Ludwig Thoma
Nachbarsleute
Ludwig Thoma

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Onkel Peppi

1

An einem schönen Sommerabend, als die Schwalben ungemein hoch flogen und sich mutwillig überschlugen und die Stare sich viel zu erzählen hatten und die Ochsen mit feierabendlicher Behaglichkeit recht breitbeinig einen mit duftendem Klee beladenen Wagen heimwärts zogen, kam der Kommerzienrat Schragl aus seinem schönen Landhause hervor, um im Garten zu lustwandeln.

Er legte die Hände auf den Rücken und wollte eben seines angenehmen Daseins froh werden, als er plötzlich zu straucheln anfing, umfiel und tot war.

Der schnell hinzuspringende Gärtner sah ihn schon als Leiche und stürzte mit der traurigen Meldung in das Haus.

Frau Lizzie Schragl, eine geborene Smith aus Hamburg, behielt immerhin noch so viel Fassung, um von dem Schreien der Dienerschaft unangenehm berührt zu werden und zu bemerken, daß taktlose Leute sich vor dem Gartenzaune ansammelten und neugierig auf den Ort des Schreckens hinstarrten. Sie befahl, daß der Verstorbene in das Parterrezimmer rechts vom Eingange getragen werde, und fand sich dann, als das geschehen war, dort ein und blieb die gebührende Weile mit einem vor die Augen gepreßten Taschentuche im Zimmer stehen, wankte hinaus und überließ es der treuen Köchin, alle in solchen Fällen nötigen Anordnungen zu treffen.

Die Seelnonne kam mit Fragen und Anträgen und Ratschlägen, deren geschäftliche Nüchternheit die Witwe auf das peinlichste berührt hätte, und es war in der Tat schicklicher, daß sich das ungebildete Frauenzimmer mit einer Angestellten über alle diese Dinge beriet.

Der Schreiner kam mit der Bitte, für den hochgeschätzten Ehrenbürger einen Sarg aus Eichenholz anfertigen zu dürfen, der Schneider erbot sich, in kürzester Bälde einen schwarzen Anzug herzustellen; der Totengräber teilte mit, was ihm an Essen und Trinken während der Nachtwache zukomme, der Krämer hatte passende Kerzen anzubieten, und alle diese Angelegenheiten wurden von den Dörflern in einem sachlichen Tone vorgebracht, den die gnädige Frau nicht ertragen hätte.

Sie lag in ihrem Zimmer auf dem Diwan und vergrub das Haupt in die Kissen.

Sie war noch viel zu überrascht, zu betäubt, um sich einer sanften Traurigkeit hingeben zu können.

Ihr erstes Gefühl, und es hielt noch immer nach, war das der Empörung über die Roheit dieser plötzlichen Schicksalsfügung.

Man weiß, daß der Tod, das Ende aller Dinge, einmal kommen muß, jedoch eine, wenn auch nur kurze Vorbereitung auf solche Vorkommnisse sollte man beanspruchen dürfen. Dieses zwecklose Hereinbrechen war das Verletzendste daran. Aber Schragl war auch im Leben nie eine zartfühlende Natur gewesen... ja so... was konnte der Ärmste dafür?

Es war ein törichter Zufall, es war das Klima, die Hitze, es war der Aufenthalt in diesem öden Dorfe, den sie nie, nie gebilligt hatte, auf dem nur Schragl mit seinem in gewissen Fällen einsetzenden Starrsinn bestanden hatte.

Wie oft hatte sie den Besuch eines englischen oder dänischen Seebades vorgeschlagen!

Aber nein! Man mußte sich in Oberbayern ankaufen, man mußte diese sentimentale Anhänglichkeit an die sogenannte Heimat über alle andern Rücksichten stellen, und nachdem man einmal dieses gräßliche Landgut gekauft hatte, mußte man Sommer für Sommer mitten unter den Bauern zubringen, alle höheren Genüsse entbehren, sich von der Gesellschaft zurückziehen...

Ach!

Und das war nun die Folge davon. An der See wäre das doch nie passiert, jedenfalls nicht so bald, nicht jetzt!

Aber Schragl...

Gott, der Ärmste kam doch Zeit seines Lebens nie los von der Erinnerung, daß er als Sohn eines kleinen Gutsverwalters auf dem Lande aufgewachsen war. Es war sein Schicksal, unter dem sie oft – wie oft! – zu leiden gehabt hatte... und das nun dieses Letzte, Bitterste herbeigeführt hatte. Und wie schrecklich es war, das, und alles, was noch kommen mußte, gerade hier zu erleben!

In der Stadt hätte man doch sogleich eine würdige Aussprache mit den Freunden und Verwandten haben können, hätte Verständnis und Beihilfe gefunden, hier lebte man auf einer Insel zusammen mit Wilden, die einem fremd blieben, fremd bleiben mußten, mit denen das Zusammensein in schweren Stunden nicht weniger gräßlich war als sonst.

Aber Schragl hatte dafür, hatte für zarteres Empfinden nie, nie Verständnis gezeigt, hatte ihre Klagen sogar mit einer gewissen Ironie abgewiesen und hatte sich immer der fixen Idee hingegeben, daß er zu diesen Leuten gehöre und das rechte Behagen nur in ihrer Mitte finden könne...

Ja so! Den Kindern mußte man telegraphieren, dem großen Verwandten- und Freundeskreise mußte man Mitteilung machen, und vor allem der Exzellenz mußte man es melden.

Es ging nicht an, den Kopf in die Kissen zu drücken und sich dieser drückenden, bleischweren Stimmung hinzugeben.

Sie lehnte sich ein wenig auf, drückte auf die Klingel und ließ sich wieder fallen.

Es klopfte, und da sie nicht fähig war, laut »Herein« zu sagen, schwieg sie und wartete, bis die Zofe unaufgefordert die Türe leise öffnete und auf den Zehenspitzen in ihre Nähe kam.

Dann erst flüsterte sie: »Fanny...!«

»Ja... gnä... Frau...«, antwortete das Mädchen mit verschleierter Stimme und richtete es so ein, daß es wie verhaltenes Schluchzen klang. Unendlich müde und gebrochen, fragte Frau Lizzie: »Hat – man... weiß man – – schon – wann...«

Sie verstummte und ließ eine lange, dumpfe Pause eintreten.

»Weiß – – man – – – schon – – wann – – das – Begräbnis – statt – finden – wird –?«

»Ja – – gnä Frau –«, Fanny paßte sich im Tone mit kaum glaublichem Takte der Stimmung an – – »Ja – gnä – Frau –«, sagte sie so milde und weich und so von Schmerz durchzittert – »am Donnerstag – in der Früh um neun Uhr.«

Frau Lizzie erhob fast ungestüm ihren Kopf und fragte schärfer, als es ihre Rolle zuließ: »Neun – Uhr!? – Was ist denn das wieder für eine –-?«

»Taktlosigkeit« wollte sie sagen, oder »Dummheit« oder »Bauernmanier« oder »tölpelhafte Rücksichtslosigkeit«. Sie sagte es nicht, sondern blickte nur ihre Zofe mit hilflosem Staunen an.

Und Fanny nickte beistimmend und schmerzlich, wie von einer neuen Härte getroffen.

»Ich habe es auch gesagt, gnä Frau, es ist doch keine Zeit für solche Trauergäste, wie wir sie haben werden, aber der Herr Pfarrer hat gesagt, es sei ohnehin spät genug für die Leute in der Erntezeit...«

»Für welche Leute?«

»Für die Leute im Dorfe«, erwiderte Fanny und zog verächtlich die Schultern in die Höhe. »Es sollen ja alle Vereine kommen und überhaupt alle Leute, und der Pfarrer sagt, mit dem Traueramt dauert es bis nach zehn Uhr, und das sei schon eine große Ausnahme und ginge eigentlich gar nicht, denn die Leute müßten zu ihrer Arbeit...«

»Man könnte die Arbeit nicht verschieben! Man könnte das nicht tun einem Manne zuliebe, der so viel... der viel zuviel für diese Leute getan hat! Ach!«

Frau Lizzie sagte es sehr bitter und setzte sich nun auf, und es schien fast, als hätte ihr die Empörung über diese Rücksichtslosigkeit mehr Kraft verliehen.

»Bleiben Sie da, Fanny«, fügte sie hinzu, »ich muß einige Telegramme schreiben, und die tragen Sie gleich auf die Post.«

Sie wollte aufstehen, hielt es aber dann doch für richtiger, sich mühsam zu erheben und sich, auf Fanny gestützt, mit müden Schritten zum Schreibtisch hinzuschleppen.

Hinfällig und wie zerschlagen, nahm sie einen Briefbogen und blickte ins Leere; sie empfand es doch als eine Last, so beobachtet zu werden, und sie entließ die Zofe.

»Gehen Sie einstweilen, Fanny. Ich werde Sie rufen.«

Als sie allein war, überlegte Frau Lizzie, wie sie in der wirkungsvollsten Weise dem Herrn Staatsrat Ritter von Hilling, Exzellenz, dem Manne ihrer verstorbenen Schwester Jane, die Trauerkunde mitteilen sollte.

Sie begann zu schreiben.

»Simon...« Nein! Sie strich den Namen durch. Sogar in dieser Situation wirkte er unvorteilhaft, und sie fühlte, wie so oft schon, daß man als Kommerzienrat und reicher Fabrikbesitzer nicht wohl hätte Simon Schragl heißen sollen. Sie strich also den Namen durch und schrieb:

»Mein heißgeliebter Mann...« – das war schon besser – »ganz plötzlich... durch einen Schlaganfall –« nein! – sie strich auch den Schlaganfall durch... »ganz plötzlich... hinweggerafft...« ja, so war es recht... »Beerdigung Donnerstag früh neun Uhr hier... fassungslos... Lizzie...« Sie schrieb das Telegramm ab und fügte die Adresse mit dem ganzen Titel bei.

Nun an die Kinder. Ach Gott! Der arme Johnny... die ärmste Beß! Hier seufzte sie tief auf und schrieb mit fliegender Feder. »Unser liebster Papa ganz plötzlich und unerwartet gestorben. Kommt sofort!« Für Beß noch die Anweisung, sogleich ein Trauerkostüm zu bestellen.

Dann ein Telegramm an die Konfektioneuse, um ein Kostüm für sie selbst.

Das alles hatte Anspannung verlangt, und sie übergab der wieder eintretenden Zofe die Depeschen mit einer Geste, die deutlich ausdrückte, daß sie am Ende ihrer Kräfte angelangt war.

Sie blickte nicht um, sie reichte die Papiere nach rückwärts und ließ den rechten Arm sinken, indes sie ihren Kopf auf den linken legte.

Fanny blieb stehen. Sie hatte noch etwas vorzubringen.

»Was ist?« fragte Lizzie flüsternd.

»Gnädige Frau, Minna sagt, die Todesanzeige müßte gleich an die Zeitung geschickt werden, damit sie morgen drin steht, wegen der Herrschaften, die von weiter her kommen sollen...«

»Ich kann nicht«, stöhnte die Witwe, »ich kann jetzt nicht... kommen Sie in einer halben Stunde... vielleicht bin ich dann imstande... gehen Sie, Fanny! Ich kann jetzt nicht...«

Das Mädchen verließ behutsam das Zimmer, und Frau Lizzie warf sich wieder auf den Diwan und klagte das törichte, brutale Schicksal an, das eine Dame von zarten Nerven so unvermittelt in eine solche entsetzliche Lage brachte.

Wären nur die Kinder dagewesen! Aber wer hatte an so etwas auch nur denken können? Johnny mußte bei der Regatta sein, und Beß hatte sich schon wochenlang auf »Rheingold« gefreut. Immer waren sie hier, und gerade jetzt, wo sie einmal fröhlich und sorglos weggeeilt waren, mußte dieses Grausamste sich ereignen!

– Ach! –


 << zurück weiter >>