Ludwig Tieck
Waldeinsamkeit
Ludwig Tieck

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Als nach einigen Tagen den jungen Baron Linden seine Freunde besuchen wollten, war er nirgend zu finden. Sein Oheim, als dieser dessen unvermuthete Abreise erfuhr, suchte nach Briefen, die jener vielleicht, um seine Absicht kund zu thun, zurückgelassen haben könne, aber jede Bemühung, irgend eine Nachweisung aufzufinden, war vergeblich. Sein Bedienter wußte gar nichts von ihm auszusagen, denn im Unmuth und Verdruß hatte er diesen einige Tage vor seiner plötzlichen Abreise mit Scheltworten aus seinem Dienste entfernt, weil er schon lange mit ihm wegen dessen Nachlässigkeit und Zerstreuung unzufrieden gewesen war.

499 So war denn also diese Reise, gegen welche, als gegen Verleumdung, Linden so eifrig protestirt hatte, dennoch nach einem längst entworfenen Plane ausgeführt worden. Es war nicht zu verwundern, wenn der Oheim dem jungen Manne ernsthaft zürnte, weil er ihm nicht verzeihen konnte, daß er feierlich und mehr als einmal seine Ehre verpfändet hatte, wie er an keine Reise denke, daß sie weit von seinen Planen abliege, daß er das Gerücht davon Lüge und Verleumdung gescholten hatte. Helmfried suchte seinen Freund zu entschuldigen und wollte diese unerwartete Begebenheit als eine Folge der Hypochondrie erklären, die den jungen Mann schon seit lange gequält habe. Vielleicht, fügte er hinzu, hat er sich auch mit seiner Geliebten auf eine so empfindliche Art gezankt, daß er in einer vorübergehenden Verzweiflung diesen unbegreiflichen Schritt gethan hat; eine plötzliche Rückkehr würde wahrscheinlich bald seinen Freunden dies Räthsel erklären. Der Oheim ließ sich durch diese Vorstellungen wieder etwas beruhigen, aber nicht so Sidonie, die, tief verletzt, ihren Zorn gar nicht zu verbergen suchte. Es schien auch, daß sie gegründete Ursach habe, den Mann, der ihr so heftig ergeben schien, zu verachten. Denn sie wollte die sichere, unbezweifelbare Nachricht haben, er sei nach dem Rhein gereiset, um sich dort mit einer schönen, reichen Gräfin zu verheirathen, die er schon seit zwei Jahren kenne. Wegen ihres großen Erbes hätten die Verwandten, obgleich Linden ebenfalls reich war, bis dahin große Schwierigkeiten erhoben. Der letzte Brief von ihr habe ihm gemeldet, daß Alles glücklich beseitigt sei, dies habe ihn so plötzlich bestimmt, und er möge sich vor Scham keinem seiner Bekannten und Freunde wieder zeigen wollen. Erst als Vermählter werde er nach Jahren, wenn sein Betragen fast vergessen sei, wiederkehren.

500 So sehr Sidonie von dieser Lage der Sachen überzeugt war, so konnte sie doch die Gegend nicht genau bezeichnen, in welcher die Güter dieser reichen Gräfin liegen sollten, und so fand ein anderes Gerücht ebenfalls bei Andern Glauben, daß die Schöne, die ihn bezaubert habe, eine polnische Dame sei, der er schon seit lange sein Wort und sein Herz verpfändet habe.

Indem sich Helmfried eifrig bestrebte, seinen Freund in der guten Meinung der Stadt wiederherzustellen, und er bald diesen, bald jenen besuchte, war es natürlich, daß er Sidonien öfter als ehemals sah. Sie nahm zwar, aufgereizt wie sie war, seine Entschuldigungen nicht an, aber sie ließ ihm selbst die Gerechtigkeit widerfahren, daß er sich als einen ächten und treuen Freund seines Freundes zeigte, der nicht müde wurde, mit ihr über den seltsamen und tadelnswerthen Schritt des so schmerzlich Vermißten zu streiten. Denn Helmfried sah wohl, wie sehr diese deutliche Untreue in das Herz des Fräuleins geschnitten hatte; auch fühlte er, daß er in seinem Disput mit ihr weniger heftig seyn müsse, um sie nicht zu sehr zu verletzen. Diese zarte Schonung verkannte Sidonie nicht, und so kamen sich durch diesen Vorfall die beiden Menschen mit jedem Tage näher und näher, wodurch die lauernden Beobachter und Neuigkeitskrämer bald bewogen wurden, von einem innigern Verhältniß zu schwatzen, das sich binnen Kurzem als Verlobung und Ehe ankündigen würde.

Es schien auch, als wenn Helmfried selbst diese Vermuthungen bestätigen wollte, denn der Inhalt seiner Gespräche war Lob und Bewunderung des schönen Fräuleins; und da Linden immer nicht wiederkehrte, man auch nichts von ihm vernahm, so meinten Alle, der Verlauf dieser Begebenheiten sei ein ganz natürlicher. Es gab aber Stunden, 501 in welchen Helmfried vor der bösen Laune, dem tiefen Unmuth und Zorn seiner schönen Freundin erschrak, und er fühlte dann wohl, daß der Ungetreue ihrem Herzen tiefer eingewachsen sei, als sie es sich selber jemals habe gestehen wollen.

Tief betrübt war der Oheim. Die gemeine Lästerung der Bosheit, der Neffe sei entwichen, um sich dem bevorstehenden Examen zu entziehen, konnte er mit Lachen abweisen, denn er wußte, wie fleißig der junge Mann gewesen war, und daß sein Vermögen so ansehnlich sei, daß ihm, auch ohne dem Staate zu dienen, ein freies, behagliches Dasein gewiß bleibe. Ein alter Universitätsfreund aber, der ihn auf seinen Reisen besuchte, hatte ihm eine ganz andere Nachricht, und mit dieser einen großen Schreck beigebracht. Dieser Graf nehmlich wollte es für gewiß ausgeben, Linden habe eines unausweichlichen Duelles wegen so plötzlich abreisen müssen, die Ehrensache sei so sonderbar und habe keinen Aufschub vertragen, daß der junge Mann, ohne sein Wort zu brechen, keinem Menschen vorher einen Wink habe mittheilen dürfen.

Ganz zufällig sei der Graf auf der Reise auf die Spur dieses Handels gerathen, und er glaube und hoffe den Ort finden zu können, wo der Neffe, wenn nicht tödtlich, doch schwer verwundet liege. Diese Erzählung machte den alten Wangen so bestürzt, daß er sich erst nicht zu fassen wußte, doch nach einiger Zeit den Grafen beredete, mit ihm umzukehren und die Spuren zu verfolgen, um dem Unglücklichen zu helfen, ihn wohl gar vom Tode zu retten.

Als die beiden Männer auf der Reise waren, zeigte es sich, daß diese Spuren, denen sie nachgingen, sehr ungewisse waren. Von einer kleinen Stadt zur andern, von einem Dorf zum andern wurden sie verlockt. Mehr wie einmal 502 glaubten sie zur Stelle zu seyn, und immer wieder fanden sie sich getäuscht. Doch nahm sich der Oheim vor, aus Ueberdruß seine Forschungen nicht aufzugeben. Er schrieb täglich nach seiner Heimat, damit seine Freunde dort von seinem Aufenthalt immer unterrichtet blieben, er es auch sogleich erfahren könne, sowie sein Neffe zurückgekehrt sei. – –

Aber wohin hatte sich denn Linden verloren? – Wie geschah es, daß Niemand Nachricht von ihm hatte? – –

Nach einem betäubenden Schlafe, von dem er nicht auszusagen wußte, wie lange er gewährt hatte, erwachte er, immer noch ohne deutliche Besinnung, indem eine heitere Sommersonne in Streifen auf sein Bett schien. Er war entkleidet, das Gemach, in welchem er sich befand, dämmernd, vor dem kleinen Fenster grüne Bäume. Wie war er hieher gekommen? Er wußte es sich nicht zu sagen. So viel sah er wohl, daß dieses Gemach nicht dasselbe war, welches er in der Stadt bewohnte.

Er erhob sich, indem er sich bemühte, seine Erinnerungen anzuknüpfen. Nur ganz dunkel schwebte es ihm vor, in welcher Gesellschaft er sich am letzten Abend befunden hatte. Ob sein Freund Helmfried noch zu den Trunkenbolden gekommen war oder nicht, konnte er sich nicht deutlich entwickeln; zuweilen wollte ihm sein schwankendes Gedächtniß sagen, er hätte dessen Figur noch gesehen und seinen Ton vernommen; weil er aber das Eine und nur das Eine mit Zuverlässigkeit wußte, daß er sich an jenem Abende aus Ueberdruß, und nicht aus Muthwillen völlig um seinen Verstand getrunken habe, so war es ihm nicht möglich, aus jenem tollen Chaos irgend etwas mit Klarheit zu entwirren.

Als er aufgestanden war, fand er Kleider vor, die ihm 503 zwar paßten, aber doch nicht die seinigen waren. Auch Wäsche war ihm hingelegt, ziemlich feine, doch unbezeichnet.

Bin ich denn die Figur eines bizarren, wunderlichen Mährchens? fragte er sich selber. Wer hat mich hieher gebracht? Und weshalb? Was hat man mit mir vor? Bin ich ein Gefangener? Ist es Scherz oder Ernst? Scherz? Welchen Sinn könnte der haben? Und Ernst? Noch viel weniger zu begreifen! Er sah, daß das Fenster des Schlafgemachs mit eisernen Stangen, wie ein Gefängniß, verwahrt war. Draußen nahe an der Mauer stand eine große Linde, von welcher die Vögel ihre heitern Lieder sangen und Schwalben zwischen den eng verschränkten Zweigen schlüpften, um zu ihren Nestern, die sie an die Ecken der Fenster geklebt hatten, den Jungen die Nahrung zu bringen. Er öffnete eine Thür und trat in ein größeres Zimmer, welches dem Auge einen sehr anmuthigen Anblick darbot. Es war rundum mit Holz belegt und mit bunten Bildern geschmückt, welche ländliche Scenen darstellten. Vor den beiden Fenstern waren ebenfalls Lindenbäume, so daß eine grüne Dämmerung kühlend im Gemach schwebte. Die Fenster waren auch mit eisernen Stäben verwahrt. So weit man zwischen diesen und den Zweigen der Linden durchblicken konnte, sah man Wald, Buchen und Eichen, so daß dieses kleine räthselhafte Haus mitten in einem dichten Walde, abgelegen von der Landstraße zu liegen schien, und so erstaunt der junge Gefangene noch immer war, so mußte er doch lächeln, als ihm jetzt jenes kleine Gedicht von der Waldeinsamkeit einfiel.

Indem er sich noch umsah, öffnete sich in der Wand gegenüber ein kleines Schiebefenster, aus welchem das häßliche Angesicht einer alten Frau kuckte. Sie blinzelte mit den kleinen grauen Augen und lächelte auf seltsame Weise. Ferdinands erster Gedanke war, eine Wahnsinnige zu erblicken, 504 aber bald merkte er, nachdem er seinen ersten Schreck überwunden hatte, daß diese unglückliche Person taubstumm sei und sie ihm zu verstehen geben wolle, daß sie zu seiner Bedienung bestimmt wäre. Als er aus ihre Zeichen erwiederte, daß er Hunger fühle, reichte sie ihm ein Tischgedeck, dann Teller durch die Oeffnung, worauf sie sich entfernte. Er blickte in eine kleine Küche, in welcher ein lustiges Feuer brannte. Sie kam wieder und reichte ihm Suppe, so wie andere gut zubereitete Gerichte, und der junge Mann, dem nichts übrig blieb, als sich in sein sonderbares Schicksal zu ergeben, setzte sich an den kleinen Tisch und verzehrte die wohlschmeckenden Gerichte mit vielem Appetit. Sie erschien abwechselnd am Fenster, aber alle Fragen waren natürlich umsonst, weil die taube Alte ihn nicht vernahm, sie ihm auch, da sie zugleich stumm war, kein Wort sagen konnte.

In Lagen, in welche der Mensch unvermuthet gestürzt wird, die er nicht ändern, selber nicht begreifen kann, findet er sich mit stiller Resignation leichter, als wenn Gefahr, Aerger, Ungewißheit ihn bedrohen und sein Entschluß oder neuer Wechsel die verdrüßliche Situation noch verbessern können. Dies erfuhr auch Linden jetzt, der wie im halben Traume oder Rausch sich ganz dem Unbegreiflichen seiner Lage hingab, und bald sein Zimmer, die Fenster, die säuselnden Bäume draußen betrachtete, und weil er nichts errieth, was ihn in dieses Zimmer gebracht haben könne, wieder frühere Scenen seines Lebens seiner Phantasie vorübergehen ließ.

Ist es denn aber auch gewiß, dachte er dann wieder, daß ich jetzt nicht träume und bald in meiner gewohnten Umgebung erwachen werde? Bin ich denn schon je in meinem Leben so berauscht gewesen, daß mir etwas Aehnliches hätte widerfahren können, als was ich jetzt zu erleben glaube? Ist dies Alles um mich her aber Wirklichkeit und kein Traum, 505 der mich früher oder später verlassen muß, so ist es kein Zufall oder Irrthum, daß ich mich hier befinde, sondern eine Absicht – aber welche? Wer kann mir den Streich gespielt haben, der doch entweder ein schlechter Scherz oder eine boshafte Absicht ist?

Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Er musterte alle seine Bekannten und konnte bei keiner einzigen der vielen Gestalten verweilen, denn wenn es Bosheit war, so fand er keinen Zusammenhang, keinen Feind, dem diese gewaltsame Entfernung auf irgend eine Weise nutzen könne; war es nur armseliger Spaß, so würden sich die Erfinder desselben gewiß schon gemeldet haben. Dachte er an den Vorrath von nicht gezeichneter Wäsche, so mußte er freilich wieder fürchten, es sei der Wille seiner unbekannten Gegner, ihn recht lange hier fest zu halten.

Er war jetzt überzeugt, daß er nicht träume. Die Bäume vor seiner Stube, die Dielen des Zimmers vor seinen Füßen, deren Nägel er zählte und ihre Astlöcher genau bemerkte, waren alle gar zu sichtlich und deutlich seinen beobachtenden Augen. Jetzt sank die Sonne, und die schrägen Strahlen des Gestirns malten die Wände und den Fußboden mit sonderbaren sich bewegenden Gattern; die erleuchteten Zweige der Linden und der Buchen, die hinter diesen standen, erglänzten wie Smaragd, und ein ganz kleiner Wiesenfleck, der sich in den vielfachen Rahmen der Bäume abschnitt, war ihm durch die röthliche Erleuchtung merkwürdig, und noch mehr dadurch, daß so eben ein Häschen über diesen lichten Punkt wegsprang.

Er öffnete die eine Scheibe des Fensters, um frische Luft zu athmen, denn das Fenster war so verkrammt, daß die Flügel sich nicht aufmachen ließen. Ein lieblicher Duft der Abendfrische quoll in das Gemach, in der Ferne sang 506 eine Nachtigall, die Schwalben über ihm zwitscherten und schwatzten in den Nestern, auch war es ihm, als wenn er das leise Girren eines entfernten Flusses oder Baches in der abendlichen Stille vernähme: daß im Baum, nicht weit entfernt, zwei Turteltauben ihren gurgelnden Diskurs führten, war ihm gewiß.

Es durchzuckte ihn das sonderbare Gefühl wie ein Blitz, daß er eigentlich glücklich sei, daß er sich oft in einen ähnlichen Aufenthalt hineingesehnt habe, und er gestand sich, daß, wenn diese sonderbare Prüfung nicht zu lange dauere, er eine poetische Waldeinsamkeit hier genieße, wie sie ein phantastischer Dichter sich nur immer wünschen kann.

Als die Strahlen des funkelnden Abendroths verschwunden waren, schloß er die bewegliche Fensterscheibe, und ihm gegenüber öffnete sich das kleine Küchenfenster wieder. Jetzt zeigte sich ihm ein Bild, ganz so, wie viele von Schalken unsere beifällige Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die Alte neigte den Kopf fragend mit einer Kerze vor, so daß die Flamme des Lichtes nur ihr bleiches, runzelvolles Angesicht beleuchtete. Sie fragte ihn mit Mienen, ob er des Lichtes bedürfe. Er verneinte es, weil er sich müde fühlte und noch kurze Zeit die poetische Dämmerung seines kleinen Zimmers genießen wollte. Eben so wies er das zubereitete Abendessen, das in der reinlichen Schüssel dampfte, zurück, weil er erst kürzlich sein Mittagessen genossen, indem er den größten Theil des Tages geschlafen hatte. Die taubstumme Alte zog sich zurück, das Feuer in der Küche erlosch und er erschrak fast, als die goldglühende Scheibe des Vollmondes ihn mit vollem Glanze durch die verschränkten Zweige anschaute.

Nun ward die sonderbare Einsamkeit noch einsamer, eine stille Weihe zog draußen wie segnend und zum 507 Schlummer ladend über Wiese und Wald; ein leichter, kräuselnder, feuchter Nebel ward an der Stelle sichtbar, über welche kürzlich das kleine Hasenthier hüpfte, die Bäume hielten ihre Blätter an und nur in den obersten Wipfeln rieselten leichte Seufzer, als wenn sie so den Küssen und der heimlichen Liebkosung des Nachtwindes antworteten.

Er konnte es sich nicht abläugnen, ein solches Häuschen hatte er sich oft gewünscht. In wie vielen Stunden hatte er nicht Sidonien mit der Schilderung einer solchen Waldeinsamkeit unterhalten, um sie, die nur das Leben in der Stadt preisen wollte, zu überreden, mit ihm in Zukunft einmal einen ganzen Sommer in einer ähnlichen Einsamkeit zu leben.

So phantasirend und sich in seiner ihm aufgedrungenen Umgebung ganz vergessend, entkleidete er sich in dem grünen und goldenen Dämmer des Mondschimmers und legte sich zum Schlafe nieder. So lange auch seine Betäubung gewährt haben mochte, so besuchte ihn der Schlummergott bald wieder und beglückte ihn mit den freundlichsten Traumgestalten. Er war, wunderlich genug, in demselben Hause, nur waren junge Mädchen, statt der häßlichen Taubstummen zu seiner Bedienung da, und Sidonie war als seine Geliebte zugegen, die endlich seinen Bitten nachgegeben hatte, sich mit ihm in diesen abgelegenen Wald zurückzuziehen. Jetzt lag sie an seiner Seite und entzog sich seinen Liebkosungen nicht, nun waren sie im Zimmer und ordneten die bäuerischen Tische und wenigen Geräthe, dann trug sie Kaffee und Wein herbei, um ihm lächelnd einzuschenken und mit freundlichem Kuß zum Frühstück zu laden. Dann wandelten sie draußen und verirrten sich in dem wunderbaren Walde, sie beide allein, sich selber genug und keinen andern Menschen herbeiwünschend. Sie lasen, Arm in Arm geschlungen, ihre Lieblingsdichter, dann setzte sie sich an das Klavier und sang ihm 508 jene Lieder, die ihn schon in manchen seligen Stunden entzückt hatten. Während dieses wunderbaren Gesanges, so herrlich, wie er ihn noch niemals gehört hatte, wachte er auf. Es war eine Nachtigall, die ganz nahe in der Linde schmetterte und ihn mit ihren ringenden und wirbelnden Tönen aufgeweckt hatte. Zugleich fing ein Kuckuck an, seinen eintönigen, dumpfen Gesang zu schreien. O weh! rief der in den schönen Träumen gestörte Ferdinand, da ist der verwünschte Recensent schon, der den überschäumenden Gesang jener Virtuosin meistern und auf das richtige nüchterne Maß der Alltäglichkeit zurückführen will. Sein Nachtwächterruf sagt uns an, daß die Frühlingszeit vorüber ist, und sein kuckuckisches Wehe wird auch bald alle lachenden und weinenden Vögel zum Stillschweigen bringen. Sein Taktschlagen übermeistert den Rhythmus der Poesie.

Er kleidete sich an. Heute stellte sich ihm der Gedanke viel näher vor das Auge, daß er ein Gefangener sei und daß, so schön und wundersam die Umgebung sich bilde, man ihn doch nicht gefragt habe, ob er sie genießen wolle. Aus den so wohlverwahrten Fenstern konnte er auch den ganz nahen Schluß ziehen, daß es ihm nicht erlaubt seyn möchte, das verriegelte Haus zu verlassen, um sich im nahen Walde zu ergehn.

Er klopfte an das Küchenfenster. Sogleich erschien der Kopf der Alten. Er war noch der jungen dienenden Nymphen seines Traumes gewohnt und schrie diese im heftigen Zorne an: Blasses Gespenst! bist Du wirklich taubstumm, oder stellst Du Dich nur so? Wer bist Du? Wo bin ich selbst? Was soll diese verfluchte Gaukelei? Ist die Hausthüre unten verschlossen? Ich will in des Teufels Namen hinaus ins Freie!

Er fuhr mit Entsetzen zurück, denn die Alte hielt ihm 509 ein so unschuldiges Grinsenlächeln entgegen, daß ihm vor diesem welken Blödsinn schauderte. Sie nickte, entfernte sich und reichte ihm nun auf einer platten Schale sein gut zubereitetes Frühstück, wohlschmeckenden Kaffee, fette Milch und ziemlich feines Brod. Nachher zeigte sie ihm noch lächelnder eine Pfeife und angezündeten Wachsstock, welches er beides mit Unwillen von sich wies. Das fehlte noch, sagte er zu sich selbst, daß ich mich in diese fabelhaften, dumm machenden Wolken paffend und stöhnend einhüllte, um ganz von der wirklichen Welt abgetrennt zu werden.

So sehr er zürnte, ließ er sich doch den aromatischen Kaffee behagen. So hätt' ich denn, sagte er, so ziemlich die Behaglichkeiten des Lebens, neben meinem Schlafzimmer dort alle Bequemlichkeit, die zur Reinlichkeit des Daseins gehört; Wäsche und Kleider fehlen auch nicht, dieser Ueberrock ist leicht und weich, die Stiefeln passend, wie für mich gearbeitet, – wohlschmeckende Gerichte – ein schöner Wald draußen, – Frühlingssänger – auch einen Kuckuck, der schon fast zum Luxus gehört, so sind auch die Frösche im Teiche, von denen ich, dem Himmel sei es gedankt, noch nichts vernommen habe. Ich könnte mir auch auf diesem meinem Pathmos das Tabakrauchen angewöhnen, um die behagliche Einsamkeit noch besser zu genießen: – die Frage ist nur, wie lange ich die Entbehrung der Freiheit werde ertragen können, wie früh oder wie spät wilder Zorn oder Verzweiflung über diese meine Einkerkerung erwachen wird.

Er beruhigte sich jetzt, öffnete seine Fensterscheibe und zog die erquickende kühle Morgenluft mit Wohlbehagen ein. Er streute einige Brodkrumen hinaus und sah mit Lächeln den Tauben zu, die in dieser Einsamkeit ganz zahm schienen, wie sie mit Freuden sich zu der hingeworfenen Nahrung drängten. Ich bin selbst, sagte er zu sich, ein Vogel in 510 einem sehr sonderbaren Käfig; nur verstehe ich es nicht, mir die Zeit durch Singen zu vertreiben.

So kam unter Phantasiren, Grübeln, abwechselnder Langeweile, Freude an den grünen Bäumen, Beobachten der Sperlinge und Schwalben, Betrachten der gefärbten Bilder an den Wänden die Mittagsstunde heran. Wenn der Mensch nur gesund ist, ist der Genuß der wohlschmeckenden Speisen auch im Elend und Schmerz eine Zerstreuung, die der Leidende nur im ersten heftigen Gefühl seines Unglücks von sich zu weisen pflegt, und Linden mußte sich gestehen, daß er nur selten mit so gutem Appetit gespeist hatte. War es die Einfachheit der Kost, war es die gute Zubereitung, die ihr diesen Reiz gab? Denn er mußte sich bekennen, daß die Taubstumme, wenn sie auch sehr häßlich war, wenigstens eine vortreffliche Köchin sei. Er trank unter abwechselnden Gedanken die ganze Flasche des kräftigen Rheinweins aus, so daß ihn, nachdem er sich das letzte Glas des funkelnden Weins eingeschenkt hatte, auch alle Gedanken verließen und er sich ohne Widerstreben dem angenehmen Schlummer in seinem altväterischen, aber bequemen Lehnstuhle übergab.

Als er wieder erwachte, waren zu seinem Erstaunen Schüsseln und Teller verschwunden. Am vorigen Tage hatte er sie durch das Schiebefenster zurückgeben müssen. Es mußte sich also von der kleinen Küche doch ein Eingang, den er noch nicht entdeckt hatte, in seinen großen Speisesaal finden.

Er entschlug sich diesen Untersuchungen und betrachtete die betende Genoveva an der Wand, die auch, so wie er, in einer grünen Einsamkeit die Blicke gen Himmel richtete. Aber sie hatte freilich ihren Schmerzenreich bei sich, und dazu, wenn auch keine kurfähige Person, doch die trostreiche Hirschkuh, einige neckische Kaninchen und sonstiges Gethier, das, wenn sie gebetet hatte, ihr gern Gesellschaft leistete.

511 Dicht daneben war eine Himmelfahrt der Jungfrau, noch schlechter mit Wasserfarben übermalt. Dann der verlorene Sohn mit seinen Schweinen. Wie vor einem Spiegel fuhr er beschämt vor diesem gutgemeinten Bilde zurück, indem er an jenen letzten Abend in der Stadt, und die geistreiche, fröhliche Gesellschaft dachte, die ihren innern Sinn auch nur mit Trebern oder höchstens Eicheln nährte, und in welche Kost er auch mit rasselnden Zähnen so lustig hineingebissen hatte.

Ja, klage nur, Nachtigall, wehmüthig über unser Aller Erbärmlichkeit: dein süßes Adagio klingt nur in den Wehgesang der ganzen Natur über unsern Abfall, der sich täglich erneut, und über die Schwäche und Armseligkeit aller Kreatur.

Er schlief, ohne von Sidonien zu träumen.



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