Ludwig Tieck
Waldeinsamkeit
Ludwig Tieck

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Ziemlich weit schon hatte sich indessen Ferdinand mit seinem Begleiter von der Schenke entfernt. Auch sie verließen bald die gebahnte Straße, um auf Fußsteigen und Richtwegen jene Stadt um so früher zu erreichen, die man als die nächste bezeichnet hatte. Sehen Sie den Kirchthurm dort links, rief der Kandidat, da, ganz unten am Horizont? Dort habe ich gepredigt und diese Gegend wird vielleicht bald meine Heimat seyn. Der Baron Anders, mein Gönner, hat mir auch versprochen, meinen Einzug in die Pfarre feierlichst zu begehen. Das soll ein Fest werden! Möglich, daß ich auch nachher heirathe, wenn mir diese Versorgung geworden ist. 557 Bin ich doch lange genug ledig geblieben. – Heda! Felsmann! – Wo führt denn den guten, lieben Kameraden der Teufel hieher in diese Einsamkeit? Felsmann! – Er schrie, so laut er konnte, und pfiff gellend auf seinem Finger, so daß der Entfernte still stand, sich umsah und dann mit eiligem Schritt auf die beiden ihn Erwartenden zulief.

Man begrüßte und verständigte sich. Felsmann, den der Kandidat seinen theuern Freund nannte, war, wie er von sich aussagte, ein Holzhändler, er hatte bei einem Edelmann dort einen Handel abgeschlossen, und wollte nach seiner Heimat, eben jener Stadt, nach welcher auch jene wanderten.

Das trifft sich gut, sagte der Kandidat, je mehr Gesellschaft, je lustiger. Er theilte dem Kameraden, als dieser mit einigem Mißtrauen den jungen Ferdinand betrachtete, in Eil dessen sonderbare Geschichte mit und durch welche Zufälle der junge, vornehme Mann in diese unansehnliche Formirung gerathen sei, in welcher er einem Bettler und Strauchdieb nicht unähnlich sehe. Linden fühlte sich durch die vermehrte Begleitung so wenig erbaut, wie durch diesen rohen Ausspruch des Theologen. Dieser Holzhändler schien ihm selbst beinahe das Bild eines Missethäters darzustellen, mit diesem schielenden Blick, der kleinen, runzelvollen Stirn, dem blassen Gesicht und plattgequetschten Munde. Hatte der Kandidat den Ton, welchen man im gemeinen Leben einen Bierbaß nennt, so ging von diesem Felsmann eine heisere Branntweinstimme aus, die eine unsägliche Gemeinheit ausdrückte. Er wünschte jetzt fast, er wäre dort in der Schenke, unter den Augen des mißtrauischen Wirthes geblieben, um den Bescheid auf seine Briefe abzuwarten.

Ich gehe hier, sagte er nach einer Weile, zwischen Ihnen beiden wie ein Kranker, oder ein aufgegriffener Missethäter, den die Wächter der Behörde überliefern. – Seine beiden 558 Begleiter erhoben ein schallendes Gelächter. Dann ergingen sie sich aber in moralischen Betrachtungen über die Schändlichkeit der Menschen, wie man einen so edlen Jüngling, der vom besten Hause sei, so niederträchtig behandeln könne, ihn gefangen halten, vor der Welt verstecken, und welche Absicht die Schurken nur dabei gehabt haben könnten.

Dieses moralische Gewäsch und die tugendhafte Entrüstung der gemeinen Menschen war Linden noch mehr als ihr Lachen, oder ihre frühern Gespräche zuwider. Auch glaubte er, da er schon mißtrauisch geworden war, zu bemerken, daß der Schielende dem Kandidaten hämisch zuwinkte und dieser ebenfalls mit sonderbaren Blicken antwortete.

So schritten sie hastig weiter und geriethen bald in eine ganz unwegsame Gegend. Als Linden seine Verwunderung darüber zu erkennen gab, sagte der Kandidat: nur noch eine kurze Strecke haben wir zu überwinden, dann gerathen wir auf einen sehr anmuthigen Fußsteig, der uns durch ein hübsches Buchenwäldchen führt, hinter welchem dann die große Straße liegt, die uns nach der Stadt bringen wird. Der Fußsteig zeigte sich aber nicht, sondern die Gegend ward immer einsamer, das Wandern immer unbequemer. Mehrmals stand Linden still, sich umzusehen und seine Erinnerung zu sammeln, ob man nicht die entgegengesetzte Richtung nach der bezeichneten Stadt gehe. Er suchte nach Kennzeichen, weil er argwöhnte, er sei schon hier gewesen, doch ließ sich in diesen Gebüschen, zwischen Knieholz und Unkraut kein bedeutendes Merkmal erkennen. Seine Begleiter wurden ebenfalls über seine Unruhe unruhig und eilten um so mehr, als er gern zauderte, um sich von der Gegend in Kenntniß zu setzen, sie wichen nicht von seiner Seite und wurden stumm, zögerten ihm zu antworten, und schienen ihm nicht weniger, als er ihnen, zu mißtrauen. Jetzt kamen sie an einen etwas 559 freiern Platz, sie konnten mehr um sich sehen, und vor ihnen lag ein schnell rinnendes Wasser, nicht breit, aber, wie es schien, tief, und ein Bret war über den kleinen Fluß gelegt, um hinüberzuschreiten. Nun glaubte Ferdinand plötzlich, sich wieder zu erkennen. Jenseit sah er einen Baumstamm liegen, der ihm gleichsam eine Warnung zurief. Ueber dieses schwankende Bret sollen wir uns wagen? sagte Linden, das gewiß unter unsern Füßen zusammenbricht? Wäre der kleine Fluß nur ein weniges schmäler, so könnte man ja mit weit mehr Sicherheit hinüberspringen.

Ei was! sagte der Kandidat, Sie sehen ja, daß wir nun auf irgend eine Straße kommen müssen, da die Leute hier doch diesen Weg passiren. Das Bret ist auch stark und sicher genug. Ich vertraue dem Dinge nicht, sagte Linden, und stand still, sein Auge fest und scharf auf das jenseitige Ufer gerichtet, weil sich drüben hinter den Bäumen etwas Weißes bewegte. Ein Kavalier sollte nicht so furchtsam seyn, sagte der Kandidat auf seine rohe Weise, ich bin dicker, größer und schwerer als Sie und werde Ihnen unverzagt voranschreiten, und Sie werden sich überzeugen, daß zur Noth dies Bret uns alle Drei zusammen tragen könnte. Er ging stapfenden Fußes fest hinüber, und obgleich unter der Last das Holz sich in der Mitte bog, gelangte er doch sicher an das jenseitige Ufer. In demselben Augenblick bückte sich Linden schnell, als knüpfte er das Band seines Schuhes, zog mit Blitzesschnelle das Bret an sich und warf es in den Strom, der es fortwälzte, stieß in demselben Augenblick mit einem Umschwung den Herrn Felsmann in das Wasser und eilte rückwärts davon. Im Umblicken sah er noch, wie Felsmann, in dessen Stirne er jenen stummen Zeichensprecher ahnend erkannt zu haben glaubte, im Wasser zappelte, wie der Kandidat arbeitete, den Schreienden herauszufischen, 560 wobei ihm ein altes Weib mit einer Stange Hülfe leistete, die zu ihm herüber drohte und eben jene todtenbleiche taubstumme Unglückliche war.

So war er also wieder frei und sicher. Seinem alten Quartier, dem er vor drei Tagen entsprungen, war er künstlich wieder zugeführt worden. Der Kandidat, also Baron Anders, auch vielleicht noch Andere hatten diese Tücke an ihm ausgeübt. Er mußte nun fast glauben, daß alles nur geschehen sei, um ihn von Sidonien zu entfernen.

Er lief nun eilig zurück, um vielleicht jene Schenke oder wenigstens die Köhlerwohnung zu finden. Da er nicht wissen konnte, ob ihm nicht andere Menschen auflauerten, um ihn vielleicht mit Gewalt in sein Gefängniß zurückzuführen, so nahm er sich vor, sich jedem Reisenden anzuvertrauen, im ersten Hause, das ihm aufstieß, zu bleiben. In einem Walde, in den er, der Sicherheit wegen, hineinsprang, sah er plötzlich eine Kutsche, neben welcher ein junger Mann lief, der seltsam gestikulirte. In dieser Kutsche sah er seine Rettung, er lief auf sie zu, um die Hülfe und den Schutz der Herrschaft anzusprechen, als der Fußgänger mit wüthendem Schreien auf ihn zustürzte, der Wagen hielt und ein großer Mann aus dem Wagen sprang. Sogleich lief der zu Fuß tiefer in den Wald hinein, der ältere ihm rufend nach und Linden lag, bevor er sich noch besinnen konnte, in den Armen seines Oheims.

Freude, Erzählung, Frage und Antwort, alles durchkreuzte und übereilte sich. Armer, armer Mensch! sagte endlich Wangen, den Neffen näher betrachtend, wie siehst Du aus! Abgerissen, verschmachtet, im Gesicht verletzt, ohne Hut, vermagert – armer, armer Mensch! Wie schlimm muß es Dir ergangen seyn?

561 Die Waldeinsamkeit, antwortete Linden erbittert und dennoch lachend, hat mich so zu Grunde gerichtet.

Indem sie sich noch mit Zärtlichkeit betrachteten, sagte der Oheim: Du glaubst nicht, liebster Neffe, wie ich mich, aus Instinkt vielleicht, hier in diesen Kreisen umhergetrieben habe, denn ich suche Dich schon seit lange, und ein anderer wackerer Freund, der Rath Elsen, hat auch seinen Urlaub dazu benutzt, um Dich, den verlornen Sohn, aufzufinden.

Jetzt stieg auch der alte hinkende Graf aus dem Wagen, der vorsichtig den ersten Sturm der Zärtlichkeit hatte vorübergehen lassen, um die Wiedererkennung nicht zu stören. Hielten wir nicht neulich hier still, Wangen, auf diesem nehmlichen Fleck? fragte er.

So scheint es mir auch, antwortete Wangen, indem er mit prüfendem Blicke um sich schaute. Ja, ja, rief er dann, hier trafen wir auch so ganz unvermuthet mit dem Freunde Elsen zusammen, den das laute Blasen meines Postillons herbeigelockt hatte. Wir stiegen ab, dort setzten wir uns, unter jener schattenden Eiche, und da Elsen bei seiner Passion für das Waldhorn immer seinen Jäger mit sich führt, nebst den Instrumenten, so mußte der mit seinem Kutscher in einiger Entfernung ein liebliches Duo blasen.

Es war köstlich, sagte der alte Graf, und ich wollte, wir könnten es heut wiederholen.

Hier war es! rief Linden aus, und Sie waren es? O Himmel! in meinem grünen Käfig dort vernahm ich diese mir so nahen Töne und wäre in meiner Hülflosigkeit fast wahnsinnig geworden; so wechselten Freude, Rührung, Sehnsucht, Schmerz und Zorn in meinem Innern.

Man hörte das Schnauben von Pferden, und plötzlich sahen sie die Equipage des Rath Elsen vor sich. Die Freude der Begrüßung erneute sich, und Linden konnte nicht 562 Worte des Dankes genug für die Liebe seiner ältern Freunde finden.

Jetzt können wir, sagte der Graf, ja als Fest des Wiederfindens die Instrumente wieder erklingen lassen.

So sehr ich selbst diese Musik im Walde liebe, sagte Elsen, so müssen wir doch heut diesen Wunsch unterdrücken, weil wir, um in Ruhe zu kommen, heute noch weit fahren müssen, und es darf nicht zu spät werden. – Er nahm den alten Wangen beiseit, mit dem er in einiger Entfernung auf- und abwandelte und mit unterdrückter Stimme, aber leidenschaftlich sprach, eine Erzählung und Mittheilung, über welche der Oheim ein lebhaftes Erstaunen ausdrückte.

Mein Jäger, sagte Elsen, weiß hier genau Bescheid, weil er lange in hiesiger Gegend gedient hat, er wird uns bald aus dieser Einöde auf die rechte Straße bringen.

Linden stieg zu seinem Oheim und dem Grafen in den Wagen, der Rath fuhr voran, und sie entfernten sich alle freudigen Sinnes aus dem unwegsamen Walde.

Jetzt erkannte Linden die Köhlerhütte, in welche er damals eingetreten war, und bald geriethen sie auf eine gebahnte Straße, Linden sah die Schenke, der gleichgültige Wirth stand wieder vor der Thür, und nun kamen sie auf ebene, gute Wege, wo die Rosse um so schneller laufen konnten.

Die Ebene lag vor ihnen, sie sahen weit und unterschieden bald ein ansehnliches Schloß, einen wohleingerichteten Landsitz einer reichen Familie.

Hast Du Muth, sagte der Oheim, so wie Du da bist, Neffe, in eine vornehme Gesellschaft zu treten? denn es ist keine Zeit übrig, Dich erst anständig auszustaffiren.

Wenn es seyn muß, erwiederte der erstaunte Linden, machen Sie mit mir, was Ihnen recht dünkt und nothwendig ist.

563 Sie hielten an, hörten von oben rauschende Musik und stiegen aus.


In einem mit Blumen und Kränzen reich verzierten Saal saß um eine große Tafel her eine zahlreiche Gesellschaft versammelt, sprechend, schwatzend, und zuweilen von der tönenden Musik unterbrochen. Obenan saß Sidonie, festlich geschmückt, neben ihr Helmfried, und auf der andern Seite der korpulente Vater des schönen Mädchens, der, wie in sie verliebt, fast kein Auge von ihr wandte, sie anlächelte, ihr die Hände drückte und sich darüber ängstigte, daß sie an diesem feierlichen Tage nicht so fröhlich sei, als es sich geziemen wolle. Du hast nun gesehen, sagte er in einer Pause, wie schlecht und elend der Mensch an Dir gehandelt hat, den Du noch immer nicht vergessen kannst. – Sie antwortete nicht, sondern sah Helmfried von der Seite an, da sie nun den vielen Briefen doch Glauben schenken mußte, wie Jener längst vermählt sei und mit der jungen Frau in Italien herumschwärme.

Jetzt näherte sich einer der Bedienten einem ältlichen, schon halb berauschten Offizier, der am untern Ende der Tafel saß, und raunte diesem mit bestürzter Miene zu: Herr Kapitän, draußen ist ein sonderbarer, sehr unansehnlicher Mensch, der Sie durchaus sprechen muß, wie er sagt. Der Offizier erhob sich und ging hinaus. Nach wenigen Minuten kam er bestürzt in den Saal, nahm sein Glas, das er erhob, und rief: Noch einmal das Wohlsein der Verlobten! Aber warum, Herr Baron, soll nicht lieber Ihre Tochter Braut sogleich ihre Vermählung feiern? Auch unser Wirth, der Baron Anders, ist dieser Meinung. Der Prediger wartet nur auf den Befehl.

564 Was mischt sich der thörichte Mensch in meine Angelegenheiten? sagte Sidonie leise zu ihrem Vater; der Baron Anders und seine Freunde verrathen wenig Erziehung.

Warum, sagte der dicke Herr, indem er sich erhob, mischen Sie sich, Herr Kapitän, in die Angelegenheiten meiner Tochter? Es ist von Ihnen und unserm Baron, erlauben Sie mir, das zu sagen, etwas gegen die Delikatesse, so in uns zu dringen. Der Baron hat uns dies prächtige Fest der Verlobung gegeben, wofür wir ihm verpflichtet sind, und heut über acht Tage erwarte ich Herrn von Anders, so wie alle verehrten Gegenwärtigen, auf meinem Landgut, wo wir alsdann den Hochzeittag und die Vermählung meiner geliebten Sidonie festlich begehen wollen.

Alle waren still, und Helmfried sah mit einem sonderbaren fragenden Blick zum Offizier hinüber, der ihm mit halb offenem Munde ein stieres, verdummtes Auge entgegenhielt.

– Die vier Befreundeten waren indessen schon die große Treppe hinangestiegen. Ein Mensch sprang ihnen verwildert entgegen, verwirrten Blicks, mit nassen Kleidern, als wenn er aus dem Regen käme; es war der Kandidat. Sowie er Linden sah, rannte er noch schneller fort, und man sah aus den großen Fenstern der Treppe, wie er in eiligster Flucht über das Feld setzte. Die Bedienten, die jetzt erschienen, erstaunten nicht wenig, als sie sahen, wie der armselig gekleidete Linden auf die Saalthüre zuging, doch hielten Baron Wangen, der Graf und Rath Elsen sie so in Respekt, daß sie es nicht wagten, den Eintritt zu hindern.

Beim ersten Blick, den Sidonie auf die Saalthür warf, sprang sie auf. Der Vater hatte ihr eben Champagner eingeschenkt, um mit ihr anzustoßen, statt dessen warf sie das Glas heftig um und verdarb ihr kostbares Kleid, stürzte 565 schluchzend und weinend auf Linden zu, und dem noch Betäubten, Erschreckten an die Brust, hielt ihn lange umarmt, drückte ihn an sich und war im Taumel der heftigsten Leidenschaft einer Ohnmacht nahe.

Eine allgemeine Bewegung im Saal: Staunen, Schreck, Neugier, Fragen. Helmfried war verschwunden, und mit ihm Baron Anders, so wie der Kapitän. Der Vater der Braut ließ sich verständigen und die sonderbare Begebenheit vortragen. Da er keinen andern Willen, als den seiner Sidonie hatte, so ward sie augenblicks in diesem Sturm der Leidenschaft ihrem Ferdinand, den sie immer geliebt hatte, verlobt.

Man erfuhr nun, daß Helmfried und Anders, dem jenes entlegene Jagdhaus, nicht weit von diesem seinem Schlosse, seit einiger Zeit zugehörte, künstlich diese Entführung veranstaltet hatten. Es war beschlossen, wann die Vermählung Helmfrieds vorüber sei und dieser mit seiner Gemahlin sich auf Reisen befinde, den jungen Linden von neuem durch einen Schlaftrunk zu betäuben und ihn in diesem Zustande in seine Wohnung, oder irgendwo in der Nähe der Stadt, hinzuschaffen, so daß er niemals sollte begreifen können, was mit ihm geschehen sei.

Die Gäste hatten sich zerstreut, die meisten waren abgereiset. Der Baron Anders sendete schriftlich eine ungeschickte Entschuldigung, welche Sidonie beantwortete. Vom beschämten Helmfried kam ein Brief an Linden, da der ungetreue Freund des Gekränkten Antlitz nicht zu sehen wagte, welcher meldete, daß er auf einige Jahre verreisen werde; nie habe er Sidonien geliebt, und sie, wie er wohl gefühlt habe, ihn noch weniger: seine dringenden Schulden, deren er sich keine Rettung mehr gewußt, hätten ihn bewogen, nach dieser reichen Erbin zu streben. Linden antwortete durch 566 den Ueberbringer nur wenige Zeilen und versprach dem ehemaligen Freunde, alle seine Schulden zu tilgen.

Man blieb die Nacht im Schlosse. Anders war am frühen Morgen fortgefahren, um einige Anstalten zu treffen. Linden ließ sich vom Rath Elsen, der ihm an Wuchs ähnlich war, mit Kleidern ausstatten, so gut es sich wollte thun lassen. Er und Sidonie waren so in Traum und Entzückung, daß sie kaum wußten, was mit ihnen geschah. Man beschloß, sogleich nach der Residenz abzureisen, und der Vater drang darauf, in acht Tagen mit größter Pracht die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.

Nach dem Frühstück sagte Sidonie mit dem Ausdruck des schönsten Muthwillens: Nun muß ich, mein Ferdinand, bevor wir nach der Stadt reisen, Dein Gefängniß, Deine Waldeinsamkeit kennen lernen. Das ist die Strafe, die ich unserm Wirth aufgelegt habe, uns das Haus und den Wald zugänglich zu machen.

So geschah es. Sie fuhren ab, die Vertrauten und Freunde, nur wenige der Gäste begleiteten sie. Der Jäger des Rath Elsen war wiederum ihr Führer. Sie kamen der kleinen Schenke und der Köhlerhütte vorüber, sie verließen die Wagen und fanden über den Strom eine eilig gemachte, aber sichere Brücke von Balken gelegt. Sidonie, die sich Alles genau hatte beschreiben lassen, durchwanderte aufmerksamen Blickes alle Räume des kleinen Hauses, saß im Wohnzimmer des geliebten Freundes, sah durch die Linden nach dem grünen Walde, stand in der Küche neben der blassen, taubstummen Gestalt, betrachtete das Schlafzimmer und stieg dann mit dem Geliebten nach dem schönen Wald hinunter, den dieser nur von fern gesehen, nicht betreten hatte. Elsen hatte hier seine Virtuosen hingestellt, und 567 indessen diese die einfache Komposition bliesen, sangen einige Stimmen zart und anmuthig das kindliche oder kindische Lied:

Waldeinsamkeit,
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ewiger Zeit:
O wie mich freut
Waldeinsamkeit!

Wie die Töne verhallten, blickten die Geliebten einander in die hellen, von Wonne schwimmenden Augen.

 


 


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