Ludwig Tieck
Peter Lebrecht
Ludwig Tieck

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Kritik des vorigen Kapitels

Es geschieht zuweilen, daß verschiedene Personen dasselbe tun, aber aus ganz verschiedenen Bewegungsgründen. Ich war still und nachdenkend, weil ich nun fand, daß man in der Geschichte des unbekannten Unglücklichen gar nichts einmal hinzuerfinden oder -lügen dürfe, um sie äußerst interessant zu machen. Es war alles so vortrefflich zugeschnitten, daß dem Leser fast gar nichts mehr zu wünschen übrigblieb: ich fand es überdies äußerst wahrscheinlich, daß, wenn der seltsame Fremde nur noch einige Zeit fortlebte, er ohne Zweifel noch mehrere Erscheinungen, so wie andre Unglücksfälle, erleben würde, denn er stand jetzt erst in der unentwickelten Mitte seiner Geschichte, sein Einkehren bei mir mußte etwa den zweiten Teil beschließen, dann mußte er ein Stück weiterleben, und sein Biograph mußte dann zur Fortsetzung nach einer neuen Feder greifen.

Hannchen war stumm, weil sie nicht wußte, was sie aus der Erzählung machen sollte. Sie überlegte den Zusammenhang der Geschichte, und dachte über den, der sie erzählt hatte, und sobald sie über etwas in Zweifel ist, ist es ihr unmöglich zu sprechen. Viele Leute sprechen in diesem Zustande am liebsten, weil sie dann eine recht dauerhafte Materie des Gespräches haben.

Sintmal hatte eben bei sich ausgemacht, daß man die ganze Erzählung des Fremden sehr gut psychologisch erklären könne, ohne auch nur einen einzigen Umstand abzuleugnen: er glaubte, daß es eine recht interessante Abhandlung für die Erfahrungsseelenkunde werden könnte, wenn man sich die Mühe geben wollte, alles recht umständlich auseinanderzusetzen. Der Unglückliche sei auf der Reise voll von trüben Vorstellungen gewesen, ein Wahnsinniger sei ihm begegnet, und habe alles das wirklich zu ihm gesprochen, was er erzählt habe, dies habe ihn noch mehr erhitzt, die Vorstellung, seine Geliebte sei gestorben, sei nun bei ihm recht lebendig geworden, und so habe sich auf die natürlichste Art jene wunderbare Erscheinung erzeugt.

»Ach was!« rief mein Schwiegervater aus; »wer wird sich hier noch mit einer vernünftigen Erklärung abquälen wollen: gewisse alberne Dinge sollte man niemals vernünftig anzusehen suchen, denn je mehr man sich diese Mühe gibt, je dummer werden sie. Weit kürzer ist es, daß ich alles für eine abgeschmackte Lüge halte, für ein schlechterfundenes Märchen, wie es schon in tausend und tausend schlechten Büchern steht. Dieser Mensch ist ein Kerl, der gern alles erlebt haben will, und weil das in dem Alter nicht möglich ist, so will er sich mit seiner Phantasie nachhelfen, so gut er kann, und weil ihm auch davon Gott nicht viel hat zukommen lassen, so versteht er es nicht einmal, seine Erfindungen wahrscheinlich zu machen. Weil wir ihn so geduldig anhören, wird er mit jedem Tage unverschämter werden, er wird unserm Verstande immer mehr bieten, weil der es sich bieten läßt; er hat das Sprichwort im Kopfe, auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.«

Sintmal: Sollte ein Mensch so unverschämt sein können?

Martin: Nichts natürlicher, denn wir sind es zu wenig: je blöder man mit Menschen von dem Schlage umgeht, je dreister werden sie selbst. Er wird uns nächstens erzählen, daß er Geister beschwören könne, und ich wette, daß wir alle wieder ganz still sitzen, und tun, als wenn wir es glauben; besonders hat mein Schwiegersohn immer einen verdammten Respekt vor solchen Windbeuteln; über Bücher, die so geschrieben sind, lacht er, und wenn ihm nun gar ein Mensch aus einem solchen abgeschmackten Buche in den Weg kömmt, so hält er ihn ordentlich für was Rechts.

Ich: Es ist sehr wahr, daß ich oft jemand zu sehr achte, bloß, um nicht in die Gefahr zu geraten, ihm Unrecht zu tun.

Martin: Aber das andere ist ja noch schlimmer, es ist gerade, wie viele Leute ihre Kinder erziehn.

Ich: Aber was soll ich tun?

Martin: Solchen Leuten zu verstehen geben, daß man sie nicht leiden kann, oder es ihnen geradezu ins Gesicht sagen. – Wenigstens ich muß meinem Ärger Platz machen, wenn er noch einmal mit solcher Geschichte angezogen kömmt; ich werde ihm dann sagen, daß wir das alles schon irgendwo gelesen haben.

Sintmal: Es scheint mir auch am Ende so ein Bücherwurm zu sein, der aus schlechten Romanen seine Nahrung zieht, und daraus seinen Charakter distilliert.

Martin: Ganz recht; nichts weiter ist er. Das ganze Gespräch mit dem Alten ist ja, als wenn es aus dem einen konfusen ägyptischen Buche abgeschrieben wäre; – ich kann mich nicht auf den Namen besinnen. –

Sintmal: Welches meinen Sie?

Martin: Wir fingen es einmal an zu lesen, weil uns der Prediger drüben gesagt hatte, es kämen so viele geheime und bedeutende Winke darin vor. – Je, es ist so ein gewisser wunderlicher Heiliger darin: – mich dünkt, es heißt, die Obelisken.

Sintmal: Ach, Sie meinen die Pyramiden.

Martin: Nun, Obelisken oder Pyramiden, ich habe nicht weit darin lesen können. – Da kommen viele solche interessante Gespräche vor, wo einer dem andern immer das Wort aus dem Munde nimmt, und man am Ende nicht weiß, was beide wollen. Solche Dialoge füllen die Seiten in den Büchern recht hübsch, und es liest sich wenigstens rasch weg.

Sintmal: Es ist eine gewisse neue Art zu sprechen, die man jetzt in vielen Büchern findet. Sie heißen's den kurzen, lebhaften Dialog. –

Es war indes schon spät geworden, und jedermann ging schlafen.


 << zurück weiter >>