Ludwig Thoma
Die Lokalbahn
Ludwig Thoma

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Erster Akt

Gartenzimmer der Wohnung des Bürgermeisters Rehbein. Nach rückwärts durch die Fenster und die offene Tür Blick in den sommerlichen Garten. Heißer Sommernachmittag.

Erste Szene

Frau Bürgermeister, ihre Tochter Susanna, Major Rebbein sitzen beim Kaffee.

Major über seine Zeitung wegblickend. Der Fritz muß nun bald kommen?

Frau Bürgermeister Wenn er am Vormittag fertig wurde. Seufzt. Ach ja!

Major Hm! Liest wieder die Zeitung und raucht an der Pfeife.

Frau Bürgermeister Ach Gott, ja! Suschen, gib mir den Honig.

Suschen reicht ihr die Schale; die Bürgermeisterin streicht Honig auf die Brötchen und seufzt wieder.

Wenn er nur schon wieder glücklich zu Hause wäre!

Major über die Zeitung weg. Was soll ihm denn passieren? Gestern abend ist er in die Stadt, und heute kommt er wieder.

Frau Bürgermeister Er hat eine Unterredung mit dem Minister.

Major Das ist nicht immer angenehm, aber lebensgefährlich ist es nicht.

Frau Bürgermeister Mit dir kann man über so was nicht reden. Zu Suschen. Gib mir nochmal den Honig!

Suschen reicht ihr die Schale. Was tut Papa beim Minister?

Frau Bürgermeister Du weißt doch, wegen der Bahn.

Suschen Immer die Bahn!

Frau Bürgermeister Man hört nichts anderes mehr seit einem Jahr. Die Bahn und die Bahn.

Suschen Mein Adolf sagt auch, es sei gräßlich.

Major brummig. So?

Suschen Und er sagt, er wäre mit dem Streit gleich fertig, wenn er zu entscheiden hätte.

Major Sagt das der Adolf?

Suschen Ja, und er hat auch ganz recht.

Major Na, überall sind der Herr Amtsrichter nicht maßgebend.

Frau Bürgermeister Mir wäre alles recht, wenn Fritz sich nicht so weit einlassen würde.

Major Das muß er wohl oder übel.

Frau Bürgermeister Er hat die ganze Arbeit und dazu die Aufregung.

Major Was ist denn dabei, wenn er dem Minister Vorstellungen macht?

Frau Bürgermeister Wenn er ruhig wäre! Aber, er war so wütend.

Major lacht. Der Fritz?

Frau Bürgermeister Ja. Hättest du ihn nur gehört! In der Nacht hat er mit sich selber geredet, und beim Abschied sagte er, daß er einmal gründlich von der Leber weg reden wolle.

Major Die Fahrt in die Residenz dauert vier Stunden. Da vergeht ihm der Zorn, wie ich ihn kenne.

Frau Bürgermeister Du beurteilst ihn ganz falsch. Er kann schrecklich aufbrausen.

Major Wenn er's nur tät'!

Frau Bürgermeister Ja freilich!

Major Das hätte sich schon vor einem Jahr gehört.

Frau Bürgermeister Ich habe die größte Angst, daß er sich hinreißen läßt.

Suschen Adolf sagt oft, Papa sei viel zu frei in seinen Äußerungen.

Major Ja, wenn man eben so korrekt ist wie dein Amtsrichter.

Suschen Du bist immer gegen ihn, Onkel – und...

Von links tritt Dr. Beringer ein; blond, trägt Brille. Typus eines jungen Pedanten, Suschen springt ihm entgegen.

Zweite Szene

Frau Bürgermeister. Suschen. Major. Dr. Beringer.

Suschen Servus, Schatz!

Beringer Aber Suschen! Guten Tag. Immer so burschikos!

Major hinter seiner Zeitung. Gewöhn dir's ab, Susanna Rehbein!

Beringer Guten Tag, Herr Major.

Major Guten Tag.

Frau Bürgermeister Du trinkst mit uns Kaffee, Adolf?

Beringer Ich sollte eigentlich ins Bureau.

Suschen Nein. Du mußt bleiben.

Beringer Also auf eine Tasse. Er setzt sich, Suschen stellt ihm eine Tasse hin und nimmt aus der Dose einige Stücke Zucker.

Suschen Wieviel Zucker heute? Drei?

Beringer Du weißt, ich nehme mir selbst. Nimmt sich aus der Zuckerdose etwas umständlich drei Stücke, Suschen legt die ihrigen auf den Tisch und schenkt ihm den Kaffee ein.

Beringer Papa ist noch nicht zurück?

Frau Bürgermeister Nein; der Omnibus muß Verspätung haben.

Beringer An der Post habe ich ein paar Leute gesehen. Die erwarteten ihn scheinbar; das ist ja eine fürchterliche Wichtigkeit.

Frau Bürgermeister Gerade haben wir davon gesprochen.

Suschen Wer war an der Post?

Beringer Herr Stelzer und noch ein paar. Der Herr Schweigel natürlich.

Suschen Hast du mit ihnen geredet?

Beringer Nein. Ich bin froh, wenn ich nichts höre. Die Leute tun ja so, als ob die ganze Welt von ihrer Bahn abhinge.

Major Es ist doch klar, daß sie sich darum kümmern.

Beringer Gewiß. Aber das Ministerium hat definitiv entschieden, und da hilft alles Reden nichts mehr.

Major Man kratzt sich, wo's einen juckt.

Beringer. Die Bahn ist ja genehmigt.

Major Aber wie! Der Bahnhof kommt eine Viertelstunde vor die Stadt hinaus.

Beringer Bis jetzt hat man zur nächsten Station drei Stunden mit dem Omnibus fahren müssen.

Major Das ist doch kein Grund, daß man die Bahn unpraktisch anlegt, wenn man sie schon einmal baut.

Frau Bürgermeister Ich habe gemeint, die ewige Streiterei nimmt ein Ende; warum ist jetzt auf einmal wieder der Spektakel?

Major Weil vorgestern ein Schreiben herauskam. Bis dahin hat man noch eine schwache Hoffnung gehabt.

Beringer Das Ministerium hat die Hetzerei satt bekommen und erklärt: »Entweder – oder.«

Major Sehr einfach. Entweder – oder.

Beringer Ja. Entweder kommt die Bahn dorthin, wo die Regierung sie haben will – oder sie kommt überhaupt nicht.

Frau Bürgermeister Mein Mann hat so eine Andeutung gemacht, aber er hat mir nichts Näheres gesagt.

Major Er ist ja deswegen in die Stadt, damit er den Minister noch umstimmt. Das wird was helfen! Wenn die Herren überhaupt sehen wollten, wäre es nicht zu dem Projekt gekommen.

Beringer Herr Major, ich habe als Jurist vielleicht so viel Verstand wie ein Normalbürger von Dornstein. Aber ich maße mir nicht an, in technischen Fragen mitzureden. Für mich ist maßgebend die Behörde; sie wird ihre Gründe haben.

Major Freilich hat sie Gründe. Aber keine sachlichen.

Beringer Ich muß wirklich bitten.

Major Bitten S' nicht lang und schauen Sie einmal her! Er stellt den Brotkorb vor sich hin. Das ist Dornstein? Verstanden?

Frau Bürgermeister Geht das schon wieder an?

Major Jetzt misch dich einen Augenblick nicht drein.

Suschen Ist das auch eine Unterhaltung?

Major Stillgestanden! Schauen Sie einmal her, Herr Amtsrichter! Ich habe ja nicht so viel Verstand wie ein Jurist, aber das kann ich Ihnen noch zeigen. Nimmt wieder den Brotkorb. Also, das ist Dornstein. Nicht wahr?

Beringer gelangweilt. Nun ja.

Major Da rechts liegt Pertenstein. Legt eine Semmel hin. Von daher soll die Bahn gehen. Also, meint man, geht sie auf dem schnurgeraden Wege hierher südlich. Der Boden ist eben und fest. Noch dazu käme der Bahnhof hart an die Stadt. Alle Gründe sind dafür. Aber nein, nichts da! Die Bahn muß da heroben deutet um die Stadt herum, durch nasses Terrain, schneidet den Garten vorn Bierbrauer Schweigel mitten durch, und der Bahnhof liegt weitmächtig draußen. Sehen Sie da sachliche Gründe?

Beringer nervös. Ich bin eben nicht Techniker. Ich sehe sie nicht, aber sie sind jedenfalls vorhanden.

Major sieht ihn einen Augenblick an. Ja so. Da hätte ich mir die Arbeit sparen können. Tun wir den Bahnhof wieder weg! Schiebt den Brotkorb zurück.

Frau Bürgermeister Das ist auch das Gescheiteste. Ihr werdet ja doch nicht einig.

Major Allerdings.

Beringer Ich finde es – abgesehen von allem anderen so zwecklos, an einer beschlossenen Sache rütteln zu wollen.

Major Auch dann, wenn man das Unrecht sieht?

Beringer Was, Unrecht!

Major Warum soll man Verstecken spielen? Jedermann weiß, daß der Baron Reisach für seine Ziegelei den Umweg durchgesetzt hat.

Beringer Er ist einmal der größte Industrielle im Bezirk.

Major Dann soll er sich selber ein Gleis bauen.

Beringer Ich begreife nicht, warum Sie sich darüber aufregen. Es muß Ihnen doch peinlich sein, wenn die Leute fortwährend über die Autorität losziehen.

Major Das ist mir ganz wurst. Ich begreife vielmehr nicht, wie einem bloß das gelten kann, was mit dem Amtssiegel petschiert ist.

Beringer Ich bin Beamter.

Major Wie ich jung war, hat man die Menschheit nicht in Beamte und sonstige Zweifüßler eingeteilt.

Frau Bürgermeister jetzt hört aber auf!

Suschen Du bist recht garstig, Onkel!

Beringer Ich halte es für meine Pflicht, keine Kritik auszuüben.

Major Wenn man sieht, daß ein Unsinn gemacht wird, sagt man es frisch weg.

Beringer erregt. Sie wollen doch nicht sagen, daß eine Behörde in ihrem Wirkungskreis einen Unsinn begeht?

Major Warum denn nicht? Halten Sie die Leute für unfehlbar?

Beringer In gewisser Beziehung – ja!

Major schlägt zornig auf den Tisch. Drei Teufel übereinander! Da hört sich doch Verschiedenes auf.

Frau Bürgermeister Aber Schwager!

Major Das ist der richtige Hochmut! Deswegen werden heutzutag so viele Dummheiten gemacht.

Beringer ist aufgestanden, knöpft den Rock zu, nimmt den Hut und verbeugt sich sehr gemessen.

Beringer Ich habe die Ehre.

Suschen steht ebenfalls auf. Bleib, Adolf! Der Onkel meint es nicht so.

Beringer geht nach links. Ich muß dir offen gestehen, daß mir derartige Szenen unangenehm sind. Meine Stellung erlaubt mir nicht, alles anzuhören.

Suschen schiebt ihren Arm unter den seinen; sie gehen zusammen links ab. Man hört Beringer noch unter der Türe sagen:

Als Beamter habe ich gewisse Rücksichten zu üben...

Dritte Szene

Frau Bürgermeister. Der Major.

Frau Bürgermeister Müßt ihr denn immer streiten? Jedesmal fängst du an.

Major Da gehört eine Schafsgeduld dazu, wenn man so was hört.

Frau Bürgermeister Du bist schon zornig, wenn Adolf nur den Mund aufmacht.

Major Ich kann es nicht leiden, wenn einer sich stellt, als wenn er einen Ladstecken verschluckt hätte.

Frau Bürgermeister Mit dem Streiten wird auch nichts besser.

Major Es wird einem gleich viel wohler, wenn man seine Meinung heruntersagt.

Frau Bürgermeister lebhaft. Der Fritz! Da kommt der Fritz!

Durch die Gartentür treten ein Bürgermeister Rehbein, Bierbrauer Schweigel und Kaufmann Stelzer. Rehbein gutmütig, etwas altväterisch, in den fünfziger Jahren, Schweigel gesunder Bierbrauertypus, Stelzer mit kleinstädtischer Sorgfalt gekleidet, höflicher Kaufmann mit gewählter Redeweise. Schweigel trägt diensteifrig den altmodischen Reisesack des Bürgermeisters.


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