Ludwig Thoma
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Ludwig Thoma

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Otto Schwalbe sah den jungen Rechtsgelehrten mißtrauisch an. In der Tat, er machte eine würdige, ernste Miene, aber irgendwo saß doch das verfluchte Lächeln, mit dem die Jugend gewisse Alterserscheinungen beobachtet. Ganz gewiß, es saß irgendwo, auch wenn man es nicht sah.

»Herr Rechtsanwalt Liebenow?«

»Jawohl... Herr... Schwalbe, nich wahr?«

»Rentier Otto Schwalbe. Meine... ehem... Tochter hat sich... äh... allerdings, wie ich sagen muß, ein bißchen übereilt, oder... äh... temperamentvoll... an Sie gewandt, in einer Sache, die eigentlich... ehem...«

»Mehr die Ihrige ist...«

»Die meinige ist... jawohl... jedenfalls an und für sich keine Sache für junge Damen... Herrenabendthema, wenn ich so sagen darf. Aber da sie nun mal... äh... aktiv in die Sache eingegriffen und Ihnen die Abwicklung dieser... ehem... Angelegenheit übertragen hat, finde ich mich mit der Tatsache ab. Sie schickten mir gestern ein Telegramm... das heißt... mehrere Telegramme. Im letzten, das nachts ankam, depeschierten Sie so was von sonderbarer Verwicklung? Darf ich fragen, worin diese Verwicklung besteht?«

»Ich werde Ihnen ausführlich berichten... wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Danke... so... also Sie...?«

»Ich muß vorausschicken, einer meiner Verwandten kennt die Dame... flüchtig natürlich...«

»M... Hm... flüchtig«

»Er verschaffte mir unter irgendeinem Vorwand Eintritt bei Fräulein Ilka von...«

»Sagen wir bei der Dame.«

»Bei der Dame, die übrigens bester Laune war. Nach einigen Präliminarien lenkte ich auf die Sache ein. Die Wirkung war etwas unangenehm. Die Dame geriet sehr stark aus der Kontenance...«

»Das hat sie so...«

»Anscheinend. Sie behauptete das Opfer eines unerhörten Vertrauensbruches zu sein... Man hat ihr zwei Jahre lang die Illusion erhalten, daß man völlig frei, also Junggeselle sei...«

Schwalbe räusperte sich.

»Hören Sie mal, Doktor. Glauben Sie, daß es einen Ehemann gibt, der bei... ehem... derartigen Affären seine Familienverhältnisse... wie soll ich sagen... preisgibt?«

»Natürlich nicht, Herr Schwalbe; ich bin absolut dafür, daß man bei derartigen Partien unter falscher Flagge segelt. Ich halte Vertrauen in solchen Situationen für unangebracht.«

»Mag sein. Was ich übrigens sagen und ganz besonders betonen wollte, Herr Doktor, es wäre mir aus verschiedenen Gründen sehr peinlich, sehr peinlich, wenn Sie bei mir Routine in solchen Partien, wie Sie es nennen, voraussetzen. Ich befinde mich ja Ihnen gegenüber... tja... das ist nun mal so... in einer sonderbaren Stellung, als der Ältere und als Vater einer jungen Dame, die Sie kennen, und überhaupt. Natürlich habe ich nicht die Absicht, kann sie auch gar nicht haben, an dieser einen sehr unangenehmen Affäre etwas zu beschönigen, denn... tja... das ist nun mal so, aber ich bestehe darauf, daß Sie keine Schlußfolgerungen ziehen und etwa annehmen, daß ich fortwährend 'ne falsche Flagge bei mir habe, unter der ich segle. Es klingt vielleicht komisch, wenn ich Ihnen als dem Jüngeren sage, daß diese Partie, die ich nun mal leider gemacht habe, die einzige war, ist und bleiben wird. Das ist keine Ausrede oder Beschönigung, ich wiederhole es, so was wäre hier sehr unmotiviert und auch unangebracht. Ich konstatiere einfach die Tatsache.«

»Ich begrüße das als Anwalt, als Ihr Vertreter, Herr Schwalbe. Es ist wichtig für die Beurteilung des Falles und der Maßnahmen, die rätlich erscheinen.«

»Der Maßnahmen?«

»Ich meine bei Voraussetzung von Routine und Gewohnheit würde man gewöhnlich anders vorgehen als im Ausnahmefalle. Ich habe übrigens nach Lage der Sache bereits selbst das letztere angenommen.«

Schwalbe sah sein Gegenüber wieder sehr mißtrauisch an, aber er bemerkte nur würdevollen Ernst.

»Tja... junger Mann, Sie können nicht bloß von einer ganz vereinzelten, sondern auch von einer geradezu unbegreiflichen Abirrung sprechen. Für mich unbegreiflich, wie für jeden, der mich und mein Leben und meine Grundsätze kennt. Ich habe in der letzten Zeit viel nachgedacht über die Möglichkeit dieses... tja, das ist nun mal so... dieses Geschehnisses. Ich muß sagen, sie ist mir mit jedem Tag unklarer geworden...«

»Darf ich wieder referieren?«

»Ach so... ja... also Sie begegneten einer gewissen Heftigkeit?«

»Einem Wutausbruche. Ich beschwichtigte, aber die... Dame kam mit echt weiblicher Hartnäckigkeit immer wieder auf die Idee zurück, daß sie Rache zu nehmen habe. Ich stellte ihr vor, daß sie ihre Position gefährde, wenn sie indiskret wäre, aber sie wiederholte stereotyp die Äußerung – Sie müssen entschuldigen, Herr Schwalbe sie wolle dem Alten ordentlich eine aufs Dach geben...«

»Sie will also die Briefe...«

»Das fragte ich sie auch, und nun kommt das Seltsame, sie erklärte mir auf das Bestimmteste, sie habe die Briefe bereits an Ihre Gattin geschickt...«

»An...?«

»An Frau Schwalbe.«

»Um Gottes willen, dann kommen sie vielleicht gerade jetzt...« Schwalbe war aufgesprungen.

»Bleiben Sie ruhig sitzen! Nicht gestern oder heute, vor vier oder fünf Tagen sind die Briefe abgegangen.«

»Das ist Unsinn. Ich stehe seit vier Tagen Posten...«

»Vielleicht hat das Mädchen...«

»Ausgeschlossen; die alberne Person würde sich das nie erlauben...«

»Oder Ihre Gattin hat die Briefe und schweigt darüber?«

»Erst recht unmöglich! Die Person hat gelogen.«

»Den Eindruck habe ich nicht. Sie freute sich ganz unbefangen über ihren Streich.«

»Sollte Tinchen...? Aber das ist doch nicht denkbar! Allerdings Frauen können... nein! Daran kann ich, darf ich nicht glauben. Sie war gestern noch so arglos wie je... Auf alle Fälle muß ich Gewißheit haben.« Herr Schwalbe stürzte hinaus.

 

»Nanu!« sagte Hanna. »Sei nur nicht so aufgeregt, Papa! Wenn Mama etwas wüßte, hätte sie mir's gesagt.«

»Aber Rieke sagt doch, bevor ich ihr den Auftrag gegeben hätte, sei 'n dicker Brief an die Gnädige gekommen. Das war er...«

»Wenn es nicht n' Geschäftskatalog war. Ich will mal sondieren.«

»Um Gottes willen... um Got-tes wil-len! Wenn sich meine Ahnung bestätigt!«

Hanna ging in Mamas Zimmer.

Frau Schwalbe lag in einem Kimono hingegossen auf dem Divan und las in einem Detektivroman. Sie ließ sich in den Vormittagsstunden sehr ungern stören, und sie hätte fast ihre Stirne in Falten gezogen, als sie ungnädig fragte: »Was willst du denn?«

»Bloß mal sehen, wie es dir geht. Papa meint, du hättest gestern abend so angegriffen ausgesehen.«

»Ach, Unsinn! Du weißt, ich...«

Hanna wußte es, daß sie ungestört lesen wollte.

»Hast du neulich nicht den Katalog von Herzog bekommen? Ich möchte ihn zu gerne sehen...«

»Das weiß ich doch nicht...«

»Lies nur weiter... ich such' ihn mir schon.«

Sie trat an den Schreibtisch; oben lag der Brief nicht, in den Fächern auch nicht. Im Papierkorb? Nichts.

Sollte ihn Mama wirklich aufgehoben haben? Sie blickte zu der dicken Dame hinüber, die ihr die Breitseite zugekehrt hatte und eifrig las.

Gestörtes Glück? Nee. Stillschweigende Vorbereitungen zu einer ernsten Auseinandersetzung? Nee.

Aber die Post verliert doch nichts!

Hanna stand vor einem Rätsel. Vielleicht ging Mama am Nachmittag aus, dann wollte sie gründlicher nachsuchen.

Zufällig fiel ihr Blick auf ein Buch, das auf der Kommode lag; es war rot eingebunden, wie das, das Mama eben las.

Sie sah auf den Umschlag. ›Das Geheimnis der Stahlkammer‹, erster Band.

Hanna nahm das Buch, um darin zu blättern und dabei unauffällig im Zimmer Umschau zu halten.

Da merkte sie, daß Briefe ins Buch eingeklemmt waren, stellte sich mit dem Rücken gegen den Diwan und musterte sie. Ein paar ungeöffnete mit Firmenaufdruck, wahrscheinlich Rechnungen, ein ziemlich dicker mit schlecht geschriebener Adresse. Frau Rantje Schwalbe... Rantje... hm... und in der Ecke stand: persönlich. Auch ungeöffnet. Hanna wandte sich um. Immer noch Breitseite. Da schob sie den Brief in die Tasche, legte die andern ins Buch und trällerte vor sich hin.

»Hanna!«

»Ach ja, ich falle dir sehr lästig? Den Katalog hat wohl Rieke verräumt; ich finde ihn nicht und will dich nicht länger stören. Kann ich Papa sagen, daß du wohl bist?«

»J... ja...«


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