Ludwig Tieck
Waldeinsamkeit
Ludwig Tieck

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Es ist nicht zu verwundern, wenn der Gefangene seiner Einsamkeit endlich überdrüssig wurde. Er sah gar keine Mittel vor sich, um sich zu befreien, er konnte seine bedienende Wächterin zu keiner verständlichen Antwort bewegen, auch beobachtete er wohl, daß die Gitter vor den Fenstern sich nicht mit Gewalt erbrechen ließen, aus seinen Gemächern führte keine Treppe hinunter, oder nach oben hinauf. Wußte er doch nicht einmal, ob noch Zimmer über ihm waren, oder ob er unmittelbar unter dem Dache wohne. Er konnte sich denken, daß die Hausthüre unten nicht weniger verwahrt und verriegelt war, und so blieb ihm denn freilich nichts, als sich in Geduld zu fassen und den Zorn, der oft in ihm aufwallen wollte, zu unterdrücken. In dieser Stimmung war es ihm endlich gelungen, seiner Alten begreiflich zu machen, daß er irgend etwas zu lesen wünsche. Sie reichte ihm einen schwarzen Folianten durch das Fenster, welchen er erst für eine 512 Bibel hielt, bis er sah, daß es die Reisebeschreibung des bekannten Olearius nach Persien sei. Mit der Eröffnung dieses Buches überraschte ihn eine seltsame Empfindung. In seiner frühesten Jugend war es gewesen, daß er mit seinem Vater eine Reise über Land machte. Dem Vater, dem auf den Aemtern vielfache Untersuchungen oblagen, fiel der Knabe lästig, er ließ ihn daher bei einem befreundeten Amtmann, da er vermuthete, daß es auf den andern Aemtern nicht ohne Verdruß abgehen würde. Man trennte sich auf zwei oder drei Tage. Diese erweiterten sich aber durch unvorhergesehene Zufälle bis zu zwei, drei Wochen, und der junge Ferdinand ward verdrüßlich, da ihm die Zeit in der Einsamkeit lang wurde und die gewöhnlichen Belustigungen eines stillen Landlebens bald erschöpft waren. Da fielen ihm diese Reisen des Olearius in die Hände, und er las unaufhörlich diese merkwürdigen Berichte und ergötzte sich an den Trachten und mannigfaltigen Scenen, welche die vielen Kupferstiche im Buche darstellten. Auf Lebenszeit prägten sich ihm die Leiden ein, die die Gesellschaft gleich anfangs durch Sturm erlitt, dann in Ispahan, und durch die ungefüge Art des Brüggemann, des Hauptgesandten. Die Menschen und ihre Stirn und Trachten in Moskau und den angrenzenden Provinzen hatten ihm große Freude gemacht. Diese Berichte und die Beschreibung von Persien, so wie der damals prächtigen Residenz hatten seine Phantasie in angenehme und erfreuliche Thätigkeit versetzt. So der freundliche und ebenso grausame noch junge König, die Geschichte des frühern Schach Abbas, die Leiden der Christen, die Schicksale des falschen Demetrius. Angebunden war noch, wie häufig, Mandelslo's Reise nach Indien und Sadi's Rosengarten. Wenige Bücher kannte der Eingefangene so genau, und der alte Foliant gewährte ihm jetzt einen doppelten Genuß, denn indem er den Inhalt mit 513 erwecktem Interesse las, erneuten sich ihm frisch, als wie von gestern, alle Eindrücke und Empfindungen, die sich seiner in jenen jugendlichen Tagen bemächtigten. In dieser Stimmung erschien ihm sein ganzes Leben fast wie mährchenhaft, und er grübelte über jeden kleinen Vorfall, der in seinem Gedächtniß glänzend und mit frischen Farben wieder auftauchte.

Wie Vieles hatte sich in Asien und Rußland verändert, seitdem der wackere Olearius sein mit großer Liebe ausgearbeitetes Werk dem Drucke übergab! Und wie gern lieset man noch heutzutage seine Beschreibungen, alles, was er gesehen, und die Historien, welche er einflicht. Die Darstellung ist so lebendig und individuell, daß man mit dem Autor Alles selber erlebt und sich den Eindrücken gern ganz hingiebt.

Heut schlief er nicht nach seinem gut zubereiteten Mittagsessen. Aus den frischen Gemüsen, dem neubackenen Brod mußte er mit Recht schließen und sich überzeugen, sein so eng verschlossenes Gefängniß habe doch Zugang für Andre, wenn auch die ihn beobachtende Alte vielleicht niemals das Haus verließ. Heut, indem er noch eifrig las, stand diese plötzlich vor ihm, um das Geschirr wieder fortzuräumen. Sie hatte, indem er sich auf das Buch tief niederbeugte, wohl gewähnt, er sei im Schlaf. Sie erschrak, als er sie anredete und sich schnell von seinem Stuhle erhob. Er sah, daß sich in der Wand eine Thür geöffnet hatte, die so genau in das Täfelwerk eingesetzt war, daß man sie uneröffnet nicht bemerken konnte. Die Alte lief ihm lächelnd nach, da sie seinen plötzlichen Eintritt in die Küche nicht hindern konnte. Er sah sich hier um, so verwundernd, wie es sein Olearius nur in Ispahan vor zweihundert Jahren thun konnte, denn nun schon seit Tagen bloß auf seine kleine Stube und Schlafkammer beschränkt, bot ihm der neue Raum hundert neue Entdeckungen, die ihm in seiner Einsamkeit sehr merkwürdig 514 schienen. In der beschränkten Küche nahm der Heerd und Schornstein fast den ganzen Platz ein. Der Schornstein war ziemlich weit, und in diesen hinaufblickend, schloß er, daß über ihm keine andern Zimmer und Räume mehr seyn könnten, denn das Licht des Tages erleuchtete deutlich die schwarze Höhlung, und er sah durch die Oeffnung den blauen Himmel und weiße vorüberschwebende Wolken. Ein kleines Schlafkabinet für die Alte grenzte unmittelbar an das seinige, und auf der andern Seite war ein Gelaß, in welchem sich Lebensmittel befanden. Hier lagen zwischen Schachteln und altem Geräth auch allerhand zusammengerollte Papiere, Rechnungen und Quittungen aus frühern Tagen, und manche unbedeutende Brauchbarkeiten des Lebens, die jetzt abgenutzt und unscheinbar waren, wie kleine Flaschen und Kistchen, verblaßte seidene Bänder, Schreibtafeln und Riechfläschchen, Pomadenbüchsen und zerbrochene Porzellantassen.

Unter diesen Geräthen kam sich Linden wie ein Robinson vor, und er prüfte das meiste, um zu untersuchen, ob es ihm irgend brauchbar seyn könnte, kehrte aber, da er nichts Bedeutendes fand, in seine Stube und zu seinem Buche zurück.

Seit dieser merkwürdigen Runde und Entdeckungsreise war aber ein anderes Verhältniß zwischen ihm und seiner alten Wärterin eingetreten. Er durfte nun, so oft er nur wollte, die Wandthüre öffnen und die Lebensmittel mustern. Es wurde ihm selbst gestattet, die Sprossen einer Leiter hinaufzuklettern, um sich auf dem ziemlich dunkeln Boden umzusehen, auf welchem Spähne lagen, ehemalige Dachsparren, einige zerbrochene Ziegel und viel Staub.

Dieser Tag schien überhaupt ein Tag der Entdeckungen zu seyn. Indem er in seinem Stübchen auf- und abging, sah er im letzten Winkel einen vorstehenden Pflock oder einen 515 jener Aststöcke, die sich oft aus veralteten Dielen und Brettern ohne Mühe herausnehmen lassen. Dies that er, aber er sah natürlich in der Höhlung nichts. Am Abend aber, als er in seinem Buche las, war er in der Eile so ungeschickt, sein Licht auszuputzen. So wie die Stube finster geworden war, schimmerte ihm aus jener versteckten Ecke ein Lichtschein entgegen. Er stand auf, ging hin, bückte sich und legte sein Auge dicht auf die kleine Höhlung. Im untern Raum hatte sich Rohr und Kalk abgelöst, und er konnte hinabsehn. Das Haus selbst schien nur leicht und eilig für einen Sommeraufenthalt gebaut zu seyn und fing schon an, hier und da zu zerbröckeln. Er sah unten, mit einem Licht in der Hand, seine alte Wärterin stehen, und nur mit Mühe konnte er neben ihr einen Mann gewahr werden, der mit ihr durch Zeichen zu sprechen schien. Die männliche Figur konnte er nur mehr errathen, als deutlich erkennen, weil das Licht nur einen ungewissen Schein warf, der Mann auch der Alten so gegenüberstand, daß die, wenn auch geringe Entfernung es dem Beobachter unmöglich machte, ihn durch sein beschränktes Teleskop genau zu unterscheiden. Indem der Fremde der aufmerksamen Alten einmal näher schritt, war es dem Lauscher, als wenn er den, der unten der Stummen so hastige Zeichen machte, kennen sollte, – aber, so wie er noch forschen wollte, trat der Mensch wieder zurück. Auch schien die Unterredung geendigt, denn Beide entfernten sich und Linden hörte eine Thür öffnen und dann wieder fest verschließen und verriegeln, ja es klang fast, als wenn auch von außen ein Schloß vorgelegt würde.

Mit vielen Gedanken, Planen und Zweifeln warf sich der Verstimmte auf sein Lager. Sollte er sich nicht mit Gewalt frei zu machen suchen? Warum duldete er diese unbegreifliche Gefangenschaft? Aber welche Mittel sollte er 516 anwenden? Die Alte überwältigen, binden? Was konnte ihm diese Grausamkeit nützen? Kannte er doch die Lokalitäten des Hauses viel zu wenig. Sollten sich nicht auch in der Nähe, oder in der Hütte selbst noch andere Wächter befinden? Mußte er nicht fürchten, daß nach einem verunglückten Versuch zu entfliehen, man sich Mißhandlungen gegen ihn erlauben würde?

Am andern Tage benutzte er seine nähere Bekanntschaft mit der Alten und ihre freundliche Stimmung, daß er ihr durch Zeichen deutlich zu machen suchte, wie er wünsche, seinen Aufenthalt näher kennen zu lernen. Da er schon in ihre Küche getreten war und ihre Schlafkammer entdeckt hatte, so begriff sie aus seinen mannichfaltigen und hastigen Zeichen wohl, was er meine, aber sie schüttelte den Kopf und lächelte dazu, wie fast immer, in ihrer grinsenden Weise. Endlich aber, da sie, wie sie die Umstände kannte, wohl glauben mußte, ihre Nachgiebigkeit könne ihr keinen Schaden bringen, gab sie nach und ging ihm voran. Sie öffnete die Wandthür und dieser gegenüber im dunkeln Raum eine andre ganz kleine, die sich auch nicht finden ließ, wenn man sie nicht kannte. Nun standen sie an einer ziemlich engen Treppe, deren wenige Stufen sie hinunterschritten. Hier kamen sie, unten angelangt, an eine niedrige Thür von festem Eichenholz oder eichenen Bohlen, mit Eisen beschlagen, welche vielfach verschlossen war. Als er auf das Schloß deutete und die Geberde des Aufschließens machte, lachte die traurige Alte ganz laut und schüttelte heftig den greisen Kopf. Ueber der Thür war ein kleines Luftloch in der Mauer; schnell sprang Ferdinand an den vorragenden Bohlen des Thors hinauf und sah durch die Oeffnung. Nun zeigte sich ihm deutlich, was er schon vermuthet hatte, daß die schwere Thüre auch von außen verriegelt war, auch zeigte sich vor der 517 eisernen Stange, welche sich über der Thür hinlegte, ein großes Vorlegeschloß. Als er von seinem Observatorium wieder hinunterstieg, sah er, wie die Alte ihn boshaft mit zugekniffenen Augen anlächelte.

Hier an der Treppe, an der Thür mußte gestern der fremde Mann gestanden haben. Der Raum unter seinem Zimmer war finster und ganz leer. Nur kleine Löcher in der Mauer ließen Streiflichter herein. Einige leere Fässer standen dort, sonst weder Meubles, noch anderes Geräth. In einem Winkel lagen Weinflaschen, und er sah ein, daß dieser kühle Raum zugleich als Keller diene. Als er die Gläser musterte, von denen manche selbst Schrift auf ihrer Wölbung hatten, entdeckte er sogar Ungarwein, der, wie immer, auf dem Zettel Tokayer genannt wurde. Ein gebundenes kleines Buch lag in der Ecke hinter den Flaschen, als er es aufschlug, sah er, daß es ein Manuskript war. Er nahm es mit sich.

Oben angelangt und überzeugt, daß nichts für seine Befreiung für jetzt zu hoffen sei, suchte er wieder Trost und Zerstreuung bei seinem Olearius. Er dachte an jenes Motto, das ihm, wie von einem bösen Geiste immerdar in das Ohr geraunt wurde: »was man in der Jugend sich wünscht, das hat man im Alter die Fülle.« – Ich bin noch nicht alt, rief er im bittern Verdruß, und sitze doch schon hier mitten in dieser verdammten Waldeinsamkeit, die ich mir freilich oft in meinen grünen Jahren gedacht und herzlich gewünscht habe.

Er studirte in seinem Buche, verzehrte dann in grimmiger Stimmung sein Mittagessen, las wieder, und hatte an diesem Tage keine Lust, in die Küche zu treten, um dort sich nach Neuigkeiten umzusehn. Am Abend konnte er wiederum durch sein Astloch das Licht schimmern sehn, er konnte wieder, als er sich auf den Boden gelegt hatte, die beiden 518 Sprechenden beobachten, deren Gestikulation heut viel heftiger als am vorigen Tage war. Er unterschied aber ebenso wenig die Gestalt des Mannes, der sich auch bald entfernte.

Es war natürlich, daß sich sein Verdruß mit jedem Tage vermehrte. Als er am Morgen in die Küche zur Alten an den Feuerheerd treten wollte, fand er die Wandthür fest verschlossen. Erboßt drückte er an den Knopf, der sie öffnen sollte, und schlug mit den Fäusten dagegen, die Alte öffnete das kleine Schiebefenster ihrer Küche, lächelte und schüttelte mit dem Kopfe. Er schämte sich seiner Wuth, setzte sich ruhig an die Reisebeschreibung, las, betrachtete die Kupfer, blätterte in seinem neuen Manuskript, las wieder im Olearius und mußte es sich gefallen lassen, als die Mittagszeit herankam, nur durch das kleine Fenster seine Mahlzeit zu erhalten und durch dieses die Schüsseln und Teller wieder hinauszureichen.



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