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VII

Nun war der Vollmond dran, die Fensterkreuze in die Stube hineinzuwerfen. Auf den Boden zeichnete er sie, weil er die Lampe höher hielt als Eisi, und dazu ging er viel langsamer um das Haus herum. So hatte Frau Bäuwlin Zeit genug, die Schatten zu betrachten, die ihr wie Grabkreuze vorkamen, Kreuze auf das Grab ihrer Pläne. Manchmal, wenn sie dem Einschlafen nahe war und die Dornen ihres Ärgers stumpfer werden wollten, kam es sie wie ein Aufatmen an; denn, genau betrachtet, war ihr auch bei dem Gelöbnis nie so ganz tief hinein wohl gewesen. Was wußte sie denn, ob ihr Kind unter der schönen weißen Diakonissenhaube glücklich geworden wäre? So hatte diese Verlobung schließlich doch etwas Erlösendes. Sie selber konnte ja nichts dafür. Und unmerklich fing Mama Bäuwlin in ihren Gedanken zu blättern an in den Preisverzeichnissen der Weißwarengeschäfte, deren sie genug zu Hause hatte. Schon nähte sie Spitzenbordüren an schneeweißes Linnen und stickte Monogramme mit L und S, dachte auch an Wohnungen, Betten und insbesondere Fenstervorhänge, an ein tüchtiges Mädchen für alles und an ganz fern in der Zukunft liegende Möglichkeiten. Es war eigentlich recht schön.

Aber dann fiel ihr plötzlich Eisi ein. «Frau Simeönin» hatte die impertinente Alte sie genannt. Sie war eigentlich an allem schuld. Sie trug die Verantwortung. Oder eigentlich nein, ihr Mann, der Frau Allenbach ein Vertrauen schenkte, wie er es kaum je der eigenen Gattin gegenüber getan. Ja, grad noch jetzt, nachdem doch die Alte vollständig versagt hatte, schien er zu ihr aufzublicken wie zu einer Heiligen. Er, der diese frommen 83 Leute nicht leiden mochte! Frau Bäuwlin hob ein wenig den Kopf und betrachtete den neben ihr schlafenden Gemahl, der nicht einmal merkte, daß der Mondschein auf seinem Nasenrücken glänzte. Sie hätte gute Lust empfunden, Deckbett und Leintuch von seinem schlummernden Leibe herunterzureißen. Aber er schnaufte wie einer, der recht hat, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf die andere Seite zu legen, mit dem Blick ins Finstere, und noch einmal die Pariser Kataloge zu durchblättern. – Ja, bei den Tischtüchern war sie steckengeblieben, bei den Servietten und dann Küchenschürzen, ja bessere und weniger gute und ja... und Kissenbezüge, ein Dutzend und... ein Dutzend und... ein... Dutz...

Mit der Vollmondnacht schien auch das schöne Wetter vorüber zu sein. Als man erwachte, spannte sich ein eintönig graues Gezelt über Berg und Tal. Die Flühe schienen zum Greifen nahe, und die dunkelblauen Tannenheere machten Miene, gegen das Haus anrücken zu wollen. Und ehe man recht einig war, was heute zu tun sei, fing es an zu regnen. Das war gerade, was es brauchte, um sich in die neue Situation hineinzudenken und zu -reden. Lydia mußte nun noch erzählen, wie alles gekommen. Dabei erfuhren die Eltern nebenher, daß man bei dem Ausflug auf den Albrist in der Sennhütte Rast gemacht habe, wo Eisis Mann als Senn wirtschaftete. Er sei ein großer verwetterter Graubart mit hellem Licht in den Augen.

Herr Simeon hatte sich frühmorgens etwas ausgedacht, womit er seiner Gattin ein wenig über den Graben hinwegzuhelfen hoffte. Er führte Frau und Tochter auf die Laube des Chalet und teilte ihnen dort mit, daß er entschlossen sei, für den Rest des Sommers dieses hübsche 84 Haus zu mieten. Wenn Lydias Bräutigam jeweilen über den zweiten oder dritten Sonntag herauf käme, so fände er doch hier freundlichere Unterkunft, und wenn sich die Sache bewähre, so würde er nicht abgeneigt sein, das Haus zu kaufen. Irgendwo, fern von der Welt, die ihn ärgerte, eine Heimstatt zu besitzen, sei ja schon lange sein Wunsch, und wenn seine Frau – das sagte er aber nur in Gedanken – auch aus ihrer bisherigen Atmosphäre heraus an die frische Bergluft käme, so würde das dem guten Einvernehmen nur förderlich sein.

Lydia nahm diese Ankündigung mit jubelndem Herzen und schalkhaftem Blick auf. Sie schaute abwechselnd ihrem Papa in die Augen und auf die Außenseite des Laubengeländers. Herr Bäuwlin verstand sie und war um Antwort nicht verlegen. «Hab’ ich mir alles zurechtgelegt», sagte er. «Sieh her! Ich werden den Zimmermann kommen lassen. Er muß mir die Bretter lösen und neu zusammenstellen, so daß der schöne Spruch inwendig nach der Laube sieht. Da werden wir ihn vor Augen haben und werden nicht wie die Menschen sein, welche die Marke ihres Gottesglaubens auf die Schachtel malen, worin sie ihr Leben hinbringen. Lesen uns dann die Vorübergehenden ab Gesicht und Händen, wes Geistes Kinder wir sein möchten, nun gut, dann wollen wir auch fest dazu stehen.»

Frau Bäuwlin hatte zwar gerade dieses tannene Bekenntnis sehr schön gefunden; aber im übrigen gefiel ihr der Plan ihres Mannes gar nicht übel. Sie lenkte ein und sagte: «Mir ist’s schon recht, in dieses Haus umzuziehen, ich finde es nicht halb so angenehm, mit Frau Allenbach, dieser heiligen Einfalt, unter einem Dach zu wohnen.»

85 Sie bekam von ihrer Tochter einen ziemlich kräftigen Rippenstoß, der sie darauf aufmerksam machen sollte, daß Eisi in der Stube mit Öffnen der Schränke beschäftigt war und alles hören konnte, was auf der Laube gesprochen wurde. Es ging auch nicht lange, so trat die Bäuerin an das offene Fenster und sagte gelassen: «Ihr habt einesteils recht, Frau Bäuwlin. Einen schöneren Titel könntet Ihr mir gar nicht geben. Aber fast schämt’s mich an, es zu hören. Einfältig, ja, das möchte ich wohl von Herzen sein; heilig hingegen bin ich nicht. Etwa dem lieben Gott, wenn Ihr’s so verstehn wollt, daß er nichts an mich herankommen läßt, was mir zum Schaden ausschlagen könnte. – Und wenn Ihr hier wollt, im neuen Haus, so wünsch’ ich Euch alles Gute dazu. Zur Plage werden möcht’ ich Euch nicht.»

Frau Bäuwlin hörte aus diesen Worten heraus, daß sie Eisi wehgetan. Sie schämte sich und wollte sagen, es sei nicht so gemeint gewesen. Aber sie besann sich eines Bessern. Zunächst antwortete sie gar nicht. Erst als Mann und Tochter ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes richteten, ging sie in das Haus hinein, reichte Eisi die Hand und sagte: «Verzeiht mir, Mutter Allenbach, ich hab’ Euch unrecht getan und habe doch gar keinen Grund, Euch wehzutun. Tragt’s mir nicht nach.»

Jetzt bekam auch sie den eigenartigen Händedruck der Alten zu spüren und wußte fortan, mit wem sie es zu tun hatte.

«Ich habe Euch nichts zu verzeihen», antwortete Eisi. «Ein hartes Wort ist jedem gesund, der die Wahrheit daraus zu lesen weiß.»

Tiefer und tiefer sanken die Wolken. In weißlichen Schleiern jagten die Regenschauer durch Gräben und 86 Schluchten. Es wurde bitter kalt. Die Sommerfrischler machten sich aus dem Einfeuern in die rauchenden Öfen einen Zeitvertreib und trennten sich, in die Mäntel gehüllt, den ganzen Tag nicht von ihren Büchern und Zeitungen, während die Damen mit steifen Fingern an ihren Handarbeiten herumstichelten. Die Familie Bäuwlin benützte die trüben Tage zur Herrichtung ihres Haushalts in der neuen Wohnung, verweilte aber oft stundenlang bei Mutter Allenbach, mit der Mama sich von Tag zu Tag besser verstand. Frau Bäuwlin hatte zu ihrer Genugtuung an Eisi eine menschliche Schwäche entdeckt: eine Leidenschaft für einen guten Kaffee. Die wurde nun weidlich ausgebeutet. Alltäglich gab es über dampfenden Tassen Diskurse. Frau Simeönin vertrat ihre Meinung mit theologisch klingender Begründung. Eisi hingegen focht in ihrer frommen Einfalt. Nicht selten tat die Gebildete der Ungebildeten weh mit Äußerungen ihrer wissenschaftlichen Überlegenheit, wogegen ihr ab und zu die Bäuerin mit einer ungezuckerten Wahrheit auf den Leib rückte, daß es ihr heiß und kalt den Rücken entlanglief. Beide taten es unbewußt, und beide lernten in diesem praktischen Verfahren vortrefflich das Verbeissen. Frau Bäuwlin kam nicht aus dem Staunen, da sie zusehends in der Kenntnis der Heiligen Schrift den Kürzeren zog. Hatte sie nicht in zahllosen Bibelstunden Notizen gemacht? Ganze Hefte hatte sie vollgekritzelt, während Eisi ja nur mühsam mit dem Finger lesen konnte.

«Das kommt von der Überfülle geistiger Genüsse», behauptete Herr Simeon. «Wenn wir alle mit dem Finger lesen müßten, würde sich die geistige Verdauung langsamer vollziehen, und wir würden mehr Fett ansetzen.» 87 Herr Doktor Sontag, der trotz des schlechten Wetters heraufgekommen war und solchem Gespräch mit einem Lächeln auf den Stockzähnen folgte, wollte seinem künftigen Schwiegervater hierin nicht beipflichten, trotzdem er sonst mit ihm einig ging. Gegenüber Frau Bäuwlin blieb er sehr zurückhaltend; ihre Frömmigkeit verursachte ihm leicht etwas wie Atemnot. Viel besser sagte ihm Eisis Art zu; nur hielt er es für selbstverständlich, daß diese gut sei für ungebildete Menschen.

«Ei ei», lachte Herr Simeon, «es dürfte doch wohl nichts schaden, wenn auch uns solche Eisini ab und zu das Licht aufs Läubli hinausstellten und im gegebenen Augenblick mit dem Beilrücken an die Wand klopften. Meinen Sie nicht auch?»

«Ja, doch», gab Doktor Sontag zu, «das wird wohl dieser braven Menschen Aufgabe sein in unsrem Volksleben.»

«Und im Aufbau des Reiches Gottes», ergänzte Frau Bäuwlin.

Nach zehn Tagen gab das Gewölk wieder den Himmel frei. Die Bergkämme waren verschneit bis zur Waldgrenze herab, und die Luft flimmerte bald wieder über den dampfenden Felsen. Das war der Beginn eines schönen Herbstes. Herr Simeon und die Seinen genossen ihn in vollen Zügen. Er selber hatte Ruhe und Gleichgewicht wiedergefunden. Seine Nerven lagen wie der Docht im Öl, und an die frommen Leute, die ihn in die Einsamkeit gescheucht hatten, dachte er gar nicht mehr, bis auf einmal der Tag vor der Türe stand, da man wieder zu Tal fahren sollte. Auf den 1. September war die Heimreise anberaumt, den Tag, an welchem die Sennen ihre hochgelegenen Hütten verlassen. Da kam 88 es auf einmal wieder über Herrn Simeon. «Muß es wirklich sein?» fragte er sich. Nicht das leiseste Verlangen empfand er nach Stadt, Geschäft und Menschen, nach Versammlungen, Konferenzen und Diskussionen, auch nicht – nach Kirche und Predigt. Er ließ diese Unlust vor Eisi laut werden, als sie vor dem untern Hause beisammen saßen und den Herden zuschauten, die zu Tal getrieben wurden. In kleinen Abständen folgten eine der andern. Das Ho-ho-ho-ßä-ßä-ßä der Hirten wollte nicht verstummen. Kaum hatte man zur Linken den letzten Trupp um die Bergkante verschwinden sehen, traten zur Rechten neue Breitstirnen aus den Tannen des Hornbachwaldes, und das Glockengeläute des einen Senntums schmolz in dem des andern. Der ganze, weite, sonnige Talkessel war ein einziges auf- und abschwellendes Klingen.

«Ihr nehmt es zu schwer», tröstete Eisi ihren Sommergast. «Man muß die Leute gewähren lassen. Ein jeglicher Gueg graagget nun einmal auf seine Weise, etliche fliegen, etliche hüpfen, etliche krabbeln auf sechs Beinen, etliche rutschen im eigenen Schleim, jeder nachdem es ihm Gott verliehen hat. Natürlich denkt ein jeglicher, seine Art sei die rechte. Aber wenn man sich in des andern Haut hineinversetzt, lernt man ihn verstehen, lernt verzeihen, lernt ihn lieben, ihm helfen. – Es kommt nicht drauf an, auf welchem Läubli wir sitzen, schon eher auf das Gesicht, das wir übers Geländer hängen.

Seht da, die schönen Chueli. Glaubt Ihr etwa, es pressiere ihnen in die Winterställe? Trotzdem müssen sie alle hinein. Ein jegliches bringt sein Teil Bergluft und Bergkraft mit und hält still, wo man es hinstellt. Also solltet auch ihr, Stadtleute, es machen. Geht zu 89 den Brüdern in die Enge der Mauern und bringt ihnen Bergluft und Alpenkraft. Grad Ihr, Herr Bäuwlin, Ihr habt Euer Teil diesen Sommer bekommen, nun laßt es die Leute mitgenießen. Setzt Euch mit dem, was Euch die Bergeinsamkeit offenbart hat, hinein in die Kirchenbank und nehmt demütig, was Euch dort geboten wird. Etwas läßt sich immer daraus machen.»

Herr Simeon hatte ein feines Lächeln auf diesen Rat hin, denn er gedachte der wunderlichen Begegnung in jener Mondnacht und nahm sich vor, hinfür mit einfältigem Herzen anzunehmen, was ihm von der Kanzel aus dargeboten wurde.

«Jetzt aber kommt er», sagte Mutter Allenbach plötzlich. «Ja, ja, er ist’s, der Ätti.» Mit leuchtenden Augen spähte sie nach dem Walde hinüber, wo an der Spitze seiner Herde der alte Peter Allenbach einherkam, ein Räff mit dem letzten Käse auf dem Rücken und die Pfeife im bärtigen Munde.

Die beiden alten Leutlein begrüßten sich mehr mit Blicken als mit Worten; aber die Wiedersehensfreude flammte auf ihren alten Gesichtern. Es hatte sogar den Anschein, als kennten die Rinder Mutter Allenbach wieder. Die erste blonde Simmentalerin schwenkte ein, streckte der alten Frau ihre triefende Schnauze dar und ließ sich gern von ihr auf der Stirne krauen. Nun hatte Mutter Eisi wieder ihr volles Tagewerk. Mit emsigem Schritte lief sie nach ihrer Küche, um auf dem Posten zu sein, wenn Mann und Hüterbub ihre Sache im Stall getan.

Im neuen Hause drunten wurde indessen gepackt und aufgeräumt.

Als dann der Wagen vor dem Hause bereitstand, 90 wollte es Lydia nicht anders haben, ihr Doktor mußte noch einmal mit hinauf zu der lieben alten Priesterin. «Mutter Allenbach», sagte sie, zu der Bäuerin in die Stube tretend, «nächste Woche werden wir Hochzeit halten. Bitte, gebt uns zum Abschied ein gutes Wort aus Eures Herzens Schatz mit.»

«Ach», antwortete sie, als spräche sie zu sich selbst, «was ist der Mensch, daß du sein gedenkest, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst!» Dann wandte sie ihre glänzenden Augen dem jungen Paare zu und sagte: «Sein Wort sei eures Fußes Leuchte und ein Licht auf eurem Wege. Es ist nun nicht nach Eurer Mutter Wunsch gegangen, Jungfer Lydia, aber wenn Ihr das in Euer Haus traget, was bei den Kranken Eure Kraft gewesen wäre, so wird Euer Glück groß sein. Des bin ich getrost.»

Nachdem auch die Eltern von der Hausmutter Abschied genommen, setzte man sich in den Wagen und fuhr dem Dorfe zu. Wo die Straße um die Bergkante biegt, sahen sie den Ärtele-Brecht tief eingenickt auf einer Bank sitzen.

«Oh», rief der junge glückstrahlende Doktor, «dem Stifter unsres Glückes müssen wir doch noch eine kleine Freude machen.» Er entnahm seiner Börse ein Gold-Stück, sprang aus dem Wagen und trat an den Schlafenden heran. «Heda, Alter. Nehmt dies zum Andenken an das Paar, das Euch so gut gefiel.»

Brecht rührte sich nicht. Und jetzt erst sah Doktor Sontag, daß die Pfeife dem Greis entfallen war. Er wollte ihn wachrütteln. Aber Ärtele-Brecht tat keinen Schnauf mehr. Auch für seinen müden Leib war der Tag der Talfahrt angebrochen, und es blieb den Reisenden nichts 91 anderes übrig, als im Dorf zu melden, daß der Alte seine kleinen Wanderungen für immer eingestellt habe. Es konnte noch nicht lange her sein, denn aus der Pfeife kräuselte ein dünner blauer Rauchfaden gen Himmel, ein Danköpferlein. –

Als sie unter dem großen Ahorn hindurchfuhren, warf Herr Simeon einen letzten Blick nach dem alleinstehenden Denkmälchen und sagte: «Du hast recht gehabt, Peterli, jetzt mag ich wieder.»


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