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II. Kritische Betrachtung der neueren Quellenforschung

1. Wie die Verwirrung entstand

Seitdem die vorstehende Quellenkritik, die ich, wegen des besseren Verständnisses für die seit 1885 angestellten Untersuchungen und im folgenden gebrachten Darlegungen, unverändert stehen lasse, von mir gegeben ward, ist eine große, ja kaum mehr übersehbare Literatur über die Quellenfrage entstanden. Bis jetzt, wie ich gleich vorausschicken darf, mit sehr wenigen positiven Resultaten. Vielmehr ist durch vorgefaßte Meinungen und Hyperkritik eine Verwirrung hervorgebracht worden, aus der es kaum mehr einen Ausweg zu geben schien – ein trauriges Beispiel für die Verirrungen, in die man gerät, wenn man, auf Neues erpicht und von bestimmten Voraussetzungen besessen, die nötige Rücksicht auf Traditionen beiseite setzt und sich dem Einfachen und natürlich Gegebenen verschließt.

Ich kann auf diese umfängliche Literatur im einzelnen nicht eingehen, so wenig wie auf eine alles einzelne berücksichtigende Kritik der zahlreichen verschiedenen Hypothesen. Dies hieße ein zweites großes und, wie mir dünkt, unnötiges Buch schreiben. Auch liegt für mich, da gerade mein Werk doch in gewissem Sinne den Anstoß zu allen folgenden Erscheinungen gegeben hat, kein Grund vor, es durch kompendiöse Auseinandersetzungen mit diesen seines Charakters zu berauben und den Leser durch das Labyrinth mit hindurchzuschleppen, sondern es genügt, meine eigene Meinung, die ich mir aus dem qualvollen Studium jener Untersuchungen und aus der erneuten Prüfung der Quellen gebildet habe, in Kürze darzulegen.

Nur die wichtigsten Tatsachen der zuerst durch Sabatier aufgestellten neuen Behauptungen und der dann weiter in Zustimmung und Kampf hervorgerufenen Meinungen wollen verzeichnet sein Einen Überblick geben: Michele Faloci Pulignani: Gli storici di S. Francesco. Foligno 1899. – Walter Goetz: Franz von Assisi in »Neue Jahrbücher für das klass. Altertum, Geschichte und deutsche Literatur« 1900. V. Band. – Salvatore Minocchi: La quistione Francescana. Turin 1902..

Der Ausgangspunkt von Sabatiers langem Irrwege, aus dessen äußerster Sackgasse er selbst neuerdings wiederum umgedreht ist, war die Wahrnehmung, daß das, was das Vorwort der »Drei Genossen« verheißt, von der ihnen zugeschriebenen Legende nicht erfüllt wird, daß es nicht zu der Legende paßt. Es sagt nämlich: »non contenti narrare solum miracula, quae sanctitatem non faciunt sed ostendunt, sed etiam sanctae conversationis ejus insignia, et pii beneplaciti voluntatem ostendere cupientes, ad laudem et gloriam summi Dei et dicti Patris sanctissimi atque aedificationem volentium ejus vestigia imitari. Quae tamen per modum legendae non scribimus, cum dudum de vita sua et miraculis, quae per eum Dominus operatus est, sint confertae legendae. Sed velut de amoeno prato quosdam flores, qui arbitrio nostro sunt pulchriores, excerpimus, continuantem historiam non sequentes, sed multa seriose relinquentes, quae in praedictis legendis sunt posita tam veridico quam luculento sermone; quibus haec pauca, quae scribimus, poteritis facere inseri, si vestra discretio viderit esse justum. Credimus enim, quod si venerabilibus viris, qui praefatas confecerunt legendas, haec nota fuissent, ea minima praeterissent, nisi saltem pro parte ipsa suo decorassent eloquio, et posteris ad memoriam reliquissent.«

Der folgende Text, statt diese Ankündigung wahr zu machen, statt nämlich bloß neues Material in aneinandergereihten Einzeltatsachen und -erzählungen (»quosdam flores«) den früher geschriebenen Legenden hinzuzufügen, bringt im Anschluß an des Thomas I. Legende, wie diese, eine fortlaufende Historie. Aus dieser Inkongruenz zog Sabatier den Schluß, die Legenda trium sociorum läge unvollständig vor, und glaubte die nicht erhaltenen Teile in dem Speculum vitae sancti francisci et sociorum ejus zu erkennen.

In dem Speculum vitae (Ausgaben von 1504 und 1509) nämlich unterschied er – und hier liegt das Verdienstvolle seiner Forschungen – jüngere und ältere Bestandteile. Die letzteren, 118 Kapitel, stellte er auf Grund eingehenden Studiums der Handschriften als das in diesen mit »Speculum perfectionis« bezeichnete Werk fest und zugleich die Meinung auf, dessen Verfasser sei Franzens vertrauter Schüler Leo, einer der Tres socii. Den Beweis hierfür glaubte er durch folgende Tatsachen erbracht: 1. Ubertino da Casale (ungefähr 1259–1338), der leidenschaftliche Spirituale, erwähnt in seinem Arbor vitae crucifixae Jesu (1305 verfaßt, Ausgabe Venedig 1485) öfters Aufzeichnungen Leos über Franz. 2. Aus zwei Kapiteln (1 und 11) im Speculum geht hervor, daß dessen Verfasser mit Franz auf einem Berge war, als Franz die Regel schrieb: und die Begleiter Franzens damals waren Leo und ein andrer Bruder. 3. Einige erhaltene Schriften Leos stimmen geistig mit dem Speculum überein. Hierzu kam die Entdeckung einer Notiz in der freilich aus dem 15. Jahrhundert stammenden Handschrift 1743 der Bibliothèque Mazarin in Paris, welche besagt, daß das Speculum am 11. Mai 1227 in S. Maria in Portiuncula vollendet wurde. (Da Sabatier selbst an die Richtigkeit dieser Angabe – die ganz ausgeschlossen ist – nicht mehr glaubt Vgl. The Weekly Register 1900. p. 750., brauchen wir auf sie kein Gewicht zu legen.) Alle ausführlichen Darlegungen Sabatiers findet man in seiner Ausgabe des Speculum: Speculum perfectionis seu S. Francisci Assisiensis Legenda antiquissima auctore fratre Leone. Paris 1898.

Die Vermutung, dieses angeblich von Leo verfaßte Speculum perfectionis habe den verschollenen Teil und damit den Hauptinhalt der Legenda trium sociorum gebildet, d. h. Leos ältere Schrift sei 1246 in dieser gleichsam zum zweiten Male veröffentlicht worden, schien ihre volle Bestätigung zu erhalten. Im Jahre 1856 hatte der Padre Stanislao Melchiorri nach einem jetzt verlorenen Kodex, der von Achillei Muzio nach einem älteren 1577 kopiert worden war, die Legenda trium sociorum mit einem Appendix von 62 Kapiteln veröffentlicht (nach ihm Leopoldo Amoni, Rom 1880). Die Padri Marcellino da Civezza und Teofilo Domenichelli erkannten in dieser bereicherten Fassung die bisher vermißte vollständige Legende der drei Genossen. Die Übersetzung des italienischen Textes jener hinzugefügten Kapitel ins Latein ergab die Übereinstimmung mit den entsprechenden Erzählungen im Speculum perfectionis, der Widerspruch zwischen dem Vorwort und dem Texte der Tres socii war gehoben, denn eben jene einzelnen Erzählungen des Appendix waren als »flores quidam« zu bezeichnen – kurz: die bisher bekannte Legenda trium sociorum war nur ein Bruchstück, wie Sabatier vermutet hatte, und die wiederhergestellte vollständige Legende wurde von den beiden Padri 1899 herausgegeben: »La leggenda di S. Francesco scritta da tre suoi compagni pubblicata per la prima volta nella vera sua integrità dai Padri Marcellino da Civezza e Teofilo Domenichelli, Roma Vgl. Sabatier: De l'authenticité de la Légende de saint F. dite des trois Compagnons. Revue historique. 1901. Bd. 75..

Hatten nun diese Behauptungen recht, so trat eine vollständige Umkehrung des Verhältnisses der ältesten Quellen zueinander ein. Dann mußte Thomas von Celano entthront und an seine Stelle der Bruder Leo, resp. die Tres socii gesetzt werden. Und so kam es auch: das Speculum perfectionis wurde für die älteste und glaubwürdigste Quelle gehalten, dann folgte die I. vita des Thomas, hierauf die Legenda trium sociorum und zuletzt, abhängig von dieser, die II. vita des Thomas. Denn längst war die vielfache Übereinstimmung der II. vita mit den Tres socii bekannt, und es ergab sich weiter, daß eine solche auch zwischen der II. vita und den neu aufgefundenen Bestandteilen der Tres socii herrscht. Sabatier suchte ausführlich den Beweis zu führen, daß Thomas in seiner II. Legende das Speculum verwertet habe.


Die Folgerungen, die aus dieser »Umwertung« der Quellen gezogen wurden, waren weitgehende, aber wie mir scheint, übertriebene. Das Licht, in dem Franz von Assisi, sein Wesen und Wollen im Speculum erscheint, ist freilich ein etwas anderes, als das, in dem ihn uns die I. vita des Thomas zeigt. Aber indem auf die Abweichungen ein viel zu starkes Gewicht gelegt wurde, gewann der schon zu Lebzeiten des Heiligen eingetretene Streit zwischen einer strengen und einer laxen Richtung, der später zwischen den Spiritualen und Konventualen zu einem so erbitterten ward und nicht aufgehört hat, die Anhänger des Mannes von Assisi in zwei Lager zu scheiden, durch Sabatiers Behauptungen neues und eigentümliches Leben.

Hatte nämlich das Speculum als älteste Quelle, als Zeugnis eines Franz ganz nahestehenden, ganz in seine Intentionen eingeweihten Bruders: des Leo, recht, so konnte die I. vita als eine Parteischrift, die, unter dem Einfluß des Elias entstanden, die Sache der Laxen gegenüber den Zelanten, deren Führer Leo war, vertrat, erscheinen, so haben die Spiritualen recht gehabt, sich als die wahren Nachfolger des Franz zu bezeichnen, so war ihre zu Häresien führende, der Kirche gefährliche und von der Kirche bekämpfte Richtung das eigentliche Franziskanertum. Die in meinem Buche zuerst aufgestellte Behauptung, Franz habe an die Waldenser angeknüpft, sein Christentum sei der Kirche gefährlich gewesen und nur der Weisheit Innocenz' III. und der positiven Wesensanlage des Heiligen habe die Kirche es verdankt, wenn diese gefahrdrohende Bewegung in ihr geheiligtes Bereich übergeleitet wurde, gewann eine mächtige Bestätigung. Hatte ich es doch auf S. 370 (II. Auflage S. 398) direkt ausgesprochen: »Die alte Häresie der Waldenser, aus der Franziskus selbst hervorgegangen, scheint in dieser Zelantenbewegung (im Anfang des 14. Jahrhunderts) nur in veränderter Gestalt wieder ihr Haupt zu erheben, was für die Auffassung des Franz selbst interessant genug ist. Er ist schließlich doch nichts anderes als ein von der Kirche zu Gnaden angenommener Häretiker gewesen und die, welche die ganze praktische Konsequenz seiner Lehre zogen, mußten in offenen Widerspruch gegen die Hierarchie geraten.« Wohl bemerkt! habe ich diese Auffassung gewonnen, ohne das Speculum perfectionis als eine älteste und wichtigste Quelle zu betrachten, bloß auf Grund der I. und II. vita des Thomas! Schon hieraus kann man entnehmen, daß schließlich auf das Speculum nicht so viel ankommt, als man neuerdings, alle Fragen ungebührlich zuspitzend, behauptet.

In demselben Jahre wie mein Buch, 1885, erschien Karl Müllers Arbeit: »Die Anfänge des Minoritenordens und der Bußbruderschaften.« In ihm ward die ursprüngliche Absicht des Franz dahin gedeutet, eine Gemeinschaft und Art der Bußbruderschaften zu begründen als »eine freie Vereinigung von Brüdern, Genossen, die durch das gemeinsame Band eines religiösen Ideals von besonderer Färbung und vorzüglich eines und desselben kirchlichen Berufs zusammengehalten sind«. Meine und Müllers Meinungen sind von Sabatier aufgenommen, aber ins Extreme getrieben worden. Ich zitiere Walther Goetz: »Daß Franz ein Vorkämpfer einer individualistischen Religiosität, ein Gegner der mittelalterlichen Kirche, eine Art Vorreformator gewesen, knüpfte zwar enge an Gedanken Thodes an, steigerte sie aber zugleich auf ein Bedenken erregendes Maß.«

Sabatier gelangte dazu, Franz in einen Gegensatz zur Kurie geraten zu lassen, und Mandonnet Les origines de l'Ordo de Poenitentia. Compte rendu du IV Congrès scientifique international des Catholiques 1897, 5. Section S. 183-215., der noch über Sabatier hinausging, machte aus Franzens Absicht einer freien Vereinigung diejenige einer großen Bruderschaft aller Seelen, einer franziskanischen Welt.

Es konnte nicht ausbleiben, daß gegen solche Meinungen energischer Widerspruch sich erhob – ich nenne nur Raffaele Mariano: Francesco d'Assisi e alcuni dei suoi più recenti biografi, Neapel 1896, und Faloci Pulignani: Gli storici di S. Francesco, sowie andere zahlreiche Arbeiten in den Miscellanea Francescana und Arnold E. Berger in den Biographischen Blättern 1896. II. Bd. – und ich selbst, der ich sie mit veranlaßt, konnte in Sabatiers und Mandonnets Meinungen nur Übertreibungen gewahren, denen beizustimmen mir unmöglich war. Vielmehr mußte ich sie als Entstellungen des Bildes, das ich von dem Heiligen entworfen und an dem ich heute noch festhalte, betrachten.

Gerade aber durch jene dem Speculum zuerkannte Bedeutung müßte auch Sabatier sich veranlaßt sehen, von seinen extremen Ansichten zu lassen, denn das Speculum gibt wohl mir, nicht aber ihm recht. In welchem Sinne, darüber belehrt die vortreffliche Abhandlung von Walter Goetz: »Die ursprünglichen Ideale des h. Franz von Assisi« in der Historischen Vierteljahrschrift 1903. Deren ersten Satz freilich: »Die Gründung des h. Franz hatte, ohne daß er sich vielleicht darüber ganz klar war, bereits im Anfang eine mönchische Richtung: der spätere erste Orden war in einer primitiven Form der Kern der Bewegung«, möchte ich nicht unterschreiben. Vielmehr würde ich so sagen: der gottbegeisterte Mann handelte anfangs aus keinen anderen Motiven, als aus dem Zwange der Betätigung seines von Liebe zu Gott und der Welt erfüllten Wesens, und als sich zuerst Jünger ihm gesellten, dachte er sich deren Tätigkeit wie die eigene, als evangelische Predigt im Geiste und nach Art der Apostel. Erst als seine Anhängerschaft wuchs, sah er sich zu einer Organisation genötigt, die bei seiner unbedingten Willfährigkeit den kirchlichen Institutionen gegenüber unter deren Einfluß zu einer mönchischen Institution werden mußte. Was Goetz aber im folgenden sagt, findet meine volle Zustimmung: »Parallel mit der Vergrößerung der Mitgliederschaft und der Tätigkeit hat sich schon im Laufe des ersten Jahrzehnts eine den Ordenscharakter stärker anzeigende Verfassung entwickelt. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer Neuorganisation ist Franz zum Bewußtsein gekommen, als 1219-1220 in seiner Abwesenheit Verwirrung im italienischen Ordensgebiet entstand; er erbittet sich dazu die Hilfe der Kurie, und der Kardinal von Ostia wirkt in den nächsten Jahren bei der Neuordnung mit. Dabei ergibt sich ein Widerspruch – nicht zwischen inniger Religiosität und hierarchischer Selbstsucht, sondern zwischen den hochgespannten Idealen des Heiligen und dem praktischen Sinne des Kardinals, der aber dennoch das Werk mit ehrlichem Anteil zu fördern bestrebt ist. Derselbe Widerspruch tritt in den letzten Jahren des Heiligen innerhalb des Ordens hervor als natürliche Folge der zu hochgestellten Anforderungen. Es ist der tragische Konflikt im Leben des Heiligen, wenn er die Unerfüllbarkeit seines Ideals erleben muß.« Man vergleiche hiermit, was ich auf den Seiten 49 und 58 oben, wie schon in der ersten Auflage dieses Buches gesagt, und man wird die Übereinstimmung mit Goetz aus neuen gründlichsten Studien gewonnener Meinung nicht verkennen können. Goetz aber hat seine Meinung sich gebildet auf Grund eben der Anerkennung des Speculum perfectionis als einer, wenn auch nicht frühesten, so doch frühen Quelle.

Demnach steht die Sache so: Meine Auffassung des Heiligen wird in keiner Weise durch die neuerdings dem Speculum und der Legenda trium sociorum zuerkannte Bedeutung berührt oder verändert. Die älteste Quelle bleibt die I. vita des Thomas und auf diese vor allem habe ich meine Auffassung und Schilderung begründet, mit Hinzuziehung in zweiter Linie der II. vita, welche ja den Inhalt des Speculum im wesentlichen in sich schließt, und mit bloß ergänzender Verwertung der Tres socii. Daher konnte ich meine Lebens- und Wesensschilderung des h. Franz, von geringfügigen Kleinigkeiten abgesehen, in dieser zweiten Auflage beibehalten, wie ich sie in der ersten gegeben.

Wenn ich im folgenden meine Meinung über das Verhältnis der Quellen zueinander äußere, so hat dies daher auch nur einen allgemeinen methodologischen Wert.

 

2. Die ältesten Zeugnisse über die Quellen zur Geschichte des Franz

Führen wir zunächst die ältesten Zeugnisse über die Biographien des h. Franz an Vgl. hierzu Salvatore Minocchi: La »Legenda trium sociorum«; nuovi studj sulle fonti biografiche di S. Francesco d'Assisi. Archivio storico italiano 1899. 1900. – Michele Faloci Pulignani: Gli storici di S. Francesco. Foligno 1899.. Da ist an erster Stelle Bernardo da Bessa zu erwähnen, der in seinem um 1275 geschriebenen »liber de laudibus« folgende vier Biographen anführt:

  1. Thomas von Celano,
  2. Johannes, Notar des apostolischen Stuhles (die Legende beginnend: »quasi stella«),
  3. Julian von Speyer,
  4. Bonaventura.

Sehr beachtenswert ist, daß die Legenda trium sociorum nicht genannt wird. Da Bernardo, der in nahen Beziehungen zu Bonaventura stand, ja vielleicht dessen Sekretär war, wohlunterrichtet gewesen sein muß, liegt der Schluß, daß es zu seiner Zeit eine Legenda trium sociorum noch nicht gab, sehr nahe.

Die zwei Viten des Thomas sind bekannt. Ein drittes Werk des Thomas, das verschollen war, ist vom P. van Ortroy bei den Kapuzinern in Marseille aufgefunden und veröffentlicht worden: der Traktat von den Wundern Traité des Miracles in den Analecta Bollandiana 1899. t. XVIII.. Ein viertes war die kurze für den Chorgebrauch. – Dazu kommt die Legende in Versen, welche P. Edouard d'Alençon auf Grund eines Manuskriptes in Versailles als die Arbeit eines Magister Henricus feststellte Miscellanea Francescana. Foligno 1889. vol. IV.. In diesem Henricus erkannte Novati den Frater Henricus Pisanus Miscellanea Francescana. Foligno 1890. vol. V..

Die Legende des Julian von Speyer wurde von P. F. d'Araules in den von den Bollandisten publizierten und von ihnen dem Giovanni da Ceperano zugeschriebenen Bruchstücken nachgewiesen P. d'Araules: La vie de Saint Antoine de Padoue. Bordeaux 1899. – D'Alençon: de legenda Sancti Francisci a Juliano a Spira conscripta. Spicilegium Franciscanum. Rom 1900.. Sie steht in Abhängigkeit von Thomas. Demnach ist von den Biographien, welche Bernardo da Bessa erwähnt, nur die des Notarius Johannes noch nicht bekannt, denn eine kleine Chorlegende in Toulouse, die vom P. d'Alençon veröffentlicht wurde, ist im besten Falle nur ein Extrakt aus der verschollenen Legende des Johannes (zu Anfang heißt es: »ex gestis ejus quae incipiunt: Quasi stella«) und ist nach Minocchis Behauptung vielmehr von Celano abhängig Herausgegeben von d'Alençon im Spicilegium Franciscanum. Rom 1899.. Wadding nennt ihn Giovanni da Ceperano (der auch angeführte Vorname Tommaso da Ceperano erklärt sich aus einer Verwechslung mit Tommaso da Celano).

Es folgt auf Bonaventura die Schrift »de laudibus beati Francisci« von eben jenem Bernardo da Bessa um 1275, 1897 in Rom vom P. Ilarino von Luzern und in den Analecta Franciscana (Quaracchi) veröffentlicht. In den biographischen Teilen ist das Buch von Thomas abhängig.

 

Die nächsten Mitteilungen über die Biographen des h. Franz erhalten wir von der um 1333 verfaßten Cronaca delle Tribolazioni des Angelo Clareno Zum größten Teile publiziert vom P. Ehrle im Archiv für Literatur und Kirchengeschichte. 1885. Bd. II. Zum Teil von Prof. Tocco, Archivio storico ital. 1885.. Clareno sagt, daß vier Männer das Leben des Heiligen geschrieben haben:

  1. Johannes,
  2. Thomas von Celano,
  3. Bonaventura,
  4. Bruder Leo.

Dieselbe Liste wird auch in dem etwa gleichzeitigen Anonimo Capponiano, den Minocchi entdeckte, gegeben Rivista critica e storica di studj religiosi. Florenz 1901. IV..

Also erst im Anfang des 14. Jahrhunderts, um 1330, weiß man von einer Legende, die Leo verfaßt hat! Daß man den von Thomas abhängigen Julian von Speyer nicht mehr nennt, ist leicht begreiflich.

Am Ende des 14. Jahrhunderts endlich, in den Conformitates, ist die Liste noch umfangreicher geworden. Sie zitieren

  1. Bonaventura,
  2. Legenda antiqua (oder Legenda vetus),
  3. Tres socii,
  4. Thomas de Celano II vita,
  5. Bernardo da Bessa,
  6. Speculum perfectionis.

Jetzt erst also werden die Tres socii angeführt! Ist die Legenda antiqua die I. vita des Thomas oder ein anderer Ausdruck für das Speculum oder die Leggenda antica des Capponiano? Das ist nicht ohne weiteres zu bestimmen. Die Chronik der XXIV Generale versteht unter leggenda antica den Thomas von Celano. Wir kommen hierauf später zurück. Versteht Bartholomäus Pisanus unter den Tres socii oder unter dem Speculum perfectionis die von Clareno angeführte, von Leo verfaßte Lebensbeschreibung? Vermutlich ist das Speculum identisch mit Leos Schrift.

Die zunächst aus den Aussagen des Bernardo Bessa, des Angelo Clareno und der Conformitates sich natürlich ergebende Schlußfolgerung ist diese:

Bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts sind nur die Legenden des Thomas von Celano, des Giovanni und des Bonaventura (sowie die weniger bedeutende des Julian von Speyer) bekannt. Diejenige des Leo (vermutlich das Speculum perfectionis) tritt erst im Anfange des 14. Jahrhunderts auf und noch später (erst Ende dieses Jahrhunderts genannt) die der Tres socii, von welcher, was zu beachten ist, Handschriften erst aus dem 15. Jahrhundert bekannt sind.

Hiermit ist ein erster fester Grund und Boden gegeben. Es fragt sich, ob die Quellenkritik die hier angedeutete zeitliche Aufeinanderfolge der Legenden bestätigt.

 

3. Die einzigen als Quellen wichtigen alten Legenden sind die I. und II. vita des Thomas von Celano

Unbestritten bleibt, nachdem der aller besonnenen Kritik Hohn sprechende Versuch Sabatiers, sein Speculum perfectionis an die erste Stelle zu setzen, vollständig gescheitert ist, die Tatsache, daß des Thomas I. vita die früheste, etwa 1228/1229 entstandene Lebensbeschreibung des Heiligen ist Das endgültige, alle Umstände am eingehendsten berücksichtigende Wort hierüber hat Walter Goetz gesprochen: Die Quellen zur Geschichte des h. Franz von Assisi in Zeitschr. für Kirchengeschichte XXIV. Band u. ff. – Vgl. aber auch: Tilemann: Das Spec. Perf. und die Legenda trium sociorum. Leipzig 1902. – Faloci Pulignani: Miscellanea Francescana VII, S. 146 ff.. Ein großer Streit der Meinungen aber herrscht noch über die Entstehungszeit des Speculum, über sein Verhältnis zu der II. vita des Thomas und zu den Tres socii, sowie über die Legenda trium sociorum.

Was die letztere angeht, so hat sich weitaus die Mehrzahl der Forscher dafür entschieden, daß die neuerdings veröffentlichte sogenannte »vollständige« Legende nicht die ursprüngliche, sondern eine Kompilation ist. Ich schließe mich dieser Ansicht durchaus an: ein eingehender Vergleich beweist als unzweifelhaft, daß die hinzugefügten Teile nichts anderes als eine Verarbeitung und Verschmelzung der betreffenden Texte der II. vita und des Speculum sind.

Bezüglich des Speculum aber scheint die Meinung, daß ein Teil desselben alt sei, zum Siege zu gelangen. Salvatore Minocchi hat diesen Teil näher bestimmt, indem er nachwies, daß viele Kapitel des Werkes Quellen der II. vita des Thomas sind, während viele andere auf Thomas zurückzuführen sind In den Nuovi studj sulle fonti biographiche di S. F. Archivio storico italiano 1899 und 1900.. Auf Grund solcher Feststellungen nahm er die Ausscheidung des Alten vor. Als eine Bestätigung seiner Meinung durfte er die Entdeckung einer angeblichen ersten Redaktion des Speculum durch Fr. Lionardus Lemmens im Archiv von S. Isidoro in Rom freudig begrüßen, denn diese Redaktion entsprach im wesentlichen dem von ihm als alt ausgeschiedenen Teil. Sie enthält nichts von spiritualer Polemik und dürfte vor 1318 anzusetzen sein Documenta antiqua Franciscana ed. Fr. Leonardus Lemmens. Pars II. Speculum perfectionis (Redactio I). Quaracchi 1901.. – Von allen Forschern hält nur Della Giovanna an seiner Meinung fest, das Speculum gehöre durchweg dem 14. Jahrhundert an S. Francesco d' Assisi Giullare e le Laudes Creaturarum. Im Giornale storico della Letteratura Italiana 1895. Bd. XXV. – Intorno alla più antica leggenda di S. F. d. A. In derselben Zeitschrift. 1899. Bd. XXXII..

Nun hat Minocchi weiter aber die Meinung aufgestellt, jener alte Teil des Speculum sei die wahre Legenda trium sociorum und die bisher so genannte (die »unvollständige«) sei nichts anderes als die bisher vermißte Legende des Notar Johannes (von Ceperano). Als Beweise bringt er hierfür folgendes: 1. Bernardo da Bessa, der doch nicht die Legenda trium sociorum, sondern Johannes als eine seiner Quellen zitiert, bringt wiederholt Stücke aus der sog. Legende der drei Genossen. 2. Diese allein zitiert die Bullen und Privilegien, die dem Orden zuteil wurden. Wer käme da eher als Verfasser in Betracht, als der Notar der päpstlichen Kurie, Johannes? 3. Die Abhängigkeit von der I. vita des Thomas würde so begreiflich. 4. Der Verfasser steht den Parteiungen im Orden ganz unparteiisch gegenüber. Diese Argumente haben unzweifelhaft etwas sehr Bestechendes. Wie aber erklärt Minocchi, daß alle Manuskripte der Legenda trium sociorum den Prolog haben: den Brief, in welchem die drei Genossen sich als Verfasser bekennen? Er nimmt an, daß der Prolog, jener Brief der drei Genossen, ursprünglich den Anfang des Speculum bildete, daß dann das Speculum einen anderen Prolog erhielt und der Brief an das Ende gesetzt wurde, daß in den Kodizes (als Beispiel wird der Kodex von Ognissanti angeführt) auf das Speculum die Legende des Giovanni folgte und so der Brief zum Prolog dieser, also die Legende des Giovanni fälschlich zur Legenda trium sociorum gestempelt ward. Endlich weist er darauf hin, daß Bernardo da Bessa sage: die Legende des Giovanni habe begonnen: quasi stella matutina, und im Codex Vaticanus 7339 beginne die Legende mit einem zweiten Prolog, dessen Anfang laute: »perfulgidus ut lucifer et sicut stella matutina«.

Es läßt sich nicht leugnen, daß Minocchis Hypothese, ebenso wie ihre Begründung geistreich ist. Wäre sie wahr, dann besäßen wir alle von Bernardo da Bessa erwähnten frühesten Biographien des h. Franz. Aber unmittelbar drängt sich die Frage auf: wenn es eine Legende der drei Genossen (nämlich der alte Teil des Speculum) gab und sie von Thomas in seiner II. vita als Quelle benutzt ward, wie erklärt es sich, daß Bernardo da Bessa sie nicht nennt?

Und hier kommen wir, wie mir dünkt, in den Brennpunkt der kritischen Frage! Läßt uns schon das mangelnde Zeugnis Bernardos die Annahme, es habe zu seinen Zeiten eine Legenda trium sociorum gegeben, als sehr bedenklich erscheinen, so wird diese Bedenklichkeit zum Unglauben, wenn wir die Tatsache scharf ins Auge fassen, daß Bonaventuras Legende, also die entscheidende Legende, welche die früheren Zeugnisse von Franzens Leben verarbeitete, keinerlei Hinweis auf die Existenz des Speculum (also das angebliche Werk Leos oder der drei Genossen) enthält!! Hätte es ein so wichtiges Dokument von unmittelbaren Jüngern des Franz gegeben – und wären es auch nur noch nicht redigierte Einzelberichte gewesen –, wie hätte der General des Ordens, der Verherrlicher des Heiligen, der dessen endgültige Lebensbeschreibung verfaßte, sie nicht kennen, nicht benutzen sollen? Einen Parteistandpunkt als Erklärung dafür anführen zu wollen, hieße sowohl den Charakter Bonaventuras ganz verkennen, als, selbst Parteilichkeit vorausgesetzt, das Unwahrscheinlichste behaupten. Denn jener vorausgesetzte alte Teil des Speculum enthält nichts Parteiisches.

Wenn Bonaventura das Speculum nicht benutzt hat, so heißt das so viel, als: er hat es nicht gekannt, und da es weiter undenkbar ist, daß er es nicht hätte kennen müssen, so gibt es nur eine Schlußfolgerung: das Speculum hat zu seinen und Bernardo da Bessas Zeiten nicht existiert.

Nur eine Einwendung könnte hier erhoben werden. Das Speculum sei die Quelle der II. vita des Thomas gewesen, sei gleichsam in dieser aufgegangen und Bonaventura habe es nicht notwendig gehabt, auf diese Quelle zurückzugreifen, da Thomas ihren Inhalt bereits literarisch verarbeitet hatte. Denkbar, aber sehr unwahrscheinlich, denn soweit war Bonaventura doch gewiß Historiker, daß er die unmittelbaren Zeugen hätte zu Worte kommen lassen, namentlich was die Worte und Reden des Heiligen betrifft. Und immer würde es unbegreiflich bleiben, daß Bernardo da Bessa eine Legende von solcher primärer Bedeutung nicht genannt.

Kurz: ich sehe keinen anderen Weg natürlicher Entscheidung, als die Behauptung: das Speculum hat im 13. Jahrhundert noch nicht existiert.

Was aber lehrt uns die Prüfung Bonaventuras weiter bez. der Legenda trium sociorum? Nichts anderes als dies: auch die Legende der drei Genossen hat zu Bonaventuras Zeiten nicht existiert. Und hier muß ich meine eigene frühere Ansicht berichtigen. Denn in der ersten Auflage dieses Buches behauptete ich zwar schon die Abhängigkeit der Tres socii von des Thomas II. vita, ließ die Legenda trium sociorum aber doch unmittelbar nach dieser, also vor Bonaventura entstehen.

Ein erneuter Vergleich nämlich ergab mir Folgendes. Bonaventura, der im wesentlichen an Thomas' I. und II. vita sich hält, stimmt allerdings zuweilen im einzelnen Wortlaut mit den Tres socii überein, aber eine genaue Prüfung belehrt darüber, daß nicht er die Tres socii abgeschrieben, sondern daß die Tres socii ihn benutzt haben. Dies ergibt sich erstens daraus, daß häufig in Bonaventuras vita der Wortlaut der Texte des Thomas und der Tres socii in einer Weise miteinander verwoben ist, die Bonaventura als einen mühselig und sklavisch kopierenden Kompilator erscheinen ließe, was, unvereinbar mit einem Geiste, wie dem Bonaventuras, höchst befremden müßte, und zweitens aus der entscheidenden Tatsache: Alles, was in der Legenda trium sociorum als neu gegenüber der Vita des Thomas auftritt, findet sich nicht bei Bonaventura und doch enthält dieses Neue gar viele Mitteilungen, die Bonaventura hätten interessieren müssen, die er nicht hätte umgehen können, in seine Biographie aufzunehmen. Daß er nur das bringt, was dem Thomas und den drei Genossen gemein ist, beweist, daß er die Legenda trium sociorum nicht gekannt; dieselben Argumente, wie die das Speculum betreffenden, sind auch hier maßgebend: die Legende hat zu Bonaventuras Zeiten nicht existiert. Das Schweigen Bernardo da Bessas bestätigt dies.

Damit fällt aber auch die Hypothese Minocchis, die sog. Legende der Tres socii sei die verschollen geglaubte Legende des Notar Giovanni. Welcher Art diese gewesen, ist noch nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Ist die von d'Alençon publizierte Chorlegende wirklich ein Auszug aus ihr, dann dürfte ihr, als einer von Thomas von Celano abhängigen Schrift, keine besondere Bedeutung zukommen. Und daß sie eine solche nicht besessen, scheint auch Bonaventura zu beweisen. Von dem Neuen, was er, verglichen mit seiner Hauptquelle: Thomas, bringt, hat er offenbar das meiste selbst gesammelt; nur weniges könnte er der Legende des Giovanni entlehnt haben.

So zeigt es sich denn mit voller Ersichtlichkeit, daß Thomas von Celano vor Bonaventura der einzige, den Stoff schöpferisch gestaltende und vertrauenswürdige Biograph des h. Franz war. Und dies begreift sich leicht. Alle vorhandenen glaubwürdigen Berichte der Jünger des Heiligen und der Zeugen seines Lebenswerkes wurden eben von ihm gesammelt und verarbeitet. Die II. vita aber ist zugleich die den Socii verdankte Schilderung von dem Heiligen, man könnte sie mit einem gewissen Rechte die Legenda sociorum nennen. Denn, achten wir genau auf die Worte des Prologs und des Epilogs, so sind es ja die Socii selbst – nicht Thomas a Celano –, denen das Werk von dem Generalkapitel und vom Generalminister Crescentius in Auftrag gegeben worden ist. Spricht doch zu Anfang und am Ende eine Mehrzahl von es Überreichenden von sich und erwähnen sie doch neben sich den Mann, der es niedergeschrieben hat. Thomas war der Redakteur, er verarbeitete das ihm von den Socii gelieferte Material Bis in welche Wildnis eine verirrte Kritik sich versteigen kann, zeigt Sabatiers Behauptung: »Avec une habilité que je me dispenserai de qualifier, Thomas de Celano parla à façon à suggerer à ses lecteurs l'idée que la seconde Vie avait été faite en collaboration avec les socii«!!! Opuscules de crit. hist. III S. 70..

Man höre die ersten Worte des Prologes: Placuit sanctae universitati olim capituli generalis et vobis, reverendissime pater, non sine divini dispensatione consilii parvitati nostrae injungere, ut gesta vel etiam dicta gloriosi patris nostri Francisci nos, quibus ex assidua conversatione illius et mutua familiaritate plus ceteris diutinis experimentis innotuit, ad consolationem praesentium, et posterorum memoriam scribaremus. Und weiter gegen den Schluß des Prologs hin heißt es, mit Beziehung auf die früheren Arbeiten des Thomas: Continet in primis hoc opusculum quaedam conversionis facta mirifica, quae in legendis dudum de ipso confectis non fuerunt apposita, quoniam ad auctoris notitiam minime pervenerunt.

In der kleinen Einleitung zum II. Teil der II. vita dann spricht Thomas selbst (Singularform): Extimo autem, beatum franciscum speculum quoddam sanctissimum dominicae sanctitatis et imaginem perfectionis illius etc.

Und am Schluß des Ganzen lesen wir (wieder die Mehrzahl): Supplicamus (wir, nämlich die Genossen) etiam toto cordis affectu, benignissime pater, pro illo filio tuo, qui nunc et olim devotus tua scripsit praeconia. Hoc ipse opusculum etsi non digne pro meritis, pie tamen pro viribus colligens, una nobiscum tibi offert et dedicat. Dignanter illum ab omni malo conserva et libera, merita sancta in illo adaugens.

Daß bei dieser Gelegenheit die Socii, unter denen doch ganz gewiß auch Leo als Franz nächststehender Jünger sich befand, heimlich Material zurückgehalten, ist sehr unwahrscheinlich, da sie selbst ja das Werk verfassen und in offiziellem Sinne. Sie werden mitgeteilt haben, was sie mitzuteilen hatten. Das zeigt sich recht deutlich, wenn man sieht, wie wenig Neues Bonaventura hinzuzufügen fand, was er sich von einzelnen früher nicht Befragten, wie vor allem Illuminatus, einholte. Das Material, über das die Socii verfügten, veröffentlichten sie durch die literarisch geschulte Feder des Thomas, und dieser hat sich gewissenhaft seiner Aufgabe erledigt, was ganz ersichtlich ist, da die Auffassung der Jünger des Franz in der II. vita deutlicher hervortritt als in der I. vita, woraus sich der vielbesprochene, scheinbar gegen früher etwas veränderte Standpunkt des Biographen erklärt. Dessen Glaubwürdigkeit wird gerade durch diese Erscheinung in das hellste Licht gerückt. Daß einer oder der andere Mitarbeitende seine Berichte, vielleicht auch dies oder jenes, was von Thomas nicht verarbeitet ward, für sich niedergeschrieben hat, ist denkbar und wahrscheinlich, ja im einzelnen Falle bei Leo nachweisbar, und daß derartiges in die spätere kompilierende Literatur des 14. Jahrhunderts aufgenommen ward, werden wir später noch sehen. Aber eine als Ganzes abgefaßte Legende – wie die sog. Legenda trium sociorum oder das Speculum – gab es nicht. Das ergibt sich aus allem Vorhergesagten in einer, wie mir scheint, unwiderleglichen Weise.

Die Legenda sociorum und das Speculum waren in der II. vita, die man vita der Socii nennen kann, enthalten.

Alles Wissenswerte bez. des Heiligen und der Auffassung, die seine Jünger von ihm hatten, ist in den einzigen wahren Quellen, den beiden Viten des Thomas, zu finden. Nur Weniges tritt ergänzend zu ihnen hinzu.

 

4. Das Speculum perfectionis und die Legenda trium sociorum sind Erzeugnisse des 14. Jahrhunderts

Es bleibt nun noch die Frage, die freilich von nebensächlicher Bedeutung ist, zu beantworten: wann und wie entstanden das Speculum und die Legenda trium sociorum?

Was zunächst das Speculum anbetrifft, so verdanken wir Sabatier selbst, der eine so große bedenkliche Verwirrung in der Quellenkunde und -kritik des h. Franz angerichtet hat, alle bestimmenden Hinweise auf dessen Entstehung. Della Giovanna, der noch heute daran festhält, diese falle in das 14. Jahrhundert, hat nach meinem Dafürhalten ganz recht. Alles weist darauf hin, daß die Geburtsstätte des Speculum perfectionis, welches als älterer Bestandteil von Sabatier aus dem späteren Speculum vitae herausgeschält ward, Avignon und das Geburtsdatum die Zeit der großen, in Avignon zum Austrag kommenden Spiritualenbewegung gewesen ist.

Ehe ich dies begründe – und ich möchte bemerken, daß ich meine Meinung, so wie ich sie hier vortrage, mir gebildet, ehe ich Della Giovannas Darlegungen kannte – sehe ich mich genötigt, eine von mir im Vorhergehenden noch nicht berücksichtigte Behauptung zurückzuweisen. Sabatier und nach ihm die meisten Forscher sind davon überzeugt, das Speculum sei von Thomas in seiner II. vita benutzt worden. Die Abhängigkeit dieser vom Speculum sei erwiesen. Ich bestreite dies auf das entschiedenste.

Vergleicht man beide Werke, so ergibt sich, daß weitaus der größte Teil des Speculum (in der Sabatierschen umfänglichen Fassung) dem Inhalt nach, vielfach auch dem Wortlaute nach, in der II. vita enthalten ist. Das Hauptargument, das für die Priorität des Speculum geltend gemacht wird, wird erkannt in der einfach natürlichen Erzählerweise, die sich von der gekünstelten und spekulierenden Darstellungsart des Thomas vorteilhaft unterscheide und jene Unmittelbarkeit besitze, die eben nur dem Miterlebenden eigentümlich sei. Dies klingt sehr überzeugend, beruht aber auf irrigen Voraussetzungen. Charakteristisch für das Speculum ist die viel größere Ausführlichkeit der Erzählung und die Mitteilung längerer Reden des Heiligen, während Thomas die Tatsachen sehr gedrängt gibt, zumeist nur sehr kurze Aussprüche des Franz anführt und beides zum Ausgangspunkt einer Betrachtung macht. In eben jenen Eigentümlichkeiten erweist sich aber das Speculum als spätere Legendendichtung. Augenzeugen, wie die, denen Thomas seine Angaben verdankt, berichten von Tatsachen, wissen auch wohl besonders bedeutungsvolle Worte anzuführen und schmücken im Sinne des Wunderbaren aus, die künstlerisch gestaltende Fassung pflegt ihnen aber nicht eigentümlich zu sein, wenigstens nicht in der Weise, wie wir sie im Speculum finden. Diese tritt erst ein, wenn ein Erzähler mit einem ihm und der Allgemeinheit bereits vertrauten Stoffe frei walten kann, wenn eine Beherrschung und Objektivierung des Stoffes eingetreten ist. Das Geheimnisvolle verschwindet und macht dem Natürlichen Platz. Der Gegenstand ist ein dem Volke wohlbekannter, und man behandelt ihn volkstümlich. Die Phantasie betätigt sich dichterisch, malt die Umstände mit Behaglichkeit aus und läßt den Helden möglichst viel selbst sprechen. Man hat sich ein so deutliches Bild von ihm gemacht, kennt ihn so gut, daß man unschwer aus seinem Geist heraus solche Reden erfindet – wie es eben der Dichter tut, der die Persönlichkeit klar erschaut. Dichtung und nicht Historie, eine spätere Phase in der Legendenschreibung, nicht eine frühe! Das Speculum nimmt eine Mittelstellung zwischen den Viten des 13. Jahrhunderts und den Fioretti ein. Die Fioretti bezeichnen nur einen noch weiteren Schritt in der dichterischen Gestaltung des Stoffes. Keine einzige der Subtilitäten Sabatiers, welche die Abhängigkeit des Thomas von dem Speculum beweisen sollen – und ich habe sie alle nachgeprüft und glaube behaupten zu dürfen, daß ich den Vergleich noch viel weiter bis in alle Einzelheiten durchgeführt habe – ist beweisend. In den meisten Fällen vielmehr ließe sich der Spieß umdrehen – doch mag ich auf die minutiae, die vielfach nach willkürlichem Belieben für oder gegen die Abhängigkeit geltend gemacht werden können, nicht eingehen. Es genügt die Versicherung, daß ich sie gründlich beachtet habe. Sie beweisen nichts, sage ich – wohl aber ist jene von mir angeführte Tatsache, daß die Ausführlichkeit und die Anführung längerer Reden nicht auf frühere, sondern spätere Legendenentstehung deutet, beweisend. Kurz angeführte Tatsachen und kurze dicta der II. vita werden von dem Speculum ausgesponnen und zu gefälligeren und verständlicheren Erzählungen verarbeitet.

Ein zweites aber kommt noch hinzu. Eine Anzahl von Kapiteln des Sabatierschen Speculums, etwa 30, finden sich ihrem Inhalt nach nicht bei Thomas. Eine nähere Betrachtung erweist, daß fast alle im spiritualen Geiste die Observanz: die Strenge der Regel, die durch Zeugnisse belegt wird, betreffen, daß sie die Portiuncula, die Niederlassungen, die Einfalt (nicht Gelehrsamkeit), den Dienst bei den Aussätzigen, die Aussendung der Brüder, die falschen Prediger behandeln. Wenn das Speculum von Thomas benutzt wurde, warum hat er diese Angaben nicht in seine Vita aufgenommen? Die einzige Erklärung, die infolgedessen auch nicht ausbleiben konnte, war diese: Thomas ließ jene Dinge absichtlich, von einem den Zelanten nicht günstigen Parteistandpunkte aus, weg. So? Nun wäre das allenfalls denkbar, wenn die II. vita den Charakter einer Parteischrift hätte. Dies ist aber durchaus nicht der Fall, vielmehr, wenn man deren Standpunkt kennzeichnen will, muß man mit Minocchi sagen: »sie ist den Zelanten überaus günstig«. Was sich, wie wir schon sahen, daraus erklärt, daß sie ja eine, von Thomas nur redigierte Schrift der Socii ist. Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum Thomas jene Kapitel hätte weglassen sollen, er, der offenbar, wie die Reichhaltigkeit der II. vita erweist, alles aufnahm, was er erlangen konnte. Also, auch von dieser Seite betrachtet, erscheint die Annahme, Thomas habe das Speculum gekannt, als höchst willkürlich, ja als falsch.

Rufen wir uns die oben angeführten Argumente gegen die Existenz des Speculums in der Zeit vor Bonaventura und vor Bernardo da Bessa in Erinnerung, so müssen wir demnach mit Bestimmtheit erklären: auch der Vergleich des Speculums mit der II. vita ergibt, daß die Sabatiersche Behauptung die Dinge auf den Kopf stellt. Nicht Thomas benützt das Speculum, sondern das Speculum bringt eine Ausführung der II. vita. Und zwar gilt diese Meinung ebensogut (und aus denselben Gründen) für die von Lemmens publizierte und von Minocchi angenommene sog. I. redactio, also den angeblichen ältesten Teil, wie für das Sabatiersche Speculum. Und die Schrift nennt sich Speculum, anknüpfend an den Ausspruch des Thomas in der kleinen Einleitung zum II. Teil der II. vita (s. oben). Selbst der Titel ist nicht originell, sondern stammt von Thomas!

Was aber endlich das Argument anbetrifft, die im Speculum häufig wiederkehrenden Worte: »nos qui fuimus cum eo« zeugten doch ersichtlich für seine Abfassung durch einen der Genossen des Franz, so kann man diese Worte ebensogut als sehr verdächtig betrachten, als absichtlich darauf berechnet, Glaubwürdigkeit für ein Buch zu erwecken, das, eine neue Schöpfung, doch für alt gelten wollte.

Nach Widerlegung der Einwände, die aus einem falsch konstruierten Verhältnisse der beiden Schriften zueinander zu machen wären, dürfen wir getrost die Entstehungszeit des Speculums (ich wiederhole: auch der angeblichen früheren Fassung) in den Anfang des 14. Jahrhunderts verlegen. Gerade jene Kapitel, welche den aus Thomas entnommenen hinzugefügt sind, geben uns den deutlichsten Aufschluß über den Charakter der Schrift. Was unrichtigerweise von Thomas behauptet wurde, gilt von ihr: sie ist im Dienste von Parteiinteressen geschrieben. Sie ist ein Kampfeswerkzeug der Spiritualen. In jenen hinzugefügten Kapiteln, welche die strenge Observanz predigen, liegt ihr Schwerpunkt – und die mit des Thomas Berichten vorgenommenen Veränderungen und Ausschmückungen dienen häufig keinem anderen Zwecke, als die Ansichten der Zelanten durch Wort und Wirken des Ordensstifters zu heiligen.

Einen näheren Hinweis auf die Zeit, in welcher das Speculum (wie Minocchi meint, erweitert, wie ich meine) verfaßt worden ist, gibt uns der von Minocchi entdeckte älteste datierte, in S. Maria in Portiuncula geschriebene Kodex von Ognissanti: 1318. Es ist die Zeit des heißesten Streites der Spiritualen. Ausgefochten ward dieser vor allem in Avignon, und nach Avignon führen uns alle Spuren, suchen wir den Entstehungsort des Speculum. Ich darf hier auf die Ausführungen Sabatiers in seiner Einleitung zur Ausgabe des Speculum verweisen (pag. CLII ff.).

Zunächst ist zu bemerken, daß das Speculum schon in der Handschrift von 1318, dann aber auch fernerhin als ein Teil einer Sammlung von Schriften, welche die Interessen der Spiritualen vertreten, auftritt. Beachten wir die Angaben, die uns über die Art dieser Sammlung Aufschluß geben, und insonderheit den Wortlaut der Einleitung in dem Codex Vaticanus 4354! Nach dem Titel: Incipit antiqua legenda sanctissimi patris nostri francisci et aliorum beatorum fratrum sui ordinis und nach einer religiösen Betrachtung heißt es:

Quamquam autem praeclara vitae ipsius opera per venerabilem et autenticum virum dominum et magistrum fratrem Bonaventuram stilo venustissimo sint descripta, plura tamen valde notabilia et utilia, zelum caritatis, humilitatis et paupertatis, necnon circa praedictorum et regulae totius observationem intentionem et voluntatem ipsius sancti exprimentia tam in legenda veteri, de qua idem frater Bonaventura saepius longas orationes et passus de verbo ad verbum in sua legenda posuit, quam etiam ex dictis veridicis sanctorum sociorum b. Francisci per vivos probatos ordinis redactis in scriptis, quorum sociorum vita sancta et miracula, quibus post mortem eos magnificavit Altissimus, ipsorum dicta et testimonia credibilia reddit in imis quum essem studens in Avinione reperi; quorum aliqua pro mea interdum devotione movenda seu potius excutienda pigritia collegi et inferius annotavi.

Posui autem primo rara et ardua facta seu miracula patris nostri quae in legenda nova, ut praedicitur, non habentur: quorum quaedam in libro Reverendi patris et domini fratris Friderici archiepiscopi Rigensis Der sich wiederholt und lange in Avignon aufhielt. ordinis nostri studiosissimi viri et ejusdem ordinis maxime zelatoris ac totius justitiae amatoris reperi. Quaedam vero sumpta et reperata sunt de legenda veteri ipsius sancti quam et generalis minister me praesente et aliquoties legente fecit sibi et fratribus legi ad mensam in Avinione ad ostendendum eam esse veram utilem et autenticam atque bonam. Nonnulla vero sumpta de scriptis sanctorum sancti praedicti sociorum vitam sancti et gesta sociorumque sanctorum ejus exprimentia quorum in ipsis nomina exprimuntur. Demum etiam quaedam de sancto Antonio rara scripsi et de sancto fratre Johanne de Alvernia ac de aliis quorum memoria in benedictione est et nomina scripta sunt in libro vitae.

Deprecor autem eos ad quorum usum devotionis haec papirus vel exemplatum ipsius deveniet, quam, non tamquam novum opus vel compilationem faciens, sed ab aliis posita et formata transcribens collegi, suae me devotionis, orationis et meriti facere dignentur participem amore Domini nostri Jesu Christi cui est honor et gloria in saecula saeculorum. Amen.

Aus diesen Darlegungen geht zunächst hervor, daß die Sammlung als Ergänzung zu Bonaventuras vita, welche die legenda nova genannt wird, dienen sollte. Als seine beiden Vorlagen nennt der Schreiber im ersten Abschnitt die legenda vetus, aus der Bonaventura vieles wörtlich entnommen – das kann also nur die eine der beiden Viten des Thomas sein – und Aussagen der Genossen des Franz, welche Aussagen von bewährten Männern des Ordens redigiert und aufgezeichnet worden sind.

In den Ausführungen des zweiten Absatzes nennt er drei Vorlagen (die vierte: über den h. Antonius und Johannes von Alvernia geht uns hier nichts an): 1. Einiges aus einem Buche des Erzbischofs von Riga. 2. Anderes aus der legenda vetus, welche der Generalminister bei Tisch in Avignon als die authentische vorlesen ließ und 3. Einiges aus den Aufzeichnungen der Socii, das Leben des Heiligen und die gesta sociorum (so im MS. Berlin) behandelnd. Hier wird also den beiden obengenannten Vorlagen eine dritte: das Buch des Erzbischofs hinzugefügt. Vergleicht man den Inhalt des Kodex mit diesen Angaben, so zeigt es sich, daß die legenda vetus nichts anderes sein kann als das Speculum perfectionis. Im ersten Absatz aber wird mit legenda vetus doch zweifellos die eine vita des Thomas gemeint. Auch sonst findet man, z. B. in der Chronik der XXIV Generäle, unter »legenda antiqua« des Thomas Legende verstanden. Nun ist aber im Kodex nichts aus der vita des Thomas kopiert. Wie ist dieser Widerspruch zu heben? Doch wohl nur so, daß die zuerst genannte alte Legende nicht dieselbe ist, wie die später erwähnte, daß der Schreiber die Exzerpte, die er aus Thomas gemacht, trotz seiner Verheißung nicht in die Sammlung aufnahm, sondern sich auf eine Abschrift der Erzählungen aus dem Speculum, der andern alten Legende, beschränkte. Wie dem auch sei: die Legende, die im Kloster zu Avignon vorgelesen wurde, war das Speculum. Hierüber kann schwerlich ein Zweifel sein, und ebensowenig darüber, daß man mit ihm bestimmte Zwecke verfolgte.

Man hatte dabei ein zwar nicht schlechtes, aber vielleicht nicht ganz ruhiges Gewissen, war jedoch resolut. »Der Generalminister ließ bei Tisch diese Legenda antiqua vorlesen, um zu beweisen, daß sie wahr, nützlich, authentisch und gut sei.« Der Sinn dieser Worte ist doch so klar, wie man sich etwas nur denken kann. Man braucht nichts zu beweisen, was anerkannt ist: die Legende in dieser Form war nicht anerkannt: man glaubte ihr nicht, man hielt sie für schädlich, für eine Fälschung, für nicht gut. Wie aber hätte man dies tun können, wenn sie schon im 13. Jahrhundert existiert hätte und die Quelle des Thomas und damit indirekt auch des Bonaventura gewesen wäre? Es war eine neu auftauchende vita, die Gegner der Spiritualen glaubten nicht an ihr Alter. »Wie konnte sie so lange unbekannt bleiben?« werden sie gefragt haben, »wo sind eure Beweise?«

Der Generalminister antwortete mit Beweisen. Suchen wir dahinterzukommen, welcher Art diese waren, so nähern wir uns der Entstehung des Speculum noch mehr. Es ist Ubertino da Casale gewesen, auf dessen Mitteilungen sie zurückzugehen scheint. Dieser leidenschaftliche Vorkämpfer der strengen Observanz sagt 1305 in seinem Arbor vitae crucifixae Jesu, daß er vom Frater Conrado de Offida Nachrichten empfangen habe, die dieser direkt vom Bruder Leo (und vom Bruder Masseo und Cesolo) erhalten. An andern (9) Stellen führt er nach schriftlichen und mündlichen Aussagen des Bruder Leo Aussprüche strengen spiritualen Charakters vom h. Franz an, und zwar sind dieselben im Speculum zu finden und gehören zu den Kapiteln, die in des Thomas' II. vita nicht enthalten sind. Offenbar verdankt Ubertino auch diese Mitteilungen dem Bruder Konrad und weiß von Rotuli, auf denen Leo Aufzeichnungen über Franz gemacht. Diese Rotuli, die sich in S. Chiara befanden, sind vor 1305, als Ubertino schreibt, zum Teil wenigstens abhanden gekommen, ja vielleicht verloren.

Sechs Jahre später, 1311, als Ubertino sich in Avignon gegen die Anklagen seiner Gegner von der laxen Richtung zu verteidigen hat, rechtfertigt er sich mit dem Hinweis auf »scripta« von der Hand Leos, die er gelesen und über die er von alten Vätern des Ordens (also offenbar wieder Conrado de Offida) gehört, auf »dicta fratris Leonis manu sua conscripta sicut ab ore sancti patris audivit et ego ipse audivi a pluribus aliis sociis beati Francisci quos vidi«, auf ein Buch von der Hand Leos in dem Schrank der Brüder zu Assisi und auf die Rotuli Leos, die er, Ubertino, besitzt, also inzwischen aufgefunden und erworben haben muß Vgl. die Prozeßverhandlungen bei P. Ehrle: Zur Vorgeschichte des Konzils von Vienne. Im Archiv für Literatur und Kirchengeschichte. II. u. III. Band..

Also Ubertinos Gewährsmann für die strengen Anschauungen des h. Franz ist des Leo Schüler Konrad, alle wesentlichen Mitteilungen über Leos Aufzeichnungen von den dicta des Heiligen hat er von ihm, doch besitzt er selbst einige Rotuli des Leo im Jahre 1311, die er – wie Della Giovanna hervorhebt – auffallenderweise nicht zeigen will propter vitandum legendi tedium. Jene »scripta« des Leo werden auch von anderer Seite (von Fra Giovanni Olivi, der 1297 starb, und von B. Francesco da Fabriano, der 1322 starb und Leo selbst gekannt hat) erwähnt, und wir kennen sie heute. Es sind 1. das Buch: die kurze »intentio regulae« und 2. die Verba S. Francisci (aus sechs kurzen Paragraphen bestehend), herausgegeben von Lemmens Documenta antiqua franciscana. I. Scripta fratris Leonis. Quaracchi 1901.. Nun ist eines doch klar: Ubertino hat nur diese beiden Schriften, das Speculum aber noch nicht gekannt, wie hätte er diese für seine Ansichten wichtigste Bestätigung sonst nicht in reichstem Maße ausgenützt, wie nicht immer wieder auf diese entscheidende alte Legende hingewiesen? Und gar, wenn das Speculum oder wenigstens ein größerer Teil desselben Leo oder die Socii zum Verfasser gehabt? Sehr mit Recht hat Della Giovanna dies hervorgehoben. So gut wie der gänzliche Mangel einer Erwähnung im 13. Jahrhundert, beweist Ubertinos Schweigen, daß das Speculum 1311 noch nicht existierte. Die wenigen mit dem Speculum übereinstimmenden Erzählungen in dem Arbor vitae sind nicht dem Speculum entnommen, sondern das Speculum hat sie dem Arbor entlehnt und dieser der Intentio regulae des Leo. Rufen wir uns nun die obenzitierten Worte des Vaticanus 4354 von den »durch bewährte Männer des Ordens redigierten und aufgeschriebenen Aussagen der Genossen des Franz«, die der Schreiber in Avignon exzerpierte, in Erinnerung! Offenbar sind diese »probati viri ordinis« Ubertino und Konrad von Offida, und in den Besitz von deren Aufzeichnungen sind die Spiritualen in Avignon gekommen. Bedenken wir ferner, daß jener Mönch in Avignon die Legenda antiqua des Thomas' von Celano kannte, so scheint mir alle gewünschte Aufklärung über die Entstehung des Speculum gegeben. Der Vorgang dürfte, wie folgt, gewesen sein.

Die durch Ubertino vermittelten Aufzeichnungen des Leo gaben die Veranlassung zur Abfassung einer dem Geiste der Spiritualen entsprechenden Legende. Neben den Schriften des Leo hatte man noch einiges andere Material von Aussagen der Jünger des Heiligen, und zwar vermutlich in einer bereits durch Konrad und Ubertino redigierten Form; die weitaus größte Fülle von Material, das in der offiziellen Legende Bonaventuras nicht verwertet war, fand man aber in der II. vita des Thomas, die durch Bonaventuras Legende in das Dunkel der Vergessenheit geraten war. Man stellte, indem man des Thomas gedrängte und sentenziöse Darstellungsweise in eine ausführliche, leicht verständliche und durch die ausgesponnenen Reden des Franz besonders fesselnde verwandelte, alles dies Unbekannte zusammen und nannte die Sammlung, den Ausdruck dem Thomas entlehnend, das Speculum perfectionis.

Dieses war die alte Legende, die der Generalminister bei Tisch vorlesen ließ, und man sieht, er hatte, wenn nicht der Form, so doch dem Inhalt nach recht, sie für authentisch zu erklären, denn in der Tat war sie aus lauter alten Quellen hergeleitet und durfte der nova legenda des Bonaventura gegenüber als alt bezeichnet werden. Ja, mit einem gewissen Rechte konnte auch die siegreiche Formel: »nos qui cum eo fuimus« Leo entlehnt und möglichst oft angebracht werden, denn die Erzählung des Thomas ging ja auf die Berichte der Socii zurück Ich kann also H. Boehmer: Besprechung des Speculum perfectionis in der Histor. Vierteljahrsschrift 1904. Bd. VII. S. 75 nicht zustimmen, wenn er aus der Formel auf das Alter der betreffenden Kapitel schließt.. Diese Formel hatte den bestimmten Zweck, »ad ostendendum eam esse veram utilem et autenticam atque bonam«. Damit die Legende aber auch äußerlich gleichsam die Weihe des h. Franz empfange, ließ man sie, wie der Kodex Ognissanti lehrt, 1318 von S. Maria in Portiuncula, welchem Heiligtum zugleich im Texte die höchste Bedeutung zuerkannt wurde, ausgehen.

Und so erklärt sich alles. Es erklärt sich, daß im Vaticanus zwei verschiedene Legenden als Legenda antiqua bezeichnet werden und daß auch fernerhin dieser Titel sowohl dem Thomas als dem Speculum erteilt wird. Es erklärt sich, daß sich im Speculum eine Anzahl Kapitel finden, welche Thomas nicht hat – während umgekehrt das Auslassen dieser Kapitel durch Thomas, wäre dieser der Ausnützende gewesen, unverständlich wäre. Es erklärt sich die spirituale Tendenz. Es erklärt sich endlich die Überschrift des Speculum, die schon im Kodex Ognissanti zu finden ist: Istud opus compilatum est per modum legendae ex quibusdam antiquis quae in diversis locis scripserunt et scribi fecerunt seu retulerunt socii beati Francisci. Denn deutlich sind hier die drei Quellen, aus denen das Werk hergeleitet wurde, genannt. Mit dem, was die Socii selbst schrieben, sind die scripta Leonis gemeint, mit dem, was sie schreiben ließen, die II. vita des Thomas, mit dem, was auf ihre Aussagen zurückgeht, die verhältnismäßig wenigen Berichte, die weder Leo noch Thomas entlehnt sind und bisher noch nicht auf bestimmte Persönlichkeiten zurückgeführt werden können.

Neuer und sicherer Aufschluß – dies ist das Endresultat der Untersuchung – über Franz wird uns also nur von den wenigen auf Leo zurückgehenden Mitteilungen, die man jetzt in den Scripta Leonis bequem zusammengestellt findet, gewährt. Alles andere (von jenen wenigen den Autor noch nicht verratenden Angaben abgesehen) kennen wir schon, und zwar in zuverlässigerer früherer Form aus Thomas. Demnach hat das Speculum, nachdem es die Alleinherrschaft hatte gewinnen wollen, wieder in die bescheidene Stellung eines sekundären und zudem in bestimmtem Geiste gefärbten Zeugnisses herabzusinken.

Es bleibt nur noch die Frage nach der Entstehung der sog. Legenda trium sociorum. Schon von anderen, namentlich von van Ortroy La Légende de S. F. dite Legenda trium sociorum. In Analecta Bollandiana 1900. Bd. XIX., P. Lemmens und Walter Goetz ist der kompilatorische und späte Charakter dieser Schrift nachgewiesen worden, so daß ich mich hierüber sehr kurz fassen kann. Was man von dem Speculum nicht in dem Sinne sagen kann, ist von ihr zu behaupten: sie ist eine Fälschung aus dem 14. Jahrhundert, eine Fälschung, denn sie behauptet mit Ostentation, ein Originalwerk der drei Genossen Leo, Rufinus und Angelus zu sein, denn der solche Namen nennende und 1246 3. Iden des August datierte Brief ist ihr vorangesetzt. Ob dieser Brief alt ist und, wie Lemmens will, ursprünglich mit des Thomas II. vita in Beziehung stand, oder ob auch er eine Fälschung, wie ich mit Goetz anzunehmen geneigt bin, bleibe dahingestellt. Sicher aber scheint mir Lemmens' Ansicht viel für sich zu haben, wenn er annimmt, daß die Legende – und zwar auch sie im wesentlichen mit Benutzung der Viten des Thomas, was ich schon in der ersten Auflage dieses Buches feststellte – in der Absicht verfaßt worden ist, ein biographisches Supplement zu dem Speculum zu bilden. Dann müßte sie unmittelbar nach dem Speculum entstanden sein, doch wäre schließlich auch eine etwas frühere Entstehung denkbar Über das Verhältnis des Tres Socii zum Anonymus Perusinus vgl. W. Goetz: Zeitschr. für Kirchengeschichte XXV. S. 33..


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