Ludwig Tieck
Waldeinsamkeit
Ludwig Tieck

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Linden sah wohl ein, daß er es mit seiner Wirthin nicht verderben müsse. Er war von Neuem freundlich, schmeichelte ihr, so gut er konnte, und sie schien seine Artigkeiten nicht nur zu verstehn, sondern selbst gut aufzunehmen. Denn ihr trauriges Lächeln wurde immer grinsender und widerwärtiger. Am meisten gefiel es ihr, wenn er ihr von dem Weine mittheilte, den sie ihm reichte. So gelang es ihm durch diese Künste, daß sie ihm die Thür der Küche wieder öffnete. aber die gegenüberliegende zur Treppe, die Wanderung diese hinab, der Anblick der untern Räume, alle diese Reiche blieben ihm untersagt und versperrt, so sehr er sich auch bemühte, ihr die Oeffnung dieser verbotenen Länder abzuschmeicheln.

Von seinem fleißigen Lesen des ihm schon vertrauten Olearius wendete er sich zu dem Manuskripte, welches er im 519 Kellerraum entdeckt hatte. Es war gut eingebunden, hatte aber von Feuchtigkeit und Wasser etwas gelitten: die Schrift war ungleich und nicht die deutlichste, doch waren die Buchstaben und Zeilen mit Fleiß und nicht eilig oder nachlässig geschrieben. Er blätterte hin und her, schlug auf, lachte, vertiefte sich, sann nach und warf endlich das Buch mit Abscheu aus der Hand. Gott im Himmel! schrie er aus, ich bin hier in dem Hause, in welchem man vormals einen Wahnsinnigen, wohl gar einen Rasenden eingesperrt hat. Daher die Eisenstäbe vor den verwahrten Fenstern und alle die verdrüßlichen Anstalten, die Schlösser und Riegel. Soll ich denn vielleicht hier verschmachten? Hat man mich der Welt unter dem Vorwande entrissen, ich sei verrückt? Aber wer hat es gethan? Und kann ich nicht wahnwitzig werden, wenn ich lange in dieser Einsamkeit, fern von allen Menschen, ohne Beschäftigung verweilen muß?

Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Sich heftig vor die Stirn schlagend, rief er laut. Wer bin ich denn? Wie kommt es nur, daß ich das Alles bis jetzt fast für einen lustigen Spaß aufgenommen habe? Warum bin ich denn nur so resignirt, wie ein geduldiger, unempfindlicher Esel? – Donnerwetter! rief er noch lauter und stampfte mit den Füßen, ich will, will es nicht länger dulden! Aber was anfangen, wie mich befreien? – Was hilft es, die Alte zu erwürgen? Diese Fenster einzuschlagen? – Den Kerl müßte ich ertappen und ihn zwingen, mir das Thor zu öffnen! –

Er ließ, um sich zu erleichtern, seinem Zorn den freiesten Lauf. Er warf die wenigen Stühle um und schleuderte den Tisch an die Wand. Als er etwas mehr beruhigt war und um sich blickte, bemerkte er die Alte, die ihr Schiebefenster geöffnet hatte und seinem thörichten Treiben mit 520 wohlgefälligem Lächeln zusah. Er hielt inne, grüßte sie beschämt, setzte den Tisch wieder an seine Stelle und hob die Stühle vom Boden auf. Als die blödsinnige Alte wieder an ihr Geschäft gegangen war, sagte er zu sich: Nein! nein! nicht auf diese Weise, sonst erfahren deine unsichtbaren, unbekannten Aufseher von dem bleichen Gespenst, daß du wirklich übergeschnappt bist. Das blasse Gerippe dort war vielleicht schon die Pflegerin jenes Unklugen, der dieses kuriose Buch geschrieben hat. Mein Zustand hier ist fast eben so komisch als schauerlich. Nur, Freund, die Vernunft zusammengenommen, daß du nicht wirklich auch thöricht wirst! Ich fühle deutlich, ich war so eben schon auf dem besten Wege nach jenem Kloster, wo die würdigen Ordensbrüder aufbewahrt und nach ihren verschiedenen Graden und Stufen ihrer Weihe behandelt werden.

Eine Bremse hatte sich durch die offene Fensterscheibe in das Gemach verirrt und flog wie rasend lautbrausend gegen die Wände, gegen die Gläser der Bilder und dann wieder gegen die Scheiben. Ferdinand betrachtete das Treiben, Summen und hastige Hin- und Herfliegen des ebenfalls eingefangenen Insektes. Die Arme! sagte er zu sich selbst, das Licht, das durch die Scheiben einfällt, täuscht sie immerdar. Sie hält das Glas für unkörperliche Luft und sucht durch dieses ihre Freiheit, schießt auf die feste, hemmende Täuschung mit aller Gewalt und wird prellend in die Stube und ihr Gefängniß zurückgeworfen. – Geht es uns denn im Denken anders? Die Schranken um uns her lassen sich nicht durchbrechen, wenn wir über Gott und Geist, Ewigkeit, die Räthsel des Daseins etwas erfahren wollen. Der kühne Geist fliegt dreist weit und weiter, er sieht die Freiheit, die ihm täuschend winkt, er glaubt schon draußen in dem weiten, lichten, unendlichen Raum sich ergehen zu können und wird 521 jedes Mal ebenso von jener durchsichtigen Schranke in sein Behältniß zurückgeschleudert.

Da ihm die große Fliege mit ihrem sumsenden und brummenden Umkreisen beschwerlich fiel, suchte er sie in seinem Schnupftuch einzufangen, um sie durch die Fensterscheibe aus seiner Gesellschaft zu entlassen. Er schloß die kleine Oeffnung und setzte sich nachdenklich und ermüdet in den Sessel. Unser Geist, fuhr er innerlich zu sprechen fort, kann nicht über die Schranken hinaus, die ihm seit Ewigkeiten gezogen sind: – auch jenseit – wie wir die unbegreifliche Zukunft nennen – erwarten mich Schranken, andere, weitere wohl – kein Dasein kann ich mir ohne solche vorstellen – und will ich mir ihn, den Ewigen, Schrankenlosen, Unbeschränkten, nur im fernsten, leichtesten Denken vorbilden, – so überfällt mich ein Schwindel, der mich zur Raserei und zum Zersprengen meiner Vernunft führen müßte, wenn ich die höchste Anstrengung meiner Denkkraft da hineinwerfen wollte.

Nun also – der Geschäftsmann hat auch die Schranken seines Berufs, ebenso der Bauer und Handwerker; der absoluteste König ist nicht ganz frei und unbeschränkt, seine Verhältnisse und Pflichten binden ihn – und ganz Ruhe, Freiheit genießt unser Körper nur, wenn er im Grabe verweset. –

Und der Geist? die Seele? – Meinethalben sei es, wie es sei. – So hier auch alles in seiner eigenthümlichen Art. – Essen, Trinken, Verdauen, Schlafen, Schlummern, Ruhen – Wein, Geflügel, Kaffee – Waldeinsamkeit, eine liebliche, so zu sagen, nur zu stark – und nur durch Bäume, feste Fenster sie sehend von fern – Gesundheit, – den Olearius – das andre humoristische Buch eines vielleicht großen, nur nicht ganz gesunden Verstandes – was fehlt mir?

Ja, Freiheit! das Wandeln draußen, Sidonie, der Blick 522 der Freundschaft, Gespräch. – Statt dessen die stumme Alte, ihr todter Blick – die Dummheit, daß ich nicht begreifen kann, wer mich hieher gebracht hat. Also, füge ich mich denn, so gut es gehen will, in diese meine Beschränktheit, mir ebenso aufgedrungen, wie jene, die mir bei der unfreiwilligen Entstehung meines Leibes und Geistes aufgezwungen wurde. Ist doch der Gichtkranke auch an sein Schmerzenslager gefesselt und träumt nur in seltenem heiteren Schlummer, wie er im Freien durch Feld, Garten und Wälder streift, und wird im Zucken dann von Qual und Pein aufgeweckt – so ist es doch nicht mit mir.

Er war beruhigt, als ihn neue Gedanken und Erinnerungen wieder aufstachelten. Die letzte Stunde seines Bewußtseins war jene lärmende Gesellschaft der Berauschten – dort allein konnte er seine Erinnerung eingebüßt haben – er war nicht auf seinem Zimmer erwacht – man hatte dem starken Wein gewiß betäubende Säfte beigemischt – aber Anders, der abgeschmackte? – Was konnte ihm mit dieser Posse gedient seyn? Was ihm Lindens Entfernung nützen?

Aber immer hatte er ja hören müssen, daß er eine lange Reise unternehmen würde. – Sidonie sprach von seiner Abwesenheit – ebenso seine Freunde. – Dies war nicht Zufall: ein Plan zeigte sich, der Gedanke, die Ueberzeugung davon rückte ihm immer näher und näher – doch er konnte keine klare Einsicht gewinnen. Aber doch überraschte es ihn, wie ihn eigentlich erst jetzt eine gewisse Betäubung, jener Taumel so spät verlassen, mit welchem er hier erwacht war – erst jetzt fing er an, gründlicher zu denken und emsiger den Faden zu verfolgen, der ihn aus dem Labyrinth seiner Zweifel über seine Entführung leiten könne.

Er fühlte deutlich, daß es ihm nothwendig war, sich zu zerstreuen und andern Gedanken Raum zu geben. Er kehrte 523 also zu dem Manuskript des Thörichten zurück, welches den Titel führte: »Leben und Reisen eines großen Geistes, welcher verdient, eines europäischen Rufes zu genießen.« – Ist nicht der Hochmuth, dachte er, die Eigenschaft unserer Seele, die unter zehn Aberwitzigen neun vom Wege der Wahrheit ablockt? So war es dem armen Wetzel in Sondershausen ergangen, der sich selber Gott nannte: alle Tollhäuser sind voller Könige, Fürsten und Götter. –

Allmächtiger, so fing das Buch an, wie danke ich dir, daß ich durch die Beine, welche du mir erschaffen hast, im Stande bin, so froh und wohlgemuth durch deine schöne Schöpfung dahin zu wandeln. Denn wenn ich sehen muß, wie langsam Maden und andere Würmer kriechen, so muß ich mich in ihrer Seele schämen, daß sie so niedrig in der lebendigen Natur gestellt sind. – Ehemals ging das klügste dieser dummen Wesen, die Schlange, aufrecht; doch muß sie damals von ganz anderer Konstruktion gewesen seyn, denn jetzt würde sie sich, mit diesem Vorzuge begabt, nur lächerlich ausnehmen. – Der Himmel sei auch dafür gepriesen, daß er in seinem All auch die Schuster nicht nur duldet, sondern sogar aufmuntert, denn sonst würden wir nur wenig wandern können, vollends, wer mit Hühneraugen gesegnet ist.

Wäre nur der fatale Mann nicht, der sich meinen Gesellschafter titulirt, der aber eigentlich eine langweilige Mischung von Gottlosigkeit und ächter, alter, jetzt abgeschaffter Tyrannei ist. Denn erstlich: betet er fast niemals; zweitens: hält er mich immer ab, meiner Inspiration zu folgen. Wenn ich mal die Lust fühle und der Geist mich antreibt, in ein hübsches, hellangestrichenes Landhaus einzukehren, um mit meinen Mitchristen dort ein ehrbares Mittagsmahl einzunehmen, und von ihrem, im kühlen frommen Keller aufgehobenen Wein zu genießen, schleppt mich dieser faule Bauch 524 in ein finstres, oft ganz schmutziges Wirthshaus, wo wir bezahlen müssen, was wir bei Gottes Kindern umsonst und besser genießen könnten. Davon wird diese meine Reisebeschreibung gewiß noch viele, ebenso trostlose, als merkwürdige und wahre Beispiele liefern. –

Linden konnte sich nicht entschließen, das Buch ganz zu durchlesen, sondern er blätterte hin und her und fand folgende Aeußerung: Es ist für den denkenden Christen eine große Beruhigung, daß die Sonne, bei hellem Wetter, mit so vielen gefärbten Strahlen und mannigfaltigen Röthen aufgeht, denn es giebt einen hübschen Anblick. Dann fühlen wir in der Kühle auch die Kraft, wie unser gestärkter Leichnam seine Verdauung gelinde befördert, und gern von sich giebt, was ihm nun dermalen höchst lästig und überflüssig geworden ist. Eine solche gelinde Erleichterung gehört zu den größten Wohlthaten und dem wiederkehrenden Glück, das wir mit Dankbarkeit anerkennen sollen. Aber niemals wollen die sterblichen, schwachen Menschen von diesem Genuß und der weisen Einrichtung der Natur auch nur sprechen. Unter allen geistlichen Liedern, die ich kenne (und ich habe tausende gelesen), ist auch kein einziges dieser wohlthätigen und höchst gesunden Anmuthigkeit gewidmet. Als wenn die Heilung von Gicht, oder anderm Schmerz, von Hauptweh, Krankheiten, so etwas Edleres und Höheres wäre. Das heißt die Natur verkennen.

Nun mein Gesellschafter! – Bald nach Sonnenaufgang überfiel mich heut dieser unabweisliche Drang: aus Erfahrung von Jahren her kenne ich alle Symptome und irre mich niemals. So standen wir vor einem hübschen Hause, nahe an der Landstraße; die Bewohner schienen noch zu schlafen. Ich dachte, weil das Hausthor schon geöffnet war, mich auf den kühlen Flur zu begeben, aber mein Tyrann widersetzte 525 sich mit aller seiner Gewalt. Unziemlich sei es, unhöflich, unsittlich, säuisch und mehr so grober Redensarten. Als wenn es gar keine christliche Gemeine gäbe und gegenseitiges Dulden und freundliche Toleranz. Mußte ich nicht noch eine Viertelmeile geängstigt laufen, bis wir an eine gemeine Kneipe geriethen, wo in aller Hinsicht für die Bedürfnisse der Menschen nur schwach und jämmerlich gesorgt war? Und das nennt mein Nachfolger (vielmehr Verfolger) Bildung und feine Welt! Ja wohl feine Welt, die sich vom einfachen Gange der hohen Natur entfernt hat. Flittertand, Modeputz, Verschrobenheit, Mangel an Offenheit, Herzlichkeit und allem ächt Menschlichen. Wohin wird diese Verbildung unser Jahrhundert noch verlocken? Ich bleibe dir, Natur, getreu! Amen. So sei es!

Linden mußte über diese neuen Ansichten laut lachen. Diese Betrachtungsweise schien dem sonderbaren Autor sehr nahe zu liegen und sich seiner Imagination fast ausschließlich bemächtigt zu haben. Eine andere Stelle, indem er blätterte, fiel ihm auf, welche so lautete:

Wenn ich mich zum Studium der Geschichte wende, so finde ich auch hier Gelegenheit, allenthalben Zweckmäßigkeit, Weisheit, Kraft zu bewundern. So ist der ebenfalls oft verkannte Till Eulenspiegel gewiß ein höchst merkwürdiger Charakter. Wie viele Menschen eine Flasche Wein, andere zwei, noch höher Begabte selbst drei bezwingen können, so geht aus seiner Biographie hervor, daß es ihm vergönnt war, das, was uns gewöhnlichen Sterblichen nur ein oder zwei Mal zu leisten möglich ist, er nach Gutdünken, so oft er nur mochte, verrichten konnte. Es schmerzt mich innig, daß ich im ganzen Buch keine Spur davon finde, daß er für diese Fülle der Gaben auch mit der wahren, ächt christlichen Dankbarkeit erfüllt war. Denn derjenige, der wohl zuweilen 526 unter Angst und Erpressung, Anstrengung und fast Krampf die feindseligen Dämonen bezwingt, die seiner Erleichterung entgegenkämpfen, kann dieses nie versagende Talent unsers Till gehörig würdigen. Ein solcher Mann war ja im Stande, wie gewöhnliche Menschen Visitenkarten abgeben oder in Ermangelung des Domestiken in das Schloß stecken, ein Andenken seiner vor die Thür zu setzen, das jeder seiner Freunde sogleich erkennen mußte. – Aber auch dieses würde mein sogenannter Gesellschafter so wenig billigen, daß er im Stande wäre, den ausgezeichneten Mann ohne weiteres deswegen zu verdammen. – O Christenpflicht! wie wirst du doch so gar wenig ausgeübt! Wie wird so oft das Falsche und Unächte bewundert! Doch, was kümmern mich diese entstellten Fratzen der Gegenwart! Laß mich, o Schicksal! immerdar meine eigenen Wege wandeln, mir selber genug, und treu und fest in meinem Glauben!

– Immer mehr zog Linden seine seltsame Lage in Betracht, und indem er sich lachend von seinem Buche erhob, sann er nach, auf welche Weise er sich wohl befreien könne. Seine Einbildung, so sehr er hin und her dachte, wollte ihm kein Mittel angeben. So las er wieder, um nur den Geist auf irgend eine Weise in Thätigkeit zu setzen, in seinem geliebten Olearius und erfreute sich an den kräftigen, ächt deutschen Gedichten unsers Paul Flemming, der damals die seltsame Gesandtschaft auf ihrem abentheuerlichen Zuge begleitete. So ward es Abend, und da er lange im Finstern blieb, um zu träumen und zu sinnen, sah er im Winkel wieder den Lichtschein, der von unten herauf schimmerte. Wieder waren es die beiden Gestalten, welche sich durch Zeichen unterredeten, und da er glauben mußte, daß jener Fremde, dessen Gesicht er immer noch nicht wahrnahm, seine Gefangenschaft anordnete, gerieth er gegen diesen in eine unbeschreibliche 527 Wuth. Hätte er ein Schießgewehr, ein Pistol in seiner Macht gehabt, so hätte er gewiß blindlings durch die Oeffnung hinuntergeschossen, auf die Gefahr hin, einen oder beide zu tödten. Er sprang aber auf und stampfte so heftig mit dem Fuße, daß die Untenstehenden, wie er es späterhin erfuhr, mit Kalk, Mörtel und Staub beschüttet wurden. Gleich darauf hörte er die Hausthür verschließen und verriegeln.

Die Alte brachte ihm Licht und zeigte sich noch erschrocken. Sie ging dann nach der Ecke, um jenen Winkel zu untersuchen. Linden war aber so vorsichtig gewesen, der Höhlung wieder das große Aststück einzufügen. Sie schüttelte den Kopf, betrachtete den Fußboden und kam wieder zurück, um ihren Gefangenen mit forschenden Blicken zu mustern. Dieser hatte sich wieder an das Manuskript begeben und schien so eifrig zu lesen, daß er die Verlegenheit und die fragenden Blicke der Alten gar nicht beachtete. Sie ging fort und verschloß sich bald in ihr Kämmerchen.

Das ist gewiß, sagte Linden zu sich, will ich mich befreien, so kann es nur geschehen, indem der fremde Bösewicht unten zugegen ist, denn in dieser Zeit wird doch die Thür des Hauses geöffnet seyn. Ich muß ihn niederschlagen, daß er betäubt liegen bleibt, die Alte muß ich dann binden und nachher auf gut Glück das Freie in der unbekannten Gegend suchen. Menschen müssen doch in der Nähe seyn, die mir helfen, die mich zurechtweisen können.

Im Manuskript suchte er die Stelle wieder, die ihm aufgefallen war; sie lautete so: – Betrachte ich über mir (wie wir uns angewöhnt haben zu sagen) das ewige Sterngewölbe mit seinen unzähligen Lichtern und Welten, und mein Geist erhebt sich schwindelnd, um die Allmacht und Unendlichkeit zu erahnden, so wird es mir deutlich, wie unsere Erde ein Punkt nur in diesem unermeßlichen Universum ist; 528 doch wie ein Glied der Kette zu allen Gliedern gehört, und alle diese wieder zu ihm, wie Wurzel zur Pflanze, und diese zur Luft, Licht zu dieser, und Thau und Nässe rückwärts nähren, und von den Genährten Duft und Ausströmung empfangen. Wie die alte Erde durch der Pflanze Verwesung, durch den Abgang der Thiere oder ihre Leichname neue Kraft empfängt, andere Bäume und Blumen wieder hervorzubringen, und – sollte es nicht ebenso im unendlichen Bau der Welten seyn? Wo hört diese auf und fängt jene an? Was liegt jenseit unserer Atmosphäre? Das erste Streben, das Erschauen mancher Astrologen war wohl erhaben zu nennen, und ist nur die Frucht der Astronomie, oder vielmehr die Begattung mit dieser. Reicht mein Gedanke, meine Sehnsucht bis in den fernsten Stern hinein, und springt die Elasticität der Liebe und meines Herzens bis in den Sirius und Orion, um sie in die Region meiner Andacht zu ziehen, so können diese Kreaturen sich ja wohl auch um mich kümmern und mir in klaren Himmelsnächten ihre Liebesblicke senden, um mich zu trösten, um da neue Ahndungen in meinem mir unbegreiflichen Geiste anzuklingen, wohin auch kein Gedanke reicht. Was ist tiefer, meine unsterbliche Seele und mein Gedanke an Gott, oder dieser Sternenhimmel? – –

Man kann wohl sagen, daß Linden erschrak, so viel Unsinn und Vernunft, Thorheit und Weisheit in einem und demselben Menschen gepaart zu finden. Aber unser Aller Wesen, sagte er zu sich, besteht wohl aus ebenso herben Widersprüchen, die unser gewöhnlicher Verstand niemals zu fassen oder aufzulösen vermag. Er war neugierig, den Schreiber, der hier gewohnt hatte, kennen zu lernen. Die Schrift war ziemlich neu, er mußte also noch leben, er war vielleicht genesen. – An einer andern Stelle hieß es: – In einem Theil der Tartarei wird der Herrscher, der große 529 Mogul, so sehr verehrt, daß alle Frommen und Vornehmen in Schächtelchen, oft von Gold und mit Edelsteinen besetzt, immerdar von seinem ausgetrockneten und gepulverten Unrath aufbewahren. Bei den höchsten Festen, oder wenn sie einem Gast die allergrößte Ehre beweisen wollen, streuen sie ein wenig von diesem heiligen Pulver auf die Speisen. – Wir lachen, – und wie oft, wenn wir uns nach Mahlzeit und edelm Wein erheben wollen, holen wir aus unsern Mahagonischränken klägliche Elegien, miserable Liederchen, gereimte Dummheiten, um uns lesend oder singend durch diesen Abgang der Poeten den höchsten Schwung hinauf zu geben! – Ja, ja, wo ist denn hier wieder die Grenze? – Ist es denn etwa besser, wenn wir mit Delice im Spargel, Ananas und andern Genüssen und Früchten das mit genießen, was der Abgang der Thiere, der Dünger, so geistig und treibend in den Weinbeeren und seinem Obst, im Brot und allen Gestaltungen der Erde hinein abgesetzt hat, um uns zu nähren und unsern Gaumen zu kitzeln? – Weiß ich denn, was Licht und Sonne und Mond ausgeben und filtriren, was sie sind und uns bedeuten? Und wenn nun jener, er, der Seiende, uns, so wie der Mogul, würdigte, das ihm Entbehrliche uns zuzusenden, ist das nicht für uns Arme die allerhöchste Entzückung, Andacht, Vision, die Wonne selbst? Vielleicht können wir von seinem Wesen nichts Anders fassen, und einem höhern Schauen in künftigen Ewigkeiten ist es vorbehalten, ihm selber näher zu kommen. Hier nur Glauben an das Kleinste, aufopfernde hinsterbende Liebe für das, was dem Irdischen Thorheit scheint, was der Weltmensch, und auch mein Gesellschafter, Aberwitz und Wahnsinn benennt. – O Du ewige Liebe, Dein bin ich, ich Wurm, ein Nichts, der Staub von Deinen Füßen, des mir Unbekannten, ist meine Nahrung und meine Wonne. Aber ich glaube an Dich, auch wenn Du 530 mich zertrittst, ich liebe Dich, und sage abergläubisch und sterbend, Du bist da, wenn ich nur im Rausch des entzückten Todes die Sohle gewahr werde.

– – Ist es möglich, sagte Ferdinand zu sich, daß dies Alles sich in ein und demselben Gehirne entwickelt hat? Immer kommt er in allen Bildern und Wendungen auf das zurück, was uns Menschen widerwärtig ist und vielleicht seyn muß, – und doch hat er Recht! – Ein andres Blatt fiel ihm in die Augen: –

– – Ich habe einmal einen fürchterlichen Schlag in meinem Gehirn gespürt, als ich nicht nachlassen wollte und mir mit aller Gewalt die vorige, anfanglose Ewigkeit Gottes, ohne Anfang (gräßlich!) immer weiter hinaus, immer wieder vorweg, ohne Ruhestellen, weiter, immer weiter (zum Entsetzen) vorstellen wollte. Die Ewigkeit nach uns ist immer noch ein abscheulicher Gedanke, aber doch noch eher, wenn man sich recht zwingt, zu ertragen. So sagt denn Schrift und Offenbarung. Gott habe einmal die Welt geschaffen. Früher war sie also nicht da. Ist das nun unsre Erde, mit ihren Pertinenzstücken, der Atmosphäre, Mond und etwa den Planeten? Oder das Ganze, das wir, wie die Blindschleichen, das Universum nennen müssen? Fährt er fort hinter dem Schirme, den uns die unaussprechbare Entfernung vorhält, zu schaffen? – Was war er, was um ihn, bevor er schuf? – Warum kam er auf den Vorsatz nicht früher? – Ist nun seitdem, da er allgegenwärtig, liebend, sich erkennend, in allen Kreaturen wirkend, in ihm eine Veränderung vorgegangen? Ist, um figürlich und menschlich zu sprechen, eine Geschichte in ihm entstanden, die sich fort und fort entwickelt? Was ist ihm das ewig veränderliche Blühen und Verwesen, der Leichenduft, das Aas der Thiere und Menschen, der Schiffbruch, der Ozean, das Licht, und die 531 Gedanken und Erhebungen, Begeisterungen seiner kleinen Menschen? Alles, alles will ich denken und mir einfallen lassen, nur niemals wieder jene ewige Ewigkeit vor der Schöpfung. Daran kann sich die Seele zersprengen und vernichten, oder im Sterben sich unmittelbar in Made, Wurm, Fliege und Käfer hineinretten, um sich selbst für den Vorwitz abzustrafen in jenem engen, völlig gedankenlosen Lebenslauf. – Und doch – warum kam mir der Gedanke? Ich hatte ihn nicht gesucht; man kann ihm eigentlich nicht ausweichen; aber er hat mich verrückt gemacht.

O du süßer Heiland! dein Bildniß, Dasein, Leiden soll uns auch von diesen gräßlichen Gedanken, von diesem Suchen nach dem unmittelbaren Vater des himmlischen Vermittlers erlösen. In der Kindheit las ich Gesänge, wo die Seele mit ihm spricht wie eine sehnsüchtige, brünstige Braut mit dem Bräutigam. Himmlische Bilder, selige Täuschung! Andere mystische Dichter sagten und sangen: Der Gott, den wir Christen glauben, der liebende, vermittelnde, komme uns in derselben Liebesbrunst entgegen, mit der wir ihn suchen, er gräme sich, wenn wir ausweichen, die einzelne Seele sei ihm so wichtig, wie er sich selbst, und nur in der Sünde erst habe sich die beiderseitige ewige Liebe erkannt, ohne sie kein Glaube, keine Liebe, kein Gott! – O himmlisch – süße Bildertäuschung! O Aberglauben! zum Sterben wonniglich. – Und eine Wahrheit dabei, so philosophisch, wie nur irgend eine denkbare. – Ja, Menschengeist, so regst du dich nun auf und ermattest an dir selber. Verkrieche dich, Schnecke, vor der Hitze des Sonnenmittags in das harte Gehäuse der Gewöhnlichkeit! – – –

– – Der junge Mann hatte vorher nicht geglaubt, daß ihn das Lesen im Buche des Thörichten so nachdenklich machen würde. Ja, es drängte sich ihm das Gefühl auf, 532 daß er auf demselben Wege, durch dieselben Grübeleien wohl seinen Verstand verlieren könne. Also, wie nahe, mochte er doch fast sagen, befreundet stand ihm dieser Geist, der ihm aus den frühern Blättern beinahe wie ein fremdartiges Wunderthier erschienen war.

Als er am folgenden Tage der alten Frau in der Küche seinen Besuch machte und in ihren Schränken dort herumkramte, entdeckte er zu seiner unbeschreiblichen Freude ein Dintenglas. Es wahr natürlich leer, die Flüssigkeit war auf dem Boden eingetrocknet und zeigte sich als eine steinharte Masse. Er hoffte aber durch Wasser das widerspenstige Wesen wieder aufzulösen, und so gelang es ihm auch. Schwerer war es, eine Feder zu finden. Man hatte offenbar die Absicht gehabt, ihn des Schreibmaterials zu berauben. Endlich fand sich auch ein uralter Stumpf, den er mit einem gewöhnlichen Messer zurechtzuschneiden versuchte. Wie erfreut war er, als ihm auch dies auf gewisse Weise gelungen war. Zwar hätte er in der Stadt, bei seinen Arbeiten, diesen elenden Federstumpf nicht eines flüchtigen Anblicks gewürdigt, aber in dieser Einsamkeit war ihm das unscheinbare Ding ein Schatz, denn er wollte alle Gedanken, die ihm hoffentlich kommen sollten, damit zum Andenken dieser Tage aufzeichnen. Im Buche des Thörichten waren am Schlusse noch viele Blätter leer, die er für seine Betrachtungen verwenden wollte.

Als er sich niedersetzte, fiel ihm eine Scheibe der Fenster ins Auge, die sonderbare Striche im Widerschein der Sonne zeigte. Er hatte dies noch nicht beachtet, und als er untersuchend näher trat, fand sich, daß mit einem Diamant Worte eingeschnitten waren. So hatte der Unkluge also auch dazu seine Zelle benutzt, um in einer Art von Lapidarstil seine Gedanken auf dem Glase zu verewigen. Als Ferdinand 533 sich näher umsah, entdeckte er, daß alle Scheiben auf diese Weise beschrieben waren. Er vermuthete, daß man dem Armen vielleicht auch mit zu großer Strenge Feder und Dinte genommen und daß sein thätiger Geist nun diese dürftige Aushülfe gefunden habe.

Er benutzte seine Schreibekunst zuerst dazu, manche dieser Inschriften der Vorzeit in dasselbe Buch einzutragen, und nannte die Sammlung

Gläserne Gedichte.

Hättest du mich, o Herr, als menschliches Bild nicht erschaffen,
Tönte auch nicht dein Lob vom Maule des schnatternden Affen.


Koth ist heute, was gestern noch Ananas war und Aroma:
Daß nur des Herzens Liebe sich auch nicht so thierisch verwandle.


Es ward mein Herz zur Eisenbahn:
Wie rennen die Gedanken!
Dich seh' ich in dem kleinen Kahn
Auf stiller See dort schwanken: –
Doch keine Nacht, kein längster Tag
Vereint uns, wie ich rennen mag. –


Jegliche Korrektur
Ist gegen die Natur,
Bleib mir, Kritik, vom Leibe,
Wenn auf der Fensterscheibe
Ich also dicht' und schreibe. 534


Kohlen sie werden aus tiefstem Schacht der Erde gegraben,
Ewige steinerne Ruh' mußt flügeln die Thorheit der Menschen.


Könnt' ich nur einmal denken,
Was ich nicht denken will,
So läge Angst und Denken
Auch wohl noch einmal still:
Doch weil dies alte Denken
Ich denken muß und will,
So wird das krampf'ge Renken
Der Seele niemals still.


Bin ich matt, so bin ich unzufrieden;
Bin ich munter, fang' ich an zu rasen.
Kommt die Reue, wein' ich wie ein Kind.
Warum leben denn und leiden –
Löscht dies Feuer auch der grüne Rasen?


Mit dieser Entzifferung der Keilschrift und der durchsichtigen Hieroglyphen war der Abschreiber noch beschäftigt, als dem Erschreckten, tief Erschütterten, das Buch aus der Hand fiel. Ein Posthorn ließ sich deutlich vernehmen, es konnte gar nicht weit von diesem versteckten Hause seyn. So war also eine Landstraße ganz nahe? Menschen, Freunde vielleicht in der Gegend, die seine Stimme abrufen konnte? Thränen stürzten ihm aus den Augen, als diese wundersamen Töne durch sein Herz schlugen. Alle Reiselust seiner frühen Jugend, die Wälder und Gebirge, die er erträumte, die süßen Abentheuer, der Wunderglaube an seltsame Erscheinungen, alles brachten ihm diese verklingenden Töne wieder. Er öffnete sein kleines Fenster, rief und weinte hinaus, aber 535 schon entschwanden die letzten Töne. Auf demselben lichten Waldfleck, über den neulich der kleine Hase hinweggehüpft war, stand heut ein schönes, braunes Reh, ganz still, und als wenn es den klugen Kopf horchend und lauschend nach ihm hinwendete. Er grüßte, er sprach zu dem Waldthiere, als wenn es ein befreundeter Geist, oder eine mächtige Waldfee sei, von der er seine Befreiung erflehte. Das Thierchen schüttelte mit dem Haupt und ging mit zierlichem Schritt langsam in die Bäume hinein. Da lief er, wie in Verzweiflung, in seiner Stube mit eiligen Schritten auf und ab, – aber wie ward ihm, als nun entfernter, aber ganz vernehmlich, zwei Waldhörner erklangen, die erst gemeinsam bliesen, sich dann anmuthig antworteten und zuletzt wieder ihre Töne vereinigten. Ein schwärmendes Echo antwortete in den Pausen und die Blätter der Linden rieselten, wie in freudiger Bewegung.

O Jammer! rief Ferdinand aus, daß ich hier verweilen muß! daß ich nicht einmal erfahren kann, was dieses liebliche Konzert zu bedeuten hat und ob es mir etwas bedeutet. O ihr Wälder, o Berge, Ströme, Wiesen, hemmt nicht so grausam meine Wehklage, daß sie dort hinströme, in diese befreundeten Töne hinein! daß ihr Erklingen mir dann eine Antwort werde. Warum kann ich mein Herz nicht hinaussenden, das in meiner Brust so ungeduldig zittert und strebt? Ach, es ist in diesem Körper ebenso, wie ich in diesem unglückseligen Hause, eingefangen.

Jetzt waren auch die Waldhörner verstummt. Waren es Reisende, die sich dort, vielleicht im Walde, dieses Vergnügen bereiteten? Sollten es doch Signale seyn? Suchte man ihn wohl mit diesen süßen Melodien? Warum kam man nicht näher? Wußte man von ihm? Oder war alles nur Zufall? Wenn Jäger aus der Nachbarschaft, warum 536 vorher das Lied des Posthorns? – Er war außer sich in Hoffnung und Verzweiflung.

Aber fort mußte er, durch jedes Mittel, unter jeder Bedingung. Er erwartete den Abend, aber mit der Finsterniß kam ihm keine Erfindung, entdeckte er keinen Ausweg. In dieser Nacht hatte er nicht schlafen können, so angegriffen er sich auch fühlte.

Wie kann man, schrieb er in das Buch, nur nicht an dieser Sehnsucht sterben? Giebt es nicht Fälle, wo das Herz im buchstäblichen Verstande bricht? O Sidonie! du hattest im tiefsten, heiligsten Heiligthum meiner Seele geschlummert. Nun steigt dein edles Bildniß in aller Majestät der Schönheit in alle meine Kräfte und breitet sich aus wie ein großer Palmbaum, wie eine weitschattende Eiche, wie eine Göttergestalt, die vom Gebirge herniederschreitet und den erstaunten Augen des Sterblichen immer größer und mächtiger auseinanderwächst. – Wie versäume ich meine Tage und Stunden, und gewiß gehst du mir indessen verloren? Ich sehe, daß nur dies die Absicht meiner Feinde seyn kann. Warum war ich denn bisher so betäubt, wie in einen Traum gewiegt? – Fort muß ich – aber wie? O du verdammte, nichtswürdige Waldeinsamkeit! – Doch nein, ich will ja weder schelten noch scherzen. Aber warum denn auch Alles mit dieser stumpfen Feder niederschreiben? Thor, der ich bin! Aberwitziger!

Er genoß am Mittag nur wenig. Gegen Abend stand er in der Küche bei der Alten und blickte starr in das rothe, flackernde Feuer. Da erhob er das Auge und unmittelbar über dem Schornstein stand ein hellleuchtender Stern. Er maß mit dem Auge die schwarze Höhlung und begriff nicht, wie er nicht schon früher auf diesen rettenden Gedanken gefallen sei. Er war nun mit der Alten freundlicher als je. 537 Er hatte ihr wiederum am Mittag von seinem Wein mitgetheilt, und je öfter sie trank, je mehr schien sie der stärkenden Labung Geschmack abzugewinnen. Mit Zeichen machte er ihr deutlich, denn auch in dieser Sprache verstanden sich die beiden Einsamen schon besser, daß er noch eine Flasche wünsche, aber von einer andern Sorte. Auf ein abgerissenes Blatt malte er, so viel er sich erinnerte, das Wort ›Tokayer‹ nach, wie er es im untern Behältniß auf den Flaschen geschrieben gesehen hatte. Die Alte konnte gewiß nicht lesen, aber sie schien seine Meinung zu begreifen, sie sah das Papier lange an, wies mit dem Finger auf die Buchstaben und nickte dann beifällig. Sie ging hinunter und kam mit einer bezeichneten Flasche wieder. Sie deutete auf die Schrift, verglich sie mit dem Zettel und schien sich, eitel, ihrer Klugheit sehr zu freuen. Ferdinand holte ihr Glas, öffnete die Flasche des starkduftenden Saftes und schenkte ihr und sich ein. Sie schlürfte, kostete, nippte, trank und schlug einen gellenden Schrei des Beifalls in Freudigkeit auf, denn ein solcher Trank hatte ihre Lippen gewiß noch niemals genetzt.

Ferdinand, der die Stärke des süßen Weines kannte, hütete sich wohl, viel davon zu genießen. Desto fleißiger schenkte er seiner Wirthin ein, die sich wohlbehaglich niedergesetzt hatte, um recht in Ruhe die Herrlichkeit des Getränkes auszukosten. Sie lächelte immer mehr, ihre Blicke wurden feucht, ihr Anblick komisch und schauerlich. Dann, sowie sie wieder ein Glas eilig hinuntergetrunken hatte, kam ihr eine zitternde Bewegung in die Beine, sie sprang auf, umfaßte den jungen Mann und tanzte mit ihm hüpfend im engen Raume hin und her. Er ließ sich diese sonderbare Anmuthung gefallen und konnte sich wohl denken, daß sie sich ihrer Jugend erinnerte und jetzt im Alter nachahme, was sie damals von Andern gesehen haben mochte. Sie taumelte 538 endlich erhitzt und ermüdet auf ihren Sitz zurück, und da sie wieder getrunken hatte, schlossen sich die Augen in süßer Betäubung. Er führte die Wankende in ihr Kämmerchen, wo sie sich alsbald auf das Bett hinstreckte und in einen festen Schlaf verfiel. Er verriegelte ihre Thür, hörte das Athmen der Schlafenden und fing jetzt an, seine Flucht, wie er sie sich ersonnen hatte, zu bewerkstelligen. Er stellte einen hohen Schemel auf den Heerd der Küche, nahm einige Zangen und bestieg den Heerd wie den Schemel. Mit der Feuerzange und Schaufel suchte er sich im Schornstein festzuklammern, schwang sich, als die Instrumente in der Mauer hafteten, mit Leichtigkeit hinauf und steckte jetzt in der schwarz geräucherten Höhlung. Nun suchte er, wie er es wohl an den Schornsteinfegern beobachtet hatte, mit Knien und Händen und angestemmten Ellenbogen sich hinaufzuarbeiten. Er kam höher, gleitete auch wohl wieder um einen Fuß breit zurück, da er die Uebung nicht hatte, auch die Höhle, weil sie nicht eng genug war, ihm die Sache schwerer machte. Doch gelangte er mühsam, und indem ihm der Schweiß von Stirn und Wangen in großen Tropfen rann, immer um ein Weniges höher. Nach oben zu verengte sich auch der Schlott immer mehr, so daß er jetzt schon die kühl einströmende Abendluft auf seinem Scheitel fühlte. O Freiheit! rief er begeistert aus, laß dich erringen! Und mit vereinten Kräften, in einem Aufschwung, saß er jetzt auf dem Rande des Schornsteins. Er ruhte ein Weilchen und sah in die enge Höhle zurück, die er jetzt verlassen hatte. Nun begab er sich auf das Dach, rutschte vorsichtig hin und her, um zu erspähen, von wo er sich am besten hinunterlassen könne. Fuß und Hand tastete nach den Vorsprüngen im Holz und in der Mauer. Das Häuschen war nicht hoch, aber Vorsicht war dennoch nöthig, um nicht hinabzustürzen und Schaden zu nehmen. Er gerieth 539 auf die richtige Spur, und so halfen ihm die Eisenstäbe, die bisher seine grausamsten Feinde gewesen waren, jetzt zu seinem Vortheil. Er klimmte langsam, indem die Hände den Körper oben festhielten, hinab. Da griff er in eine Oeffnung. Es war die ihm wohlbekannte bewegliche Fensterscheibe. Er blickte in sein verlassenes Gemach. Da brannte das Licht, das er auszulöschen vergessen hatte; noch einmal schauten ihn die bunten Bilder von den Wänden an und nun stieg er tiefer hinab. Wie, dachte er, wenn in diesem Augenblick jener Unbekannte vorn an der Hausthür stände: dies ist seine Zeit, in welcher er zu kommen pflegte. Er sah hinab, soviel er es in der Dunkelheit vermochte, aber er entdeckte nichts. – Nun stand er unten, auf fester sicherer Erde, frei, erlöst, sich selber zurückgegeben. Er schüttelte sich vor Freude und streckte die Arme in den dunkeln Nachthimmel hinaus. Er merkte es in seiner Entzückung nicht, daß seine Hände bluteten, daß er am Kopf sich verletzt hatte, die Freude über sein neuerrungenes Glück verschlang alles andere Gefühl.

Er sah sich um. Das Licht aus seinem Zimmer glänzte zitternd an den Baumstämmen. Alle Blätter des Waldes standen still, kein Rauschen, kein Laut von einem Vogel oder Thier. – Er war unschlüssig, nach welcher Richtung er gehen sollte, denn er sah keinen Weg. Endlich entschied er sich, diesem Schimmer des Lichtes den Rücken zu wenden, um nach der entgegengesetzten Seite zu fliehen. Er nahm einen Baumstamm auf, über welchen er stolperte, und freute sich der Waffe, die ihm vielleicht gute Dienste leisten könne, wenn er auf seine Feinde stoßen solle.

Er drängte sich durch Gebüsch und Dorn, weil er durchaus keinen Fußsteig ermitteln konnte. Oft strauchelte er, mehr wie einmal rannte er gegen einen Baum. So stolpernd, keuchend, schon ermüdend, in Schweiß gebadet, 540 gelangte er endlich an eine etwas lichtere Stelle. Aber plötzlich stand er still – fast wäre er hineingestürzt, noch rettete ihn ein plötzliches Aufblitzen des Wassers und das Rauschen der Wogen – ein Bach, Fluß oder Strom lag vor ihm. Er prüfte mit der Stange und fand, daß das Wasser sehr tief sei. Einen Augenblick gönnte er sich Ruhe, trocknete den Schweiß und setzte sich, verschnaufend, nieder. Da ihm aber jede Verzögerung gefährlich dünkte, so entkleidete er sich schnell, wickelte alles in einen Bündel und schwamm hinüber. Ebenso rasch geschah das Ankleiden, und er begann seine Wanderung auf das Ungewisse wieder. Bald glaubte er im dichten Walde auf einem Wege zu seyn, das Gehen ward ihm bequemer, er glaubte den Schimmer des Morgens wahrzunehmen. Tapfer und ermuthigt schritt er weiter, und, indem es wirklich schon hellte und die frühesten Morgenlichter durch das Dunkel des Waldes leuchteten, stand er vor einer großen, aber niedrigen Hütte, rund um ihn ein herber Duft von Pech und Theer, oder schwelenden Meilern.

Alles war still, Niemand in der Nähe, und so trat er in die Köhlerhütte. Im ziemlich weiten Gemach stand eine Lampe auf einem runden Tisch und im Bette lagen zwei Kinder, welche laut schrien und heulten, als sie den fremden, verwilderten Mann eintreten sahen. Eine Thür öffnete sich und der Köhler mit seinen Söhnen und der Frau trat hinzu, scheltend und sich verwundernd, daß ein Bettler oder Raubgesell es wage, in sein Eigenthum zu brechen. Es war nicht zu verwundern, wenn die Leute den jungen Linden für einen Diebsgesellen oder noch etwas Schlimmeres hielten. Er war ohne Hut, die Haare verwirrt und voller Ruß, das Gesicht geschwärzt und blutig, die Hände noch mehr, die Kleider zerrissen, die Beinkleider voller Löcher, vom Oberrock hing ein großer Fetzen herab, so sehr war in der Wildniß sein Anzug 541 verdorben worden. Linden suchte sich den barschen, aber gutmüthigen Leuten verständlich zu machen. Er bat zur Erquickung nur um ein Glas Wasser, nannte seinen Namen und Wohnort und deutete sein sonderbares Schicksal an. Die Alte brachte ihm Brot und eine Schale kühler Milch, an welcher er sich labte und erfrischte. Von dem Waldhause, welches er beschrieb und das nicht weit entfernt seyn könne, wollte keiner etwas wissen. Die alte Frau nahm sich seiner an und zog ihm selbst den Rock aus, um den niederhängenden Zipfel wieder festzunähen; die Männer betrachteten ihn aber immer noch mit einigem Mißtrauen. Sie nahmen ihn mit, da sie nach ihren Meilern gingen, und bezeichneten ihm, als sie Abschied nahmen, eine Schenke im nächsten Dorf, die er nicht verfehlen könne.

Wie ein Verlassener, von der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßener wanderte nun Ferdinand über die Flur, ohne Geld, ohne Hut, mit zerrissenen Kleidern, und, ob er sich gleich in der Hütte gewaschen und gereiniget hatte, mit Spuren von Wunden und Blut im Gesicht und an den Händen. Konnte er wünschen, auf Menschen zu stoßen, wenn er nicht so glücklich war, auf Bekannte zu treffen? War es nicht möglich, daß er als ein Verdächtiger der umstreifenden Polizei oder den Gensdarmen in die Hände fiel, die nur gar zu oft den Unschuldigen zur Last fallen und nicht selten die wirklich Verdächtigen nicht erkennen? So trat er zögernd in das bezeichnete Dorf ein, und er wunderte sich nicht, als ihn der Wirth der Schenke, welcher in der Thüre stand, schon von fern mit einer wegweisenden Geberde entfernen wollte. Er faßte sich Muth und begrüßte den Mann höflich mit wohlgesetzten Redensarten und ersuchte denselben, ihm in die Stube zu folgen.

Der Wirth schüttelte ungläubig den Kopf, als ihm sein unscheinbarer Gast Stand und Namen nannte, ihm kürzlich 542 seine Geschichte erzählte und ihn ersuchte, ihn nur einige Tage zu beherbergen, wofür er ihn dann reichlich belohnen wolle. Indessen gab auf wiederholtes inständiges Bitten der Zweifler endlich nach und versprach, ihn auf etliche Tage zu verpflegen und ihm Kost und Lagerstätte zu geben. Ferdinand erfuhr hier zuerst, daß jene Stadt, seine Heimath, fast funfzehn Meilen von hier entfernt sei, und daß also vier oder fünf Tage vergehen würden, bevor er auf seine Briefe Antwort erhalten könne, da überdem das Dorf von der großen Straße weit entfernt lag. Er setzte sich sogleich nieder, um diese Briefe zu schreiben, nachdem der Wirth mühsam Papier, Dinte und Feder zusammengesucht hatte. Er schrieb an seinen Onkel, erzählte nur summarisch seine sonderbare, fast unglaubliche Geschichte und ersuchte ihn, ihm in schnellster Eile eine Summe Geldes zu senden, um sich auszulösen, irgendwo leidliche Kleider zu kaufen, und in der Stadt anständig wieder erscheinen zu können. Ein zweiter, höchst leidenschaftlicher Brief war an Sidonien gerichtet, ein dritter an seinen Freund Helmfried, dem er zumuthete, daß er ihn in Person abholen und ihm Kleider und alles Nöthige mitbringen solle. Er verließ sich darauf, daß eines dieser Schreiben gewiß an die Adresse gelangen würde, vorzüglich, da er sich auch noch an einen Banquier wendete, von dem er schon öfter Gelder erhalten hatte. Die nächste kleine Stadt, wo sich eine Post befand, war über zwei Stunden entfernt, und so mußte sich Linden nun mit Geduld waffnen und in erzwungener Ruhe die Antworten abwarten, sich mit dem trocknen, einsilbigen Wirth unterhalten, oder in dem Buch des Thörichten lesen, welches er, fast ohne es zu wissen, in der Rocktasche mitgenommen hatte.



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