Ludwig Thoma
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Ludwig Thoma

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Als Anton Gumposch, den Hut tief in die Stirne gedrückt, nach Hause ging, befiel ihn ein Gedanke, der seiner Gewissenhaftigkeit und allgemeinen Fürsorge angemessen war.

Wie? Wenn er sich getäuscht hatte? Wenn der junge Mensch die Last der Verachtung als zu groß befand und im letzten Augenblicke den Forderungen der Ehre Gehör schenkte?

Mußte nicht zum wenigsten die Möglichkeit ins Auge gefaßt werden?

Und wer sollte sie ins Auge fassen, wenn nicht er?

Die Verantwortung, die so mit einem Male vor ihm stand, hob beinahe alle Nachwirkungen des Frühschoppens in ihm auf, und er vermochte sich Rechenschaft zu geben über die Reihenfolge der Pflichten, die ihm bevorstehen konnten.

Einen Platz auswählen, Fuhrwerke besorgen, einen Arzt ins Vertrauen ziehen, nun natürlich... einen Arzt um Beistand ersuchen, drei Kutschen bestellen, einen Platz aussuchen... einen Arzt... Da lag nun wieder einmal, wie so oft schon, alles auf seinen Schultern, die anderen redeten und ließen sich's weiter nicht kümmern, bloß er natürlich hatte die Arbeit, die Lauferei, die Sorge.

Er war zu Hause angelangt und stellte sich vor den Spiegel und sah kummervoll in das blaurote Antlitz, welches ihm mit verschwommenen Augen entgegenblickte.

»Wer dankt dir's eigentlich, Toni?« fragte er wehmütig.»Und was hast du davon? Scherereien und Ärgernis, jawohl, und zuletzt Undank...«

Als er so fast in Schmerz versinken wollte, fiel sein Blick auf die Pistolen, die an der Wand hingen, und sogleich fand er seine Tatkraft wieder. Freilich! Pistolen brauchte man ja auch, und in ganz Dornstein war vielleicht kein gleiches Paar außer den seinen zu finden.

Er nahm sie herunter, und da sie Rost angesetzt hatten, wollte er sie sogleich zum Büchsenmacher bringen.

Vergessen war jedes lähmende Gefühl.

Er umwickelte die Waffen sorgfältig mit einer alten Zeitung und stand schon eine Viertelstunde später mit seinem Paket unterm Arm in der Werkstatt des Xaverl Reindl, der einen Gewehrlauf putzte und dabei Unterhaltung pflog mit Herrn Magistratsrat Trinkl.

Gumposch setzte seine geheimnisvollste Miene auf und erregte die Neugierde des Büchsenmachers durch Nicken und Blinzeln.

Er räusperte sich, gab ausweichende Antworten, trat von einem Fuß auf den andern und zeigte so viel Ungeduld und Heimlichkeit, daß es sogar Herr Trinkl merkte und ging.

»Reindl«, sagte nun Gumposch, indes er dicht vor den Meister hintrat und ihn durchbohrend anblickte, »Reindl, können Sie schweigen?«

»Ja, was glauben S' denn, Herr Gumposch...«

»Kein Mensch darf nichts erfahren...«

»Aba, Herr Gumposch, i bin do a Mann, der...«

»Gut, ich verlaß mich auf Sie.«

Bei diesen Worten öffnete Gumposch sein Paket.

»A paar alte Vorderladerpistol'n?«

»Reindl, die Pistolen müssen heut noch herg'richt werden, Lauf, Piston, alles sauber geputzt.«

»Heut no?«

»Es muß unbedingt sein.«

Wieder traf ein durchbohrender Blick den Büchsenmacher.

Der musterte eine Pistole und probierte die Feder.

»Rostig san s'... no, wenn's sei muaß.«

»Unbedingt.«

»Aber net, daß i...«

»Was?«

»Aber net, daß i da in a Schlamassel nei kimm.«

»Wieso denn? Ich brauch die Pistolen zum Übungsschießen. Sie haben sich um gar nichts zu kümmern.«

Der Meister drückte sein linkes Auge zu und schaute Herrn Gumposch vielsagend an.

Der nickte und wiederholte: »Zum Übungsschießen. Hab' ich was andres g'sagt?«

Seine Blicke verrieten freilich, daß hinter seinen Worten ein blutiges Geheimnis lauerte, aber es kam nichts über seine Lippen, und darum konnte Reindl sein Gewissen beschwichtigen.

»Von mir aus«, sagte er, »Sie schaffen's o – net? Und i mach's – net? Und es g'hört zu mein G'schäft – net?«

»Ganz richtig«, entgegnete Gumposch, »und dann bleibt's dabei, ich hol' abends die Pistolen und komm' hinten herein. Adieu!«

»Adjes! Sie... Herr Gumposch...«

»Was?«

»Aba net, daß i in a Schlamassel einikimm?«

»Nein, sag' ich. Reden nur Sie nix drüber.«

Er ging.

Der Meister kratzte sich hinter den Ohren und schaute bedenklich vor sich hin. »Sakera! Sakera!«

»Pst! Xaverl! Is der spinnata Deifi weg?«

Reindl wandte sich hastig um. Der Herr Magistratsrat Trinkl war durch die hintere Tür eingetreten. »I bin zu deiner Alt'n eini und hab' g'wart', bis der furt is. Was hat er denn woll'n, daß er's gar so gnädi g'habt hat?«

»Ah... nix B'sunders!«

»So?« machte Trinkl mißtrauisch und warf flinke Blicke herum.

»Zu was g'hörn denn de Pistol'n?«

»De? Ah... de hab i scho lang do.«

»Lüag no net a so, Mannderl! De hat der bracht. Ah, da schau her! Jetzt kam's do no so weit!«

»Was denn?« fragte der Büchsenmacher neugierig.

»De möcht'n den junga Mensch'n frei zwinga zu dera Dummheit! De Spitzbuab'nbande überananda!«

»Red do!« drängte Reindl.

»Ja... red! Und du muaßt aa no dazua helf'n!«

»I? Zu was?«

»De Pistol'n herricht'n, gel, daß de eahna Duwäldummheit ausführ'n kinna!«

»Was denn für a Duwäl?«

»Du woaßt nix, du Schlaucherl!«

»I woaß aa nix. Mach' halt amal 's Maul auf!«

»So, woaßt d' net, daß de an Pfaffinger Schorschl o'stift'n möcht'n, er müaßt si duwälieren, weil er an Tresser a richtige Pretsch'n geb'n hot, wia 's a si g'hört. Vo dem host du no gar nix läut'n hör'n?«

Reindl pfiff durch die Zähne.

»So? Dös waar's!«

»Ja, dös waar's, und du bist der Dumm' und laßt di in de G'schicht einiziahg'n...«

»Herrgott, wenn i nix woaß...«

»Jetzt woaßt d' as, weil i dir's g'sagt hab. Aba wart no, da wer i glei g'holf'n hamm«, sagte Trinkl und nahm mit einem raschen Griff die Pistolen und steckte eine in die linke und eine in die rechte Tasche.

»Wart! De ko si der Hansdampf jetzt bei mir hol'n.«

»Aba Michl!«

»Wos aba? Nix aba! I bin an Amtsperson, verstand'n? Und bal i a Werkzeug siech, wo ein Verbrech'n damit beganga wer'n soll, dös konfiszier i ganz oafach...«

»Ja, mir is gleich...«

»Derf da scho gleich sei... Derfst d' sogar froh sei, daß i di von dera Dummheit z'ruckg'halt'n hab. Dös waar dös Wahre, wenn a Bürger aa no zu so was helfat!«

»Wenn i dir sag, daß i nix g'wißt hab!«

»Aber unwissend was hättst du eahm de Waff'n g'liefert. Wurdst scho g'schaugt hamm, Manndel, wia s' di füra zog'n hätt'n!«

»Ja no, du host jetzt de Pistol'n, und mi geht's nix mehr o, bal du sagst, daß du s' von Amts weg'n gnumma host...«

»Hab' i aa.«

»Aba, was soll i denn zu eahm sag'n, bal er kimmt?«

»Zu eahm? Zu dem Gschaftlhuaba? Sagst d' eahm, die Waffe hat der Magistrat an sich gezogen, sagst d'; und bal er a Duwäl hamm will, soll er si a Wurschtspritz'n z' leicha nehma, sagst d'eahm! Pfüat di Good!«

Und in aufrechter Haltung schritt Herr Trinkl hinaus und schritt durch die Gassen Dornsteins, anzusehen wie ein Räuberhauptmann, denn aus jeder Tasche sah drohend ein Pistolenkolben hervor.

 

Gärung in der Stadt. Die Bürgerschaft, durch einen ihrer Besten in Kenntnis gesetzt und durch Vorzeigung zweier Pistolen zur zweifelsfreien Überzeugung gebracht, daß in den Mauern Dornsteins ein hoffnungsvoller, auch wohlhabender junger Mensch zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, ja zu einem Verbrechen gezwungen werden solle, fühlte sich bedroht und vergewaltigt und in ihrem Glauben an die Gesetzlichkeit der Zustände schwankend.

Jeder wußte über Beobachtungen zu berichten, die er in den letzten Tagen gemacht hatte. Der eine war dem Rädelsführer Gumposch, der andere dem notigen Leutnant in der Pfaffengasse begegnet, dieser hatte den Oberamtsrichter, jener den Assessor in die »Post« wandern sehen, ein dritter wußte schon, welche drohenden Reden beim Frühschoppen gehalten worden waren, und die ganze Kette der Verdachtsgründe war geschlossen durch die Entdeckungen, welche Trinkl beim Büchsenmacher zu machen so glücklich war.

Es bestand also eine Verschwörung in dieser friedlichen Stadt, angezettelt von Dienern des Staates und darauf gerichtet, das Blut eines jungen, auch wohlhabenden Menschen zu vergießen und dem Moloch der Ehre ein Opfer zu bringen.

Der Abendschoppen beim Lammwirt glich einer Volksversammlung, und Bäckermeister Schwarz konnte die ganze Zügellosigkeit seines Wesens offenbaren, ohne den geringsten Widerspruch zu finden.

Von Lohgerber Holzböck aber ging eine Anregung aus, die Besseres bezweckte als diese wütende Despektierlichkeit: die Anregung, eine Deputation nach München zu schicken, dem Abgeordneten Hiempsel den Sachverhalt vorzulegen und durch ihn den Landtag zum schleunigsten Einschreiten zu veranlassen.

Dieser Antrag fand außerordentlichen Beifall, und man ging sogleich daran, die geeigneten Männer auszusuchen.

Bäckermeister Schwarz erbot sich freiwillig, als Sprecher dieser Deputation das seinige zu tun, wurde aber von dem Vater der Idee, Herrn Bartholomäus Holzböck, darüber belehrt, daß Männer, die gewissermaßen als Gesandte der hier versammelten Bürgerschaft auftreten müßten, nur nach geheimer Abstimmung aus einer Wahlurne hervorgehen könnten, und man war eben dabei, die dazu nötigen Zettel zu verteilen, als die Tür aufging und – Georg Pfaffinger an der Seite Hans Mühlritters eintrat. Die überraschende, sonderbare und alle bisherigen Vermutungen zerstörende Erscheinung der beiden wirkte so stark, daß sogleich betretenes Schweigen herrschte.

Man konnte in Gegenwart Mühlritters, der doch aus dem feindlichen Lager kam, nicht in der Wahl fortfahren, man konnte auch angesichts der Gelassenheit Pfaffingers nicht mehr so fest an einen Mordplan glauben, man fühlte sich behindert und unsicher und fühlte auch mit Bedauern, daß eine schönste Gelegenheit zum Spektakelmachen zu entschlüpfen schien.

Die Gegenstände der Aufmerksamkeit setzten sich in offenbarer Harmonie an einen Nebentisch, bestellten Bier und stießen wahrhaftig miteinander an. Da hielt es Trinkl nicht mehr aus!

Er bat den Jüngling, für dessen Menschenrechte er so lebhaft eingetreten war, um eine Unterredung und ging mit ihm an jenen Ort, wo solche geheimen Angelegenheiten mit Vorliebe behandelt werden, und erfuhr nun, daß nichts los sei.

Daß rein gar nichts los sei.

Keine Rede von einer Forderung, einem Duell, einem Mord.

Aber der Gumposch? Der Frühschoppen in der Post? Aber die Pistolen?

Was wußte Schorschl davon? Nichts. Was gingen ihn der damische Gumposch und seine Geschichten an? Gar nichts.

»Aba der Mühlritter? Sie wer'n do mir d' Wahrheit sag'n, Herr Pfaffinger, indem daß mir für Eahna so auftret'n!«

»Natürli sag' i Eahna d' Wahrheit, Herr Trinkl. Überhaupts...«

»Indem daß mir a Deputation auf Minka hamm schick'n woll'n!«

»I tat do Eahna nix verheimlinga, Herr Trinkl!«

»Aba was hat na da Mühlritter von Eahna woll'n?«

»Nix. Oder daß i's richtig sag', er hat mi in sei Lebensvasicherung aufgnumma...«

»In...?«

»In sei Boliefia...«

»Ja... Herrgott... und mir strapazieren ins da oba...«

Gewiß war es merkwürdig. Noch viel merkwürdiger, als ein Bürger wissen konnte, der den Schwur des Junker Hans nicht mit angehört hatte. Aber trotzdem – es war so.

Sei es nun, daß Mühlritter unter der Einwirkung der starken Weine den Zweck seines Besuches vergessen, sei es, daß er sich bei allmählicher Ernüchterung auf seine eigentlichen Berufspflichten besonnen hatte, Tatsache ist, daß er Herrn Georg Pfaffinger in gewählten Worten die Vorzüge der Assekuranzgesellschaft Bolivia vor jeder anderen gleichen oder ähnlichen Unternehmung vor Augen stellte und ihn, Herrn Pfaffinger nämlich, auch bewog und überredete, seine Unterschrift zu geben; Tatsache ist ferner, daß von einer Forderung oder irgend etwas dem Ähnlichen nicht die leiseste Erwähnung geschah. Mit diesen Tatsachen hatte sich, da in Dornstein nichts verborgen bleiben konnte, die gesamte Einwohnerschaft abzufinden, und sie erregten, was hier konstatiert werden soll, allgemeine Zufriedenheit.

Die größere bei dem Beamtenkörper, dessen Mitglieder jene beim Frühschoppen gefaßten Beschlüsse noch am selben Nachmittag heftig bereut hatten, die kleinere Zufriedenheit bei den Bürgern, die schon begonnen hatten, sich in aufgeregten Zuständen behaglich zu fühlen.

Ein einziger Mensch war empört über das unglaublich niedrige Niveau, auf dem sich die Gesellschaft Dornsteins nun ein für allemal zu bewegen schien: Herr Anton Gumposch.


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