener Sonette hingeworfen, welche darum so tief und unvergeßlich wirken, weil in ihnen der lange verhaltene Strom politischer Empfindung mit gesammelter Kraft hervorbricht. Eine alte Schuld war einzulösen, denn wiederholt war in seinen prosaischen Schriften verkündet, daß er sich mit dem Plane eines großen Epos trage. Wenn andere, ausschließlicher als er für das Schöne geschaffene, Künstler sich weislich hüteten, den Zauber vorlaut zu stören, der über einem werdenden Gedichte wacht, so hatte Milton solche Vorsicht nicht nötig. Die Aufgabe des Dichters war ihm nicht wesentlich verschieden von dem Berufe des Predigers: »er soll die Tugend und öffentliche Gesittung in den Massen pflegen, die Unruhe des Herzens stillen und die Leidenschaften in harmonischen Einklang bringen.« Um einen Gentleman in Tugend und Edelmut zu erziehen, versichert Milton, ist unser weiser und ernster Dichter Spenser ein besserer Lehrer als Scotus oder Thomas von Aquino. – Man darf in dieser Meinung nicht bloß die moralisierende Befangenheit des Puritaners sehen. Wenigstens Eine Eigentümlichkeit der Kunst ist damit aufs klarste erkannt: die wunderbare Tatsache, daß die Kunst, indem sie ein Äußerliches darstellt, dennoch den Menschen sammelt und auf sich selber zurückführt, während das Äußerliche der Wirklichkeit uns zerstreut. In diesen Aussprüchen Miltons über den Beruf des Dichters besitzen wir einen Schlüssel, der uns das Verständnis des Paradise lost besser erschließen wird, als der jedes theologische Gedicht verwerfende Christenbaß der Enzyklopädisten, oder die bornierte Salbung jener englischen Kritiker, welche, um das »christliche« Gedicht recht hoch zu erheben, allen anderen Dichtern nur eine uninspired inspiration zuerkennen.

Wie unendlich viel hatte doch das englische Leben an Farbenpracht, an Lebenslust und kerngesunder Freude in dem halben Jahrhundert zwischen Shakespeares und Miltons Tagen verloren! Nie bewährte sich umbarmherziger und schneidender das traurigste und tiefsinnigste der historischen Gesetze, wonach jeder Fortschritt der Völker zugleich notwendig einen Verlust enthält. Der protestantische Glaube war ein Gemeingut des Volkes geworden; aber so gänzlich war in dem besseren Teile der Nation die alte glückliche Lust am künstlerischen Spiel erstorben, daß ein Genius wie Milton in die embryonische Form der Allegorie zurückfallen konnte, wenige Jahre, nachdem sein Volk das vollendete Kunstwerk des Dramas geschaffen! Und so gänzlich hatte frostige Gelehrsamkeit unter den Puritanern die heitere Natürlichkeit der Sitten bewältigt, daß Milton es noch für nötig hält, das Dichten in englischer statt in lateinischer Sprache ausdrücklich zu entschuldigen! Verschwunden war das merry old England der jungfräulichen Königin, vollzogen jene harte Ernüchterung des Volkscharakters, welche noch heute Englands Epos und Drama in dem engen Kreise des Sittenbildes festgebannt hält. Wie später Byron – der einzige englische Dichter, der nach Milton den Mut fand, den Kothurn zu führen – zu solcher Kühnheit nur durch das Beispiel der deutschen Muse begeistert worden ist, so ward Milton nur auf den Flügeln der Religion, der biblischen Dichtung über die prosaische Kälte seiner Zeitgenossen emporgehoben.

Es konnte nicht fehlen, eine Richtung, so überschwenglich reich an geistigen Kräften, wie der Protestantismus, mußte auch nach künstlerischer Verklärung ihrer Ideen streben. Bereits hatte Shakespeare in Gestalten von unerreichter Großheit jene sittliche Weltanschauung des Protestantismus verkörpert, welche den Schwerpunkt der Welt in das Gewissen verlegt, die Idee der Pflicht über alle andern stellt. Doch solche echte dramatische Kunst, von Grund aus sittlich und dennoch sinnlich schön, konnte dem konfessionellen Eifer einer religiös hochaufgeregten Epoche nimmermehr genugtun. Die junge Kirche bedurfte einer religiösen Dichtung, welche der Stimmung der gläubigen Gemüter hinreißenden Ausdruck gab, die Glaubenswahrheiten des gereinigten Christentums verherrlichte. Wunderbar glücklich entsprach diesem Drange das deutsche Kirchenlied – das Herrlichste, was die spezifisch-religiöse Poesie der Evangelischen aufzuweisen hat, denn nur die Lyrik vermochte dem spiritualistischen, durchaus unsinnlichen Wesen des Protestantismus gerecht zu werden. Aber nicht umsonst lebte man in einer gelehrten Epoche. Hatten die Heiden des Altertums ihre falschen Götter in Epen und Dramen verherrlicht, so sollte auch die religiöse Poesie der Protestanten diesen höheren Flug wagen. Der edle Hugenott Salluste du Bartas war der erste, der dies widerspruchsvolle Unternehmen versuchte. Sein Epos La Semaine de Création besang die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte – ein Werk voll hohen sittlichen Ernstes, an einzelnen Stellen schwungvoll, doch im ganzen prosaisch, lehrhaft, ein dem modernen Leser unerquickliches Gemisch von christlicher Moral und klassischer Mythologie, worin der Herr Zebaoth friedlich neben Venus und dem paphischen Bogenschützen prangt. Das Gedicht fiel zündend zur rechten Stunde mitten hinein in die Erregung der Hugenottenkriege. Mit überschwenglicher Bewunderung dankten die Streiter Gottes ihrem Sänger. Er war der »Fürst der französischen Dichter«, sie verhießen ihm au lieu, d´un mort laurier l´immortelle couronne und bezeichneten also mit unbewußter Ironie die Zwitternatur seiner Dichtung. Dem gefeierten Vorgänger folgten glaubenseifrige Dichter in allen Ländern des Calvinismus – alle überragend Hugo Grotius mit seinem Christus patiens und andern lateinischen Tragödien aus der heiligen Geschichte.

Auch Milton lebte des Glaubens, daß ein biblischer Stoff »ein heroischerer Gegenstand sei als der Zorn des Achilles.« Alle Pläne weltlicher Dichtung, die er vorzeiten gehegt, stieß er von sich. Dem Höchsten sollte jetzt sein Dichten gelten. Um Beistand und Erleuchtung rief er an »den Geist des Herrn, der mit gespreizten Schwingen gleich einer Taube ob dem Chaos schwebte – den Geist, dem ein aufrechtes, reines Herz willkommener ist als stolzer Tempelbau«. Und nicht durch einen Zufall lenkte sich der Sinn des harten Puritaners auf eine Erzählung aus dem Alten Bunde. Aus dem milderen Neuen Testamente hat nur Eine Schrift seinen Dichtergeist mächtig erregt – die Offenbarung Johannis; sie fesselte ihn durch ihren phantastischen Schwung und durch ihren starren judenchristlichen Fanatismus. Von allen Mythen des Alten Testaments wählte er den schrecklichsten: wie durch den Fall der ersten Menschen der Tod in die Welt kam – und nur kurz verkündet in den letzten Gesängen der Engel des Herrn die Botschaft der Versöhnung, daß »ein größerer Mensch« erscheinen und das verlorene Paradies wiederfinden werde. – Wenn die theologische Einseitigkeit der Briten, sogar eines Hallam, in diesem Stoffe, welcher jeden Nichtgläubigen kalt läßt, das menschlichste Thema aller Dichtung finden will, so können wir nicht entschieden genug betonen, daß das Paradise lost ein symbolisches Werk ist. Milton schafft nicht Bilder, in denen eine Idee ungesucht ihren vollkommenen Ausdruck findet, sondern seinen Bildern hat der religiöse Glaube eine ihnen ursprünglich fremde Idee untergeschoben.

Er war zu sehr Dichter, um gleich seinem trockenen Freunde Harrington einen puritanischen Staatsroman zu schreiben, aber er war zu sehr Theolog, um ein reines Epos zu schaffen. Sein Zweck ist didaktisch, er will

die Wege Gottes dieser Welt erklären
und Zeugnis geben von der ew'gen Vorsicht.

Wahrend die naiven Epiker der Alten den Helden zuerst nennen, dem ihre Gesänge gelten, bekennt der Dichter des Verlorenen Paradieses gleich in der Anfangszeile den abstrakten Inhalt seines Gedichtes: of man´s first disobedience etc. Der harte Sohn eines Jahrhunderts der Kriege, will Milton seine Leser aus dem dumpfen Genußleben des Alltagslebens emporreißen zu der grandiosen Vorstellung, daß die Geschichte der Welt anhebt mit dem Kampfe Gottes wider den Bösen. In der katholischen Zeit hatte der Volksglaube seine derben Possen getrieben mit dem dummen, dem geprellten Teufel. Seit Luther erschien der böse Feind als eine beängstigende, schreckliche Macht. Milton war der erste Dichter, der diesem finsteren Teufelsglauben der Protestanten einen erhabenen Ausdruck gab. Vor seiner Seele schwebten die Bilder der Apokalypse von dem Kampfe der Seraphim mit den gefallenen Engeln: »Michael und seine Engel stritt und der Drache stritt und seine Engel.« Er macht Ernst mit den Ideen der Zend-Religion, welche das Judentum in sich aufgenommen. Ihm ist der Teufel der Ahriman, der Fürst der Finsternis. Die Fülle des Wissens und des Könnens leiht er seinem Satan, also daß der jüngere Pitt an der prachtvollen Rhetorik dieses Höllenfürsten sein Rednertalent schulen konnte. Herrliche Worte des Titanentrotzes, unbeugsamer Willenskraft läßt der Sänger seinen Teufel sprechen, und es ist bekannt, wie oft besiegte Helden im Unglück sich an dem unbezähmbaren Mute des Miltonischen Satan erhoben und getröstet haben; dem frommen Dichter aber erschien der Heldenmut, der nicht dem Himmel dient, als das schlechthin Böse. Er kann sich kaum genug tun in der Schilderung der finsteren Herrlichkeit der Hölle. Thrones, Dominations, Princedoms, Virtues, Pow´rs redet Satan die Fürsten des Pandämoniums, die Millionen der Dämonen mit den flammenden Schwertern an. Wohl wird der König der Finsternis zu Schanden vor dem Herrn der himmlischen Heerscharen, und der Fluch, welcher auf Adams Samen haftet, wird hinweggenommen durch den Gottessohn, der das Nahen des himmlischen Reiches verkündet. Aber noch wird die Jahrtausende hindurch die Sünde eine Macht sein unter den Menschen, klein die Zahl der Treuen, die inmitten des Abfalls und der Bosheit zu dem Herrn halten und hienieden schon die Seligkeit des göttlichen Friedens genießen. Und nun zieht der Dichter mit dem ungeheuren Stolze selbstgewisser Tugend die gesamte Menschengeschichte vor seinen Richterstuhl und scheidet die Böcke von den Schafen, spendet durch den Mund seines Engels Segen und Fluch. Erbarmungslos geht er ins Gericht mit seinen Zeitgenossen. Die spitzfindigen Dogmatiker der Hochkirche, die gewandten, gottlosen Künstler des Königsschlosses von Whitehall sitzen zu den Füßen Satans in Miltons Hölle. Die Frechheit der entfesselten Begierde, die am Hofe Karls II. ihre Orgien feierte, geht gräßlich zu Grunde in der Sintflut, die der zornige Herr über die entartete Welt ergießt. Wahrlich, mild ist sie nicht, die Muse des Puritaners. Nach alledem wird deutschen Lesern einleuchten, daß das Verlorene Paradies ein echtes Epos nicht ist. In der Tat, das siebzehnte Jahrhundert, in welchem gewaltige Gegensätze des staatlichen und des kirchlichen Lebens in bewußtem Kampfe aufeinander prallten, war himmelweit entfernt von jener Einfachheit und naiven Unmittelbarkeit der Empfindung, welcher die epische Dichtung entströmt. Nur mit Wehmut können wir das Los des zu spät geborenen großen Dichters betrachten. Nicht einmal von dem Beifalle seiner Glaubensgenossen ward er getragen. Wenn die Helden der Hugenottenkriege den Sänger der »Woche der Schöpfung« auf den Schild hoben, so stritt Milton für eine leidende Sache. Er stand

in argen Tagen, unter bösen Zungen,
blind, einsam, von Gefahren rings umdroht,
doch nicht allein.

Noch in einem tieferen Sinne ist das Verlorene Paradies ein zu spät geschaffenes Werk, ein Anachronismus. Der protestantische Glaube kann und darf keine Mythen bilden, und auch Milton ist an diesem Versuch gescheitert. Wenn die unvollkommenen Götter des Homer, die in Milton den gleichen prosaischen Unwillen hervorriefen wie in Platon, unsere volle menschliche Teilnahme herausfordern, so sind die reinen religiösen Begriffe des Christentums poetisch ganz wertlos. Denn was wir blöden Sterblichen so gern als den Fluch unseres Geschlechtes beklagen, die Schwäche, die Beschränktheit unserer Kräfte – das ist in Wahrheit der Kern alles Lebens. Statt geistlos nachzubeten, was Englands Essayisten uns vorgesagt, sollen wir ehrlichen deutschen Ketzer uns ein Herz fassen und grad' heraus bekennen: dem Satan Miltons, seinen Kämpfen und Sünden folgen wir mit dem lebendigsten Mitgefühle, aber kalt und teilnahmlos blicken wir auf den poetischen Gott Vater und Gott Sohn, die nicht fehlen, nicht irren, alles wissen und dennoch kämpfen, deren unfaßbares, zwischen Besonderheit und Allgemeinheit hinschwankendes Wesen mit Gewalt die prosaischen Bedenken der Logik, das monumentale o omnis determinatio est negatio in uns wachruft.

Nicht ungestraft verachtete Milton die Sinnlichkeit, welche dem Dichter ist was den Fischen das Wasser. Sein Bemühen, das Unsinnliche, das Ewige poetisch zu gestalten, mußte oft scheitern, ja, dann und wann in das Komische umschlagen: so wenn Adam dem Gott Vater die Langeweile seiner Einsamkeit klagt, und dieser erwidert: »was denkst du denn von mir, der ich in Ewigkeit allein bin?« Auf den ersten Blick mag es scheinen, als böte eine Welt, wo alles Wunder ist, der Phantasie ungeheuren Spielraum. Doch schauen wir schärfer zu, so waren auf dem Gebiete der christlichen Mythologie der schöpferischen Kraft des Dichters sehr enge Grenzen gesetzt. Dem bibelfesten Protestanten ist es schwerer, trockner Ernst mit seinem Glauben; selbst den Wortlaut der Heiligen Schrift sieht er nicht gern durch dichterische Änderungen gestört. Wir würden dies noch stärker empfinden, wäre das Paradise lost in deutscher Sprache geschrieben. Die lutherische Bibelübersetzung ist mit unserem Volke gewachsen und wir mit ihr; wer als Kind die herzerschütternden Worte der lutherischen Bibel in seine Seele aufgenommen hat, der überwindet nie gänzlich das Gefühl des Befremdens, wenn ihm die biblische Weisheit in poetischer Umbildung entgegentritt. Auch Milton selber hätte es für eine Blasphemie gehalten, die Glaubenslehren der protestantischen Kirche aus ästhetischen Gründen umzugestalten. Die theologischen Fanatiker Englands sind in ihrem guten Rechte, wenn sie den Dichter wegen seiner arianischen Lehren verketzern; denn allerdings, wäre Milton nicht als ein Arianer überzeugt gewesen, daß kein Zeilchen in der Bibel von der göttlichen Natur Christi rede, nimmermehr hätte er in seinem Gedichte den Gottessohn als einen Menschen dargestellt. Nun aber ist jeder Dichter notwendig Polytheist; schon Goethe gestand dies mit jener edlen Unbefangenheit, welche unsere frommen Leute »heidnisch« nennen. Auch Milton fühlte die Notwendigkeit, den öden protestantischen Himmel zu bevölkern. Die katholischen Heiligen verwarf sein evangelischer Eifer; so blieben ihm nur die Gestalten der Engel und Teufel und einige allegorische Figuren wie »Urania und ihre Schwester, die himmlische Weisheit« – frostige Abstraktionen, welche durchaus den Eindruck lebloser Maschinerie hinterlassen. Ja selbst das Los des ersten Menschenpaares wird durch das Einwirken überirdischer Mächte der menschlichen Teilnahme entrückt. Nur für frei handelnde Menschen empfinden wir Mitgefühl. Wenn aber Gott Vater zu Adam spricht: Alles ist vorher bestimmt, und dennoch deiner freien Wahl anheimgestellt – so erweckt der Dichter philosophische Zweifel, die jedes ästhetische Interesse ersticken. Desgleichen, daß Ein geringfügiger Ungehorsam grenzenlosen Jammer über die Menschheit bringt, ist, als freie Erfindung betrachtet, widersinnig und muß, je nach der Stimmung des Lesers, Gelächter oder Empörung erregen; nur der religiöse Glaube führt über diese Widersprüche hinweg. Mögen also die englischen Eiferer und jene Deutschen, welche die Geistesfreiheit unseres Volkes wieder zu der Beschränktheit englischer Rechtgläubigkeit zurückzuführen denken – mögen sie immerhin versichern, es gehe bei dem »HErrn« des blinden Dichters »gar zu menschlich« her! So Dr. L. Wiese, Miltons Verlorenes Paradies. Berlin 1863. Der unverbildete Schönheitssinn unseres Volkes wird sich nicht wieder von der goldenen Wahrheit trennen, daß die Poesie nur das Menschliche darstellen kann und Miltons Epos ebendeshalb keine ungetrübte Freude erregt, weil diese übersinnliche Welt zu wenig menschlich ist.

Und dennoch ist das Verlorene Paradies ein unvergängliches Werk, das nicht mit dem Maße der ästhetischen Theorie allein gewürdigt werden kann. Als Mulciber, der Künstler der Hölle, den Prachtbau des Pandämoniums gegründet, da – erzählt Milton – »bewunderten die einen das Werk, die andern den Meister des Werks« – eine Unterscheidung von Lessingscher Schärfe, die auch Lessings warmen Beifall fand. Wenden wir dies Wort auf Miltons Gedicht selber an, so ist kein Zweifel, daß dem Meister des Werks der größere Ruhm gebührt. Vergessen wir bei Homer den Dichter völlig über seinen Helden, so empfängt das Verlorene Paradies seinen ganzen Wert von dem erhabenen Charakter des Dichters, der hinter jeder Zeile hervorschaut. Nie wirkt Milton gewaltiger, als wenn er unter fremdem Namen sein eigenes Leben und Leiden schildert, wenn er den Noah, den Abdiel vorführt, – »der getreu erfunden ward unter den Ungetreuen, er allein getreu« – oder den Adam neben der reuig vor ihm niedersinkenden Gattin. Die schönsten Stellen des Gedichtes sind jene, wo der Dichter die Schranken des Epos geradezu überspringt, seinem lyrischen Genius die Zügel schießen und einen mächtigen Choral zum Himmel steigen laßt. Das Paradise lost ist ein Werk von wunderbarer subjektiver Wahrheit: in seiner ernsten Hoheit, seiner herben Strenge ein lebendiges Bild des heldenhaften Mannes, der, leidend für eine große Sache, noch den Mut fand, die Geschichte aller Zeiten dem Richterspruche des Puritanertums zu unterwerfen. Es ist unsterblich, als das Werk eines reinen und reichen Menschen, der selbst »die letzte Schwachheit edlerer Naturen«, den Durst nach Ruhm, lächelnd überwunden hatte und seine schöpferischen Gedanken nur noch in den höchsten und heiligsten Regionen schweifen ließ,

hoch ob dem Lärm und Qualm des trüben Punkts,
den Menschen Erde nennen.

Und nicht bloß die Person des Dichters, auch die Leiden und Kämpfe des puritanischen Englands treten uns aus den Versen des Paradise lost entgegen. Kein Gesang darin, der nicht mahnend, strafend, begeisternd auf die Nöte des Jahrhunderts wiese. Wenn Milton das Heer des Erzengels wider die Dämonen der Hölle ausziehen läßt, so meinen wir sie mit Händen zu greifen, jene »Männer, wohlgewappnet durch die Ruhe ihres Gewissens und von außen durch gute eiserne Rüstung, feststehend wie ein Mann« – jenes gottbegeisterte Heer, welchem England seine Freiheit dankt. Wir sehen vor Augen das Schlachtfeld von Dunbar, wir schauen, wie die Eisenseiten Oliver Cromwells ihr blutiges Schwert in die Scheide stecken und das Haupt entblößen und über das leichenbedeckte Feld das Siegeslied des streitbaren Protestantismus erschallt: »lobet den Herrn, alle Helden, preiset ihn, alle Völker!« Dieser Hintergrund einer großen Geschichte verleiht dem Gedichte Miltons jenen Reiz dramatischer Wahrheit, welchem auch Goethe nicht widerstehen konnte.

In diesem subjektiven Sinne ist selbst dies Werk didaktischer Kunst ein Werk harmonischer Schönheit. Denn wie oft wir auch bei den herrlichen Dialogen des Gedichts die Frage aufwerfen möchten, warum Milton nicht, seinem ersten Plan getreu, ein wirkliches Drama geschaffen, so kehren wir doch immer wieder zu der Einsicht zurück, daß ihm die Berechnung des Moments, der weltliche Sinn, die bewegliche Raschheit des Dramatikers gänzlich fehlte, daß er der tiefen Innerlichkeit seines Wesens nur in einem philosophischen Gedichte gerecht werden konnte. So wenig ein natürlich empfindender Mensch ein Gedicht zum Lebensbegleiter wählen wird, das uns fortwährend spannt und emporträgt über Raum und Zeit: so gewiß wird jeden das volle Gefühl menschlicher Kraft und Größe überkommen, der in einer trüben Stunde der Abspannung oder Verwirrung einen Gesang des Paradise lost aufschlägt, um den Heldenmut eines ganzen Mannes zu schauen, welcher »in Worten mächtiger war, als seine Feinde in Waffen«.

Haben wir so den nur bedingten – den mehr historischen und subjektiven als rein-ästhetischen – Wert des Verlorenen Paradieses begriffen, so dürfen wir um so freudiger die gewaltige Dichterkraft bewundern, welche einen widerstrebenden Stoff so sicher beherrscht. Milton hat in diesem Werke das Höchste und Edelste von allem niedergelegt, was ihm je Kopf und Herz bewegte. In poetischer Form kehren hier wieder seine Ideen über das Verhältnis des Menschen zu Gott, über die Freiheit des Willens und die Notwendigkeit eines selbsterrungenen persönlichen Glaubens. Auch der zweite Ideenkreis, der seine Mannesjahre beschäftigte, lebt hier wieder auf – seine Gedanken über das Verhältnis von Mann und Weib. An jenem unsterblichen Gesange, welcher erzählt, wie Eva – »der Himmel war in ihren Augen« – dem Manne entgegentritt, wie die beiden geschaffen waren –

he for God only, she for God in him –

an der ganzen Darstellung des ersten Menschenpaares mag man erkennen, wie warm und innig der strenge Poet von der Seligkeit der Ehe dachte. Nur leider war der alternde Dichter doch einer der wunderlichen Heiligen (das Wort scheint recht eigentlich für die Puritaner geschaffen). Er ist im stande, dicht auf die feurigsten Schilderungen die trockensten moralischen Betrachtungen folgen zu lassen – so jene Rede des Engels, welche dem Adam the rule of not too much einschärft. Er predigt geradezu, die Liebe sei erlaubt, doch nicht die Leidenschaft – was doch nur sagt, das Feuer solle nicht brennen. Milton war nicht bloß verbittert durch schwere persönliche Erfahrungen; er sah auch, wie der Übermut unzüchtiger Weiber Unheil über das Land brachte. Daß die Frauen durch den Reiz der Sinne den Mann und die ganze Welt beherrschen, war ein Lieblingsthema der schmutzigen Poesie des Tages, so der letzten Gesänge von Butlers Hudibras. Nur um so fester hielt der Puritaner seine finstere Meinung, der Mann entwürdigte sich, der das Weib als seinesgleichen gelten lasse. Endlich hat Milton auch den Kern seines politischen Nachdenkens in dem Gedichte ausgesprochen. Ganze Stellen seiner prosaischen Schriften wiederholen sich in poetischer Umschreibung, die staatliche Freiheit wird verherrlicht als die Belohnung der Tugend der Völker, und das Glaubensbekenntnis des Republikaners ausgesprochen in dem berühmten Worte:

man over men God made not lord.

Nicht allein die Früchte seines eigenen Nachdenkens, auch das Köstlichste von fremder Geistesarbeit hat Milton hier versammelt. Aus jedem Gesange tönen uns Anklänge an die Werke älterer Dichter entgegen, ganze Kapitel der Bibel werden umschrieben. Darum hat die kleinmeisterliche Altklugheit der Kritiker des achtzehnten Jahrhunderts das Verlorene Paradies oft als eine Schatzkammer voll geraubter Kleinodien verdammt. Für uns erledigt sich die Frage durch die eine Tatsache, daß Miltons Werk lebt und leben wird, derweil die unzähligen geistlichen Gedichte, die er ausbeutete, längst der Vergessenheit verfielen. Dem englischen Sänger fällt nicht ein Blatt aus seinem vollen Kranze, wenn man uns nachweist, daß schon vor ihm der gelehrte deutsche Jesuit Jakob Masenius ein lateinisches Epos Sacrotis schrieb, zur Übung der Jesuitenschüler in der lateinischen Verskunst, und darin die Versammlung der höllischen Geister des Pandämoniums schilderte. Uns, die wir zurückschauen auf eine so lange Arbeit frischen, vollkräftigen Künstlertums, steht hoffentlich jene Auffassung des geistigen Eigentums fest, welche zu Recht bestehen wird, solange rüstige Künstler schaffen: der ohnmächtige Schwächling, dem eine gute Idee über Nacht gekommen, hat nicht das mindeste Recht zur Klage, wenn ein schöpferischer Kopf sie seiner unfähigen Hand entreißt und lebendig verkörpert. Miltons Talent war lyrisch und, was die Charakterzeichnung anlangt, dramatisch. Die Kraft des Dramatikers aber liegt im Gestalten, die des erzählenden Dichters im Erfinden. Darum haben Shakespeare, Calderon, Molière kraft göttlichen Rechtes mit höchster Unbefangenheit fremde Dichtungen benutzt. Es scheint, als müßten manche große Stoffe der Poesie erst durch viele Hände gehen, bevor das Eisen zu Stahl wird und nun ein echter Künstler die schneidige Klinge schmieden kann. Darum ist auch Milton durchaus original: die fremden Zieraten sind von einer nicht minder energischen selbständigen Künstlerhand neugeschaffen, wie die homerischen Helden in Troilus und Cressida; sie fügen sich so harmonisch in die Dichtung ein, wie die antiken Kapitäle der Säulen an alten romanischen Kirchen.

In gleicher Weise verfuhr Milton auch mit jenem Gedichte, das ihm offenbar die erste Anregung zu seinem Epos gab, mit der Tragödie Adamus exul von Hugo Grotius. Die Holländer, arm wie sie sind an großen Dichtern, hatten dies Jugendwerk ihres großen Landsmanns schon bei seinem ersten Erscheinen, 1601, mit dem enthusiastischen Zurufe nationalen Stolzes begrüßt, und sie pflegen noch heute nicht selten das Verlorene Paradies für eine Kopie des Vertriebenen Adam zu erklären. Unter den Deutschen könnte dies Märchen nicht so oft nachgesprochen werden, wenn nicht die Tragödie des Grotius zu den literarischen Seltenheiten gehörte. Wer sie kennt, wird zwar die getragene, an Vergil gemahnende Würde der Darstellung preisen und an einzelnen kraftvollen Sentenzen sich erfreuen, indessen das Ganze doch nur als die Schulübung eines geistreichen Jünglings und eleganten Lateiners gelten lassen. Dürr und prosaisch dehnt sich das Stück, in lehrhafter Breite und doch ohne jene Fülle des poetischen Details, die den Dichter bezeichnet. Wie reizlos ist die Eva des Grotius, ein gewöhnliches, schwaches Weib, während sie bei Milton trotz aller Gebrechen nie den Adel, die zauberische Hoheit der Ahnmutter unseres Geschlechts verleugnet. Rücksichtsloser, als heute dem Dichter gestattet wird, hat Milton einzelne Stellen des Holländers verwendet, doch der Raub wird zur Beschämung für den Beraubten. Wenn der Satan des Grotius sagt:

alto praeesse Tartaro siquidem juvat
caelis quam in ipsis servi obire munia –

so spricht er bei Milton kurz und wuchtig:

better to reign in hell than serve in heav´n.

Dies eine Beispiel sagt mehr als eine lange Betrachtung. Gerade an der Tragödie des Niederländers mag man lernen, wie grundprosaisch dies siebzehnte Jahrhundert empfand, wie einsam Miltons Künstlergeist in solchen Tagen stand. Aus der Heimat des guten Geschmacks und der eleganten Gelehrsamkeit schreibt Grotius seine Vorrede an den Prinzen von Condé und rühmt die Nützlichkeit seines Gedichts, da viele Verse für den Theologen und Metaphysiker, den Astrologen und Geographen Belehrung böten, welche Stellen denn auch im Index säuberlich verzeichnet stehen! – Dann und wann freilich zeigt sich selbst Milton angekränkelt von dieser prosaischen Schwerfälligkeit seiner Zeit; die ungeheure Gelehrsamkeit des Dichters stört den künstlerischen Eindruck. Wir begreifen leicht, wie der Klang großer historischer Namen dem blinden Sänger, der das wache Traumleben der Erinnerung führte, eine Welt glänzender Bilder vor die Seele führen mußte. Da geschieht es denn, daß »Dame Gedächtnis«, die er die Muse schlechter Dichter nennt, auf Augenblicke auch seine Muse wird: oft füllt er ganze Verse mit mächtig tönenden Namen, und nur des jungen Macaulay blinde Schwärmerei konnte diese Schwäche bewundern. Auch die ausführliche Schilderung der Kämpfe der Engel ist einer gelehrten Grille entsprungen. Es war die Meinung der Ästhetiker der Zeit, das kunstgerechte Epos bedürfe der mit Ariostischer Breite ausgeführten Schlachtszenen. Man wußte nicht, daß Ariost und seine Leser als Freunde der schönen Fechtkunst den Kampfschilderungen ein Kennerinteresse entgegenbrachten, welches im siebzehnten Jahrhundert nicht mehr bestand.

Wie das Werk um seiner subjektiven Erregtheit willen ganz einsam dasteht unter den epischen Gedichten, so ist auch die gedrungene Knappheit der Komposition das gerade Gegenteil der behaglichen Breite epischer Darstellung. Auch der reimlose blank verse , den Milton zum Erstaunen der Zeitgenossen zuerst in das Epos einführt, ist der Vers des Dramas; er gewährt dem sprachgewaltigen Dichter volle Freiheit, hebräische, griechische, altenglische Redewendungen zu gebrauchen. Schon oft wurde das musikalische Gefühl des Dichters bewundert, der durch seine Erziehung, seine Bibelkunde, seine Blindheit und seinen Glauben gleich sehr auf die »christlichste der Künste« geführt ward. Merkwürdiger noch, wie mit dieser musikalischen Innigkeit eine solche Prägnanz der Sprache, eine solche plastische Kraft der Schilderung sich paaren. Denn Milton wußte, wie Shakespeare, das reiche Erbteil der altenglischen Mysterienspiele zu verwerten: er ist Meister im anschaulichen Personifizieren abstrakter Begriffe. Mit so dämonischer Kraft reißt er uns in seine Welt hinein, daß wir den bloß symbolischen Gehalt derselben oft gänzlich vergessen: eine ästhetisch so unbedeutende Tat wie der Apfelbiß berührt uns mit dem ganzen Schauder eines ungeheuren Weltereignisses. Freilich kommt es Milton dabei zu gute, daß die wenigsten Leser im stande sind, solche von dem Glauben von Jahrtausenden getragene Mythen mit bloß ästhetischem Blicke zu betrachten.

Den ganzen Farbenreichtum seiner Einbildungskraft verschwendet der blinde Dichter, wo es gilt, die Herrlichkeit der Erde zu schildern, die an goldner Kette dicht bei dem saphirnen Wall des Himmels schwebt – der Erde, deren Pracht auch den vom Himmel niedersteigenden Engel noch mit Bewunderung erfüllt. Die Schrecken der Hölle dagegen liebt er mit andern, mehr geistigen Mitteln darzustellen. Zwar verschmäht er nicht, seinen diabolischen Figuren jene halb menschliche, halb tierische Mißgestalt zu geben, welche schon die Alten als das Grauenhafteste erkannten. Aber den tiefsten Schauder ruft er hervor durch den sittlichen Ekel; nichts scheußlicher, als jene Reihe von Inzesten, wodurch Tod und Sünde mit Satan verwandt geworden. Die Unmöglichkeit, eine Welt zu schildern, »wo Lange, Höhe, Breite, Zeit und Raum verloren sind,« weiß er dadurch zu überwinden, daß er das unseren Sinnen Hohnsprechende recht laut und entschieden betont: die berühmten Darstellungen der »sichtbaren Finsternis« und »des festen Feuers« wirken wie die leibhaftigsten Bilder. Auch Milton allerdings ist nicht immer glücklich mit diesen Versuchen, das Grenzenlose, Unbestimmte, Formlose darzustellen: oft tragen wir statt des Genusses nur einen unklaren panischen Schrecken davon und erinnern uns der echten Künstlerworte Goethes, daß das Gefühl der Wasserwage und des Perpendikels den Menschen erst zum Menschen macht. Noch weniger vermag der puritanische Eiferer die tief gemeinen, diabolischen Geister in objektiver Wahrheit vorzuführen. Der Charakter des Satans mit seinem erhabenen Ehrgeiz, seiner gewaltigen politischen Leidenschaft ward von Milton verstanden und lebendig verkörpert, aber die niedrigen, sinnlich lüsternen Geister, die Mammon und Belial, wußte er nur mit tendenziöser Bitterkeit zu schildern. Die größte Kunst entfaltet der Dichter in der Schilderung des Paradieses. Hier gelingt ihm das Unmögliche, in das ermüdende Einerlei ungetrübten Glückes einiges Leben zu bringen. Zur rechten Zeit immer weiß er den Schauplatz zu wechseln; nur der kontrastierende Reiz der himmlischen, irdischen, höllischen Szenen macht dem Leser möglich, die überstarke Anspannung der Seele, die der Poet ihm auferlegt, zu ertragen. – Der wahre Zauber des Gedichts, wir wiederholen es, liegt in dem Charakter des Dichters, in dem tief melancholischen, weltverachtenden Geiste, der das Ganze überschattet.

So wird die Welt dahingehn
Den Guten feindlich und den Bösen hold,
Aufstöhnend unter ihrer eignen Last –

dies der Weisheit letzter Spruch, die der erzählende Engel aus der Betrachtung der Historie zieht. Und selbst der am Ende des Gedichts auftauchende Hinweis auf die Erlösung des Menschengeschlechts vermag nicht den Eindruck dieser ernsten Stimmung zu verwischen.

Durch solche strenge Hoheit des Sinnes ist Milton nahe verwandt mit dem ersten großen christlichen Epiker, Dante. Beide Männer von ungeheurer Willenskraft und sprödem Stolze, durch das untrügliche Bewußtsein eines großen Berufs über die gemeinen Nöte des Lebens emporgehoben, hatten beide die beste Kraft der Mannesjahre an die politischen Kämpfe einer tiefbewegten Zeit gewendet und eine geniale Begabung nicht zu gut gehalten für das Handwerk des Tagesschriftstellers. Und der glühende Verteidiger der kaiserlichen Monarchie, der den Brutus erbarmungslos in die Hölle verstößt, steht dem radikalen Anwalt des Königsmordes, dem Feinde der Cäsaren in seinen politischen Schriften näher, als der oberflächliche Blick erkennen mag. Denn der eine wie der andere lehrte, daß die Obrigkeit besteht um des Volkes willen, eiferte für die Rückkehr der Kirche zur ursprünglichen Einfachheit und Reinheit und ahnte, ohne doch zu den letzten Folgesätzen zu gelangen, die große Wahrheit der Trennung geistlicher und weltlicher Dinge. Nach Bürgerpflicht ergriffen beide Partei, aber der Überlegenheit dieser Köpfe blieben die Sünden ihrer Genossen unverborgen: wie Milton aus reiner Höhe vornehm herabschaute auf die plumpe Unduldsamkeit der Puritaner, so mahnte der ghibellinische Dichter: »mit andern, andern Waffen zieh zum Streit der Ghibelline; jeden wird's gereuen, der trennt den Aar von der Gerechtigkeit.« Dann sahen beide ihr eigenes Lebensglück in den Schiffbruch ihrer vaterländischen Hoffnungen hineingerissen; gleich schwer vom Schicksal heimgesucht steht der blinde, verfolgte Puritaner neben dem landflüchtigcn Florentiner, der mit Tränen lernte, wie gesalzen das Brot aus fremden Händen schmeckt und wie bitter es ist, fremde Treppen zu steigen. Nun sammelten sich beide in ihren reifsten Tagen, um in einem religiös allegorischen Gedichte die Bilderfülle ihrer stürmischen Laufbahn in dem plastischen Stile Vergils darzustellen, ihre religiösen und politischen Ideale zu verkörpern und die große Summe ihres Lebens zu ziehen. Beiden erschien der Cherub, der einst den Mund des Propheten gesegnet, und sprach: »siehe, hiermit sind deine Lippen gerühret, daß deine, Missetat von dir genommen und deine Sünde versöhnet sei.«

Also von Gott geweiht, sprachen beide ihren Wahlspruch über die Geschichte der Welt, und noch kühner sogar als der Stolz des Protestanten erscheint die hohe Sicherheit der Seele des mittelalterlichen Menschen, der sich vermaß, er, der katholische Christ, das Tun aller Päpste, Kaiser und Könige zu verdammen oder zu begnadigen und von seinem Gedichte also redete: »Gegenstand ist der Mensch, wie er durch Sündigen oder Gutestun nach freiem Willen der Gerechtigkeit der Strafe oder des Lohnes verfällt.« Beide legen ihrem Werke ein festgeschlossenes System von Glaubenslehren zu Grunde, das nicht bloß poetisch wahr sein soll, beide erkennen in der »Hinaufläuterung des Sinnlichen zum Himmlischen« den Sinn alles Lebens und glauben, der Gerechte werde schon hienieden der Seligkeit teilhaftig. Der eine wie der andere übersieht das gesamte geistige Vermögen seiner Epoche und legt in seinem Gedichte einen Schatz von neu geschaffenem fremden Wissen und Denken neben seinem eigenen nieder; doch weder Milton noch Dante vermag die lehrhafte Tendenz zu verleugnen und Massen prosaischen Wissens vollkommen in schöne Gestalten umzugießen. Beide verstehen die Eintönigkeit eines übersinnlichen Stoffs reizvoll zu machen, indem sie den Schauplatz und den Ton der Darstellung wechseln. Beide halten eine unübersehbare Fülle von Bildern durch eine kraftvolle Komposition zusammen, nur daß der Bau des Kunstwerks bei dem modernen Sänger dramatisch, bei dem mittelalterlichen in scholastische Formeln gebannt ist. Aber der Florentiner gibt in seinen Selbstgeständnissen zugleich ein vollkommenes Abbild des innersten Wesens seines Zeitalters. Die tiefsinnige Mystik der Göttlichen Komödie, ihr phantastischer Frauenkultus, ihr halb antiker, halb kirchlicher Ideengehalt entspricht den tiefsten Herzensgeheimnissen der zwiegeteilten mittelalterlichen Bildung. Die harmonische Gesittung einer protestantischen Zeit dagegen konnte in einem allegorischen Werke nimmermehr ihren vollen Ausdruck finden.

Vor diese beiden christlichen Epen trete jeder, der verstehen will, was dem Dichter der Glaube seines Volkes bedeutet. »Der war in der Hölle!« raunten sich die Veroneser erschrocken zu, wenn die düstere Gestalt des verbannten Florentiners majestätisch durch die Straßen schritt. Das Kind einer solchen Zeit erscheint Dante – so seltsam es klingen mag – neben Milton als ein naiver Künstler. Gänzlich unbefangen weist er die Zeitgenossen und die Menschen vergangener Tage der Hölle oder dem Fegefeuer zu; er nennt sie beim Namen, erzählt ihr Geschick, schildert sie ab vom Wirbel bis zur Zehe. Solche Kühnheit durfte Milton inmitten der skeptischen modernen Welt nicht mehr wagen: die Weltgeschichte betrachtet er in Bausch und Bogen in raschem Überblick, und den Zeitgenossen gegenüber muß er sich mit Anspielungen behelfen: wir erraten nur, daß unter den grübelnden Dämonen des Pandämoniums die Dogmatiker der Hochkirche gemeint sind. Dergestalt ist das Gedicht des Italieners ungleich reicher an echt historischem Gehalt. Jeder Gesang der »Hölle« führt uns in monumentaler Großheit ein erschütterndes Bild von Menschenschuld und Menschenleiden vor Augen; und solange warme Herzen schlagen, werden die Erzählungen von Ugolino, von Francesca von Rimini auch jene Leser im Innersten ergreifen, welche für die symbolische Bedeutung des Gedichts, für Dantes mystische Weltanschauung kein Verständnis haben. Solche Szenen von rein menschlicher Schönheit sind im Paradise lost weit seltener zu finden. Und wie viel würdiger eines Dichters war Dantes Geschick! Sein Italien war das Herz der Welt; alle Schönheit, alle Tugenden und Laster der Zeit drängten sich zusammen in den gewaltigen Städten seiner Heimat, und über dieser farbenreichen Erde prangte noch der katholische Himmel mit seiner Fülle glänzender Gestalten. In dieser Welt lernte Dante den Reichtum des Lebens und des Menschenherzens in ganz anderer Weise kennen, als der einseitige Puritaner.

Freier, klarer zum mindesten mögen Miltons sittliche Ideen ein; doch um Dantes Haupt schwebt jener Zauber, welcher der großen Künstlerseele die höchste Weihe gibt, der Zauber der Liebe. Der finstere Sänger, der die Greuel der Stadt der Qualerkorenen kündete, er rühmte sich auch, daß er auf alle Liebestöne lausche, er hat auch – menschlicher als der puritanische Weiberfeind – die schmelzende Weise gesungen: »die ihr die Liebe kennt, ihr edlen Frauen.« Der Gedanke der Hinaufläuterung des Fleisches zum Geiste ist für Milton ein philosophischer Satz; Dante erfaßt ihn inniger, künstlerischer, er besingt, wie die irdische Liebe sich zur himmlischen verklärt. Der Puritaner wußte mit kühlerem Gleichmute als der leidenschaftliche Romane den schweren Wandel seines Geschicks zu tragen; gleichmäßig, stetig wuchs er auf, er hat nicht wie dieser einen Tag von Damaskus erlebt. Aber Dante vermag auch den vollen Sturm der Leidenschaft durch seine Verse brausen zu lassen und das Herz des Hörers sogar noch mächtiger als Milton aufzuregen. Der Florentiner wagte, Gott und göttliche Dinge in der mißachteten Sprache der Frauen zu besingen, und erweckte seiner Nation das helle Bewußtsein ihres Volkstums; ja, der gesamten Dichtung der modernen Welt wies er die Bahn, denn sein Gedicht ist das erste seit dem Altertume, das die scharfen Züge eines eigenartigen Menschen zeigt; durch ihn gelangte die Persönlichkeit in der Kunst wieder zu ihrem unendlichen Rechte. Dem englischen Sänger fiel ein härteres Los: als ein Spätling erschien er am Ende einer großen Kunstepoche, und erst lange nach seinem Tode, auf fremdem Boden gab seine Dichtung den Anstoß zu einer neuen Entwicklung der Literatur.

Das große Werk, das dem Dichter zweimal fünf Pfund Sterling einbrachte, hatte Mühe, der Zensur zu entrinnen. Keine Zeile in dem Gedichte, die den Fanatikern der Restauration nicht staatsgefährlich erscheinen mußte, und doch – da ja das Völkchen den Teufel nie spürt – waren es nur zwei Verse, welche der Zensor hochbedenklich fand und nach langem Verhandeln endlich freigab. Noch bei Miltons Lebzeiten ward das Werk viel gelesen, freilich nur von der aufstrebenden Jugend und den Stillen im Lande, die sich daran ihren puritanischen Glauben stärkten. Unter die anerkannten Größen der englischen Dichtung ist das Paradise lost erst eingetreten, seit Addison seine Landsleute darauf hinwies, wie Milton ihrer Sprache neue Kraft und Würde gegeben. Seitdem ward die – leider mehr erbauliche als ästhetische – Bewunderung von Miltons Genius in England so allgemein, daß selbst der arge Spötter Voltaire bei seinem Londoner Aufenthalte den christlichen Dichter bewundern lernte und in Ferney das Bild des Puritaners neben Franklins Porträt bewahrte. Noch mächtiger wirkte Miltons Vorbild in Deutschland. Nachdem einmal der gerade Weg verlassen war, den Shakespeare der modernen Dichtung gezeigt, fand Er zuerst wieder den Deutschen einen Pfad, auf dem sie fortschreiten konnten, um die Fülle und Tiefe ihres Gemütslebens in erhabenen Gestalten zu verkörpern. Von ihm erbten unsere Bodmer und Klopstock den Mut, Schwung und Empfindung unserer ernüchterten Sprache wiederzubringen, und nur die Gottsched und Genossen schreckten zurück vor dem, was sie Miltons Überschwenglichkeit nannten. Unfähig, das Wesen der volkstümlichen Dichtung – also auch des echten Epos – zu verstehen, sah unser achtzehntes Jahrhundert, selbst Lessing nicht ausgeschlossen, in Milton das Urbild des epischen Dichters. Dann verdrängte Shakespeare den puritanischen Sänger aus den Herzen der Deutschen. Erst die politische Bewegung der neuesten Zeit zeigt wieder einige Teilnahme für Milton den Bürger, und eben jene Härte des Charakters, welche die Menschen des achtzehnten Jahrhunderts erschreckte, erwirbt ihm heute Verehrer.

Hatte in dem Verlorenen Paradiese Milton, der Dichter und der Denker, sein volles Selbstbekenntnis abgelegt, so ist in den beiden Gedichten seines Greisenalters je eine dieser beiden Seiten seines Wesens gesondert zur Darstellung gebracht. Das Wiedergefundene Paradies wird immer aufs neue das Befremden erregen, wie doch ein frommer Christ von den heiligsten Glaubenssätzen der christlichen Kirche so weit abweichen, und wie doch ein großer Dichter ein Kunstwerk von so geringem poetischen Werte schaffen konnte. Nicht das Leiden und Sterben und die Auferstehung Christi war für Milton das Bedeutungsvollste in dem Wirken des Erlösers. In allen theologischen Schriften des Puritaners wird dieser letzte, für die Kirche wichtigste Teil des Lebens Jesu nur kurz berührt. In Miltons Glauben ist nichts von Mystik, nichts von Liebe. Ein Mann der Tat, erfüllt von dem alttestamentarischen Gedanken der Gerechtigkeit, sieht er in Jesus vor allem den makellosen, den gerechten Menschen. Das Paradies ward verloren, weil das erste Menschenpaar der Versuchung des Teufels erlag, es wird wiedergewonnen, weil ein gerechter Mensch alle Verführungskünste des bösen Feindes abschlägt, Paradise regained ist die Erzählung von der Versuchung Christi durch Satan. Nicht ästhetische Gründe bewogen den Dichter, zu dem Paradise lost dies Gegenbild zu schaffen; die Idee des Werks – die Erlösung der Welt – lag ja bereits poetisch genugsam ausgesprochen in den letzten Gesängen des Verlorenen Paradieses. Nur seine Gedanken über die Nichtigkeit und Schalheit weltlichen Tuns und weltlicher Lust wollte er aussprechen; zu diesem didaktischen Zwecke ergriff er den biblischen Stoff und ließ in langen Gesprächen den Erlöser und den Satan den Wert weltlicher Größe philosophisch erörtern.

Schon der Mangel jeder Steigerung des Interesses beweist, daß Milton – ein Meister in der Komposition – gar nicht daran dachte, seine Leser ästhetisch zu befriedigen. Die Versuchungsgeschichte ist von Matthäus sehr einfach und sehr wirksam dargestellt: dreimal, und mit immer steigender Kühnheit, versucht Satan den Menschensohn zu betören. Diese einfache Form der Erzählung, die sich dem Dichter von selber empfahl, hat Milton verschmäht. Er folgt der weit künstlicheren Schilderung des Lukas und schiebt in die Darstellung des Evangelisten neue, selbsterfundene Versuchungen ein: er will den beiden Disputierenden Gelegenheit geben, ihr Thema, den Unwert irdischer Herrlichkeit, nach allen Seiten hin zu erschöpfen. Und schrecklich, grausam sind die Weisheitssprüche dieses Miltonischen Jesus. Immer mehr verbitterte sich der Geist des einsamen Puritaners inmitten einer verworfenen Zeit, immer tiefer lebte er sich ein in die unmenschliche Härte des Alten Testaments. Die herbsten, die düstersten Stellen des Paradise lost kehren umschrieben im Paradise regained wieder. In den zwei Büchern de doctrina Christiana , die er in diesen Jahren zusammenstellte, verteidigte er sogar die Vielweiberei als eine von Jehova den Patriarchen gestattete Sitte. Selbst die Gedichte seiner Griechen erscheinen ihm jetzt leer, eitel, weltlich gegenüber den heiligen Gesängen Davids. Ja er läßt seinen Jesus das für einen Dichter entsetzliche Wort sprechen:

Die Schönheit wird allein bewundert
von schwachen Seelen, die sich kirren lassen!

Offenbar, ein so trocken lehrhaftes und zugleich so finsteres Gedicht kann keine ästhetische Freude erregen. Daher ist einer unserer geistreichsten Literaturkenner, J. W. Loebell, auf die Vermutung gekommen, das Paradise regained sei ein Bruchstück, Milton habe ursprünglich das Leben des Erlösers weiter führen wollen bis zu der Auferstehung, der rechten Wiedereroberung des Paradieses. Loebell, Vorlesungen über die Entwicklung der deutschen Poesie seit Klopstock. 1856, I, 185. Loebell erklärt, nur die Faulheit der Literaturhistoriker, die einander gedankenlos abschreiben, habe diese unzweifelhafte Tatsache übersehen können. Nun, der Vorwurf gegen die Literaturhistoriker ist nicht grundlos; es steht zu fürchten, daß in Zukunft die Behauptung, das Paradise regained sei unvollendet, aus dem Loebell abgeschrieben werde. Darum will ich in Kürze nachweisen, daß diese Vermutung sich nicht halten läßt. Wir wissen, das Wiedergewonnene Paradies war dem Dichter das liebste seiner Werke, alle Lebensweisheit seines Alters hatte er darin niedergelegt. Ist es wahrscheinlich, daß er dies Lieblingswerk unvollendet gelassen hätte, da er doch nachher noch den Samson und prosaische Schriften verfaßte? Gehen wir an die erste Quelle, zu der ausgesprochenen Absicht des Dichters selber zurück. Milton eröffnet das Gedicht mit den Worten: »Ich habe vordem besungen, wie das Paradies durch Eines Menschen Ungehorsam verloren ward: jetzt will ich singen, wie es wiedergewonnen ward durch Eines Menschen festen, in jeder Versuchung erprobten Gehorsam, wie der Versucher abgeschlagen und Eden wieder aufgerichtet ward in der weiten Wildnis.« Nun folgt die Versuchungsgeschichte. Auf das Wort Jesu, »es steht geschrieben: versuche nicht den Herrn, deinen Gott«, bricht Satan zusammen und stürzt hinab zur Hölle. Engelscharen erscheinen, tragen den Erlöser auf ihren Schwingen in ein blumiges Tal und singen ihm zu:

Now, thou hast avenged
supplanted Adam and by vanquishing
Temptation, hast regain'd lost Paradise –

und weiter »ein schönres Paradies ist jetzt gegründet«. – Ich begreife nicht, wie man nach diesen Worten noch bestreiten kann, der Dichter habe die Aufgabe, welche er sich selbst gestellt, wirklich zu Ende geführt. Loebell erklärt es für unmöglich, daß ein Milton ein Gedicht mit den Worten schließen konnte:

he (Jesus) unobserved
home to his mother's house private return'd.

Gewiß, diese Verse sind steif und unschön, aber kein unpassender Schluß einer Erzählung. Der Held tritt ab – jene Worte sind das episch ausgeführte exeunt omnes des Dramatikers, ja sie bilden ersichtlich eine Parallelstelle zu dem Schlüsse des Paradise lost , wo der Dichter ebenfalls die Helden, Adam und Eva, abtreten läßt:

they hand in hand, with wand'ring steps and slow
throug Eden took thoir solitary way.

Und wie diese schönen melodischen Zeilen sich zu jenen hölzernen Versen verhalten, genau so verhält sich der poetische Wert des Verlorenen zu dem des Wiedergewonnenen Paradieses; jenes ist ein herrliches Epos mit einzelnen didaktischen Stellen, dieses ein ernsthaftes Lehrgedicht in epischer Einkleidung. Allerdings, nachdem die Engel dem Menschensohne Glück gewünscht, weil er das Paradies wieder erobert habe, schließen sie ihr Lied mit den Worten:

Queller of Satan, on thy glorious work
now enter and begin to save mankind –

Worte, welche in die Zukunft hinausdeuten. Aber wir wissen bereits aus dem Paradise lost : durch die Erscheinung und den straflosen Wandel eines vollkommenen Menschen war, nach Miltons Glauben, der Fluch hinweggenommen, den Adam über unser Geschlecht gebracht; die Vollendung der Erlösung, die Gründung des Reiches Gottes sollte sich erst im Verlaufe der Weltgeschichte, durch fortwährendes Ringen der Gläubigen mit dem Bösen, vollziehen. Wer Milton zutraut, er habe die Leidensgeschichte Christi besingen wollen, der setzt bei dem Puritaner die Gesinnung nicht eines Milton, sondern eines Klopstock voraus.

Dieser dritte der großen christlichen Epiker nämlich ging zwar gleich dem Puritaner auf die religiöse Erbauung seiner Leser aus, er war beseelt von grenzenloser Verehrung für den englischen Dichter, dessen Bild er »weinend angestaunt wie Cäsar das Bild Alexanders«. Aber wie gänzlich hatte sich inzwischen der Protestantismus verwandelt! Das erstarrte Luthertum war, dank den Pietisten von Halle, neu belebt. Eine tief gemütliche, innige Religiosität beseligte die gläubigen Seelen, und diese Stillen im Lande betonten gerade jene christlichen Dogmen von dem Leiden und Tode des Erlösers, welche Milton kalt ließen. Von diesen deutschen Pietisten, welche »in tätiger, brüderlicher und gemeiner Liebe das Evangelium leben« wollten, ging Klopstock aus. Sein Gott ist der Gott der Gnade, des Erbarmens, Miltons Herr der gerechte, zürnende Jehova der Juden. Erschrecken wir oft vor Miltons Härte, so lachen wir Söhne einer derberen Zeit bereits herzlich über die zerflossene Empfindelei in Klopstocks Versen:

eine getreue Zähre der Huld – die seh' ich noch immer –
netzte sein Antlitz; ich küßte sie auf.

Jede Vergleichung des Verlorenen Paradieses mit Klopstocks Messias richtet sich selbst. Beide Dichter freilich waren wesentlich lyrische Genien, aber Milton besaß zugleich jene plastische Gestaltungskraft des Epikers, welche Klopstock versagt war. Während Klopstocks lyrische Gedichte in den Herzen seines Volkes fortleben, hat der Messias heute nur noch historische Bedeutung. Was man auch sagen möge – er ist unlesbar für die moderne Welt; es schwirrt uns vor den Augen, wenn wir ein Epos lesen, das keine Gestalten enthält. Nur eines darf der deutsche Dichter als einen Vorzug für sich beanspruchen: das humane Lächeln einer milderen Epoche blickt aus Klopstocks Versen.

Seit Jahren lebte Milton wieder wissenschaftlichen Arbeiten, auch in dem Paradise regained war überwiegend sein Verstand tätig gewesen. Da ergoß sich noch einmal alle Leidenschaft des Dichters glühend aus seiner gequälten Brust. Er schrieb das Drama Samson Agonistes.

Die Briten, gewohnt, an jede Tragödie den Maßstab der Shakespearischen Dramatik anzulegen, sind gegen Miltons letztes Werk ebenso ungerecht, wie sie seine anderen Gedichte in der Regel überschätzen. Sie vergessen, daß die Reinheit der Dichtungsart, welche sie in diesem lyrischen Drama vermissen, bei Milton überhaupt nirgends zu finden ist. Und sie bedenken nicht, daß Milton von dem Shakespearischen Drama in bewußter Absicht sich entfernte: die Einmischung des Komischen schien ihm eine Entwürdigung der Tragödie, und er bekannte sich bereits zu der mißverstandenen aristotelischen Lehre von den dramatischen Einheiten. Das Gedicht zeigt Spuren jener manierierten Schreibweise, welche alternde Künstler selten vermeiden. Auch gelehrte Grillen kehren wieder: nach der wunderlichen Art der lateinischen Dramendichter jener Zeit benutzt Milton die Versmaße der Chöre der Alten ohne ihre Musik. Trotzdem bleibt der Samson ein wunderschönes Gedicht, ein Werk aus einem Gusse, wie es Milton sonst nie gelungen, von der ersten bis zur letzten Zeile ein Mark und Bein erschütterndes Klagelied. Der ausgewählte Streiter Gottes, der, geblendet und mißhandelt von den Unbeschnittenen, sich zur letzten Tat heiliger Rache emporrafft, um die Heiden und Lästerer zu Jehovas Ehren in den Staub zu schmettern – wahrlich, das war ein Held, zu dessen Preise dem blinden verfolgten Puritaner die Verse von selbst zuströmen mußten. Hier ist Milton ganz Leidenschaft; die Weisheitssprüche, die auch diesmal nicht fehlen, werden mit einer fanatischen Heftigkeit hervorgestoßen, welche ihnen die lehrhafte Trockenheit nimmt. Die Götzendiener, die ihn mißhandelt, sollten es hören, daß der Tag der Vergeltung nahe; nicht ihn, den Herrn selber hatten sie beleidigt –

Der Kampf ist zwischen Gott und Dagon nun allein.

Und wie gewaltig rauschen die Klagen dahin, von dem ersten Ausbruche des Schmerzes:

O Dunkel, Dunkel, Dunkel! Mitten im Mittagsglanz
Unwiederbringlich Dunkel! Ewige Finsternis –
Und nimmer wird es tagen!
Warum gilt mir nicht Gottes erst Gebot:
Es werde Licht! – und Licht ward's überall? –

bis zu dem finsteren, eines Hiob würdigen Chorgesange über die Falschheit der Weiber und der schweren Frage: was ist der Mensch, wenn die Helden, so Gott feierlich erhoben, dem Schwert der Heiden wehrlos vorgeworfen sind? – Nicht als ein Drama, wohl aber als ein erhabener Hymnus in dialogischer Form ist der Samson das ästhetisch vollendetste von Miltons Gedichten. Schlägt unser Urteil der Meinung der berühmtesten englischen Kritiker ins Gesicht, so steht uns dafür ein deutscher Geistesverwandter Miltons zur Seite: durch den Samson Agonistes ließ Händel sich anregen zu seinem unsterblichen Oratorium. –

Dies Werk des Hasses und der Klage war das letzte Gedicht des Sängers, der am 8. November 1674 verschied.

Wir verwerfen die Unart der modernen Kritik, welche nur allzu geneigt ist, die Frage nach dem Kunstwerte eines Gedichtes zu vermengen mit der Frage nach dem sittlichen Werte des Dichters. Wir wissen sehr wohl, daß eine geheimnisvolle Fügung gar oft den lauteren Wein der Dichtkunst in unreine Schläuche füllt. Wenn aber ein Dichter die Aufgabe, welche Milton dem Künstler zugewiesen, wirklich löst und sein Leben selbst zu einem wahren Gedichte zu gestalten weiß, dann scheint uns das Höchste gelungen, was dem Menschen zu erreichen beschieden ist. Als ein solcher Mann ist Milton »durch des Lebens eitles Maskenspiel« geschritten. Sein Name wird leben, solange die edlen Geister aller Nationen das große Evangelium der Freiheit singen und sagen werden, solange das Wort eine Wahrheit bleibt:

no sea swells like the bosom of a man set free.


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