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I

Dem Simeon Bäuwlin ist es genau gleich gegangen wie mir, als er nach langen Jahren auf seiner Flucht aus der argen Welt wieder einmal die Dorfstraße von Adelboden entlang schritt. Er mußte absitzen. Nicht aus Ärger über die Hotelpaläste und Grands Bazars, Afternoon-Teas und Ski-Teachers, welche das Dorf um seine Seele gebracht haben. An dem allem ging er merkwürdigerweise achtlos vorüber. Aber seinem mehr nach innen gerichteten Blick war, so wenig wie mir, der kleine zierliche Grabstein entgangen, der, von den übrigen ein wenig abgerückt, am Fuße des gewaltigen Ahorns bei der Kirche steht. Er trägt die Inschrift: «Peter Allenbach, 11. Oktober 1871 bis 11. April 1872. Auf Wiedersehn.» Was war denn da Besonderes dran? Solche Denkmäler stehen ja zu Hunderten auf den Friedhöfen herum. Nun, was dem Simeon zu Herzen ging, war die kurze Lebensdauer, welche dem hier begrabenen Menschenkind beschieden gewesen. Ein halbes Jahr, genau abgezählt, hatte dieses Peterleins Wallfahrt gedauert, dann hatte es seine Flügelchen wieder schwirren lassen und war im Blauen verschwunden wie ein Bienchen, nachdem es in der Blume genommen, was sie ihm bot. Ganz einfach Neid war es, was Herrn Simeon Bäuwlin das Herz bewegte. Er hatte nun schon bald ein halbes Jahrhundert die Herrlichkeit dieser Welt genossen und darüber das Fliegen vollständig verlernt. Statt seine Schwingen frisch zu regen, vermochte er nur noch – abzusitzen, wenn er von irgend etwas genug hatte. Und wovon hatte er nicht genug!

8 Die nächste Gelegenheit zu beschaulichem Hock die lange Bank vor dem alten Häuschen des Spenglers, auf der jeweilen Sonntags nach der Predigt die alten Mannleni ihr Plauderstündchen halten, bevor sie wieder zu ihren Bergheimetli hinausstapfen. Aber da paßte es Herrn Simeon heute nicht. Die Touristen und Kurgäste, welche schon jetzt, noch vor Beginn der Saison, sich einstellten, sollten ihm nicht die Sorgen ab dem Gesicht lesen. Überhaupt! – Wohin in aller Welt mußte man denn laufen, um endlich ganz aus seinesgleichen, aus den Kulturmenschen, hinauszukommen?

Nachdem er eine Weile vor dem Grabsteinchen stillgestanden, ging Bäuwlin um die Bastion des Friedhofs herum, trat durch das eiserne Gittertor und setzte sich auf die Bank, welche rings um den mächtigen Ahornstamm läuft. Aber nicht etwa neben den stattlichen Missionar, der dort auf der Wildstrubelseite saß und vermutlich das Gewimmel der Dorfstraße mit dem Leben in den Gassen von Bangkok verglich, sondern auf der Seite gegen die Kirche, just da, wo das dritte Chorfenster sein sollte und – Gott weiß warum – nicht ist. Er duckte seinen Rücken unter den mehr als mannsdicken Aststumpf, der aus eiserner Umarmung ebenfalls grämlich gegen die Kirche schaut, als wollte er gemeinsam mit der vermauerten Fensterfläche eine Anklage gegen die Bergstürme erheben, die in diesem stillen Winkel über den Grabstätten wackerer Menschen zu besonders wildem Tanze sich Stelldichein geben.

Der Wanderer stemmte die Ellbogen auf die Knie, versenkte den schmalen Kopf in die Hände, so daß das spitze Hinterhaupt fest auf dem Rockkragen ruhte und die ansehnliche Nase verwegen zwischen den Kleinfingern 9 hervorstach. Er befand sich in einem seltsamen Gemütszustand. «Jetzt – jetzt mag ich dann nicht mehr.» – Lieber Herr Bäuwlin, was mögen Sie nicht mehr? Dumme Frage! Wenn einer denkt: ich mag nicht mehr, so will das doch sagen, daß er «zu allem fähig» sei, während er tatsächlich überhaupt nichts mehr, was sonst auf der Welt gemacht wird, mag. Hätte Simeon Bäuwlin dem Gottesmann auf der andern Seite des Baumes sein Leid geklagt, so würde der ihm geantwortet haben: «Selig sind, die nicht mehr mögen, denn ihnen ist zu helfen.» Und der Peterli Allenbach, dessen zierliches Pilgermäntelchen dort unter dem Steine moderte, würde sich ins Gespräch gemischt und gesagt haben: «Siehst du, Simeon Bäuwlin, jetzt bist du genau so weit wie ich, als mich das Fliegen ankam. Ich konnte es noch nicht und du kannst es nicht mehr. Das kommt auf eins heraus und ist der Zustand, der das Sehnen erweckt. – Die Menschen – deinesgleichen – glaubst du nicht mehr ertragen zu können, und ich sage dir: von nun an wirst du sie lieben, denn über ein Kleines wirst du einsehen, daß jeder zu ertragen ist, den man liebt, und Einer liebt sie alle.»

Ob nun Herr Simeon diese Stimmen vernommen oder wie es sonst zuging – auf einmal saß ihm der Stachel davon im Herzen, und nun vermochte er nicht einmal mehr still zu sitzen. Er reckte sich in seiner ganzen Länge und begann zu laufen, um die Kirche herum, auf die Straße hinaus, den Berg hinauf, und auf einmal stand er vor dem Tor der katholischen Kapelle. Ohne sich lange zu besinnen, trat er ein und ließ eine Weile die feierliche Stimmung des Raumes auf sich wirken. Diese Erquickung ließ er sich nie entgehen, wenn er zu einem katholischen Gotteshause kam. Bald aber lief er wieder bergab. Kaum 10 hundert Schritte war er gegangen, als sein Blick durch offene Fenster in eine Schlachtordnung von tannenen Bänken fiel, davor ein Rednerpult, ein Harmonium. Prrr, entfuhr es seinen Lippen, und er lief eilends weiter. Einige hundert Schritte, und da las er an einem Hause zur Rechten an einer Tafel: «Christliche Versammlungen, jeden Sonntag nachmittag.» – «Es ist fürchterlich», sagte er halblaut. «Unter jeder dritten Dachlatte gibt es eine christliche Versammlung, aber eine Versammlung von Christen habe ich noch nie gefunden.»

Rechtsumkehrt! Wieder mitten im Dorf! Trapp, trapp, trapp liefen seine Schuhe, und die Kiesel stoben links und rechts vor ihren verpichten Mäulern davon.

«Ha, endlich! Grüß Gott, Herr Germann.»

Dieser Germann war so etwas wie ein Liegenschaftsagent. An ihn hatte sich Herr Bäuwlin gewandt, um in den Besitz einer Wohnung zu gelangen, sei es als Mieter oder als Käufer. Unter keinen Umständen wollte sich der Weltflüchtige in einem Hotel niederlassen. Ein Bauernhäuschen sollte es sein mit Lauben, etwas abseits gelegen, ein heimeliger Schlupfwinkel. Germann wußte ihrer viele. Fast jedes Bauernhaus der ausgedehnten Gemeinde konnte die Bedingungen erfüllen, die sein neuer Klient stellte. «So so, verschlîfen möchtet Ihr Euch?» sagte er, und die Krähenfüße in seinen Augenwinkeln öffneten und schlossen sich wie die Finger einer spielenden Hand. «Nun wohl, da seid Ihr schon in den rechten Eggen gekommen.»

Die beiden Männer durchschritten selbander das Dorf und schlugen den Weg nach dem Außerschwand ein. Sie kamen an dem einladenden Schlegeli vorüber. Bäuwlin kannte es. «Hier nicht», brummte er vor sich hin. 11 Germann hörte es, lachte mit den Augen und dachte: «Aha, er will nicht unter die Stündeler.» Seiner Sache sicher, schritt er wacker voraus. Von Zeit zu Zeit mußte er warten, da Herr Simeon ihm nur zögernden Schrittes folgte, häufig stehenblieb und seine Blicke weit herum schweifen ließ.

Germann glaubte, er betrachte die Häuser und sagte: «Hier herum ist nît grächts. Kommt nur weiter, Herr.»

Aber Bäuwlin hatte nicht die Häuser betrachtet, sondern das Spiel der wogenden Nebeldecke, welche zum Greifen tief hing und das ganze Tal in Schatten tauchte. Nur drüben im Bondertälchen lag Sonnenschein. Man ahnte ihn durch einen Schleier. Irgendwo über der Felsmasse des Lohner mußte ein Riß im Gewölk sein, durch den helle Sonnenflut in den Kessel des Bonderfalles hinunterströmte, so als wollte die Sonne den verzagenden Menschen zu verstehen geben, daß die Freude noch am Leben sei, nur nicht gerade da, wo sie sie suchten. Herrn Simeon verfolgte immer von neuem die Erinnerung an den kleinen Grabstein. Er dachte an die Eltern des kleinen Peter, die er doch nie gekannt, und stellte sich vor, auf deren Leben müßte jahrein, jahraus ein solcher Nebel treiben, und den Sonnenschein, der auf andrer Menschen Pfad lag, könnten sie auch nur durch einen Schleier sehen.

Die beiden taten einen vergeblichen Gang. Germann konnte dem Mann Häuser zeigen, soviel er wollte, es lag ihm keines am rechten Ort. Alle schienen ihm zu nah an der Straße. «Noch weiter draußen vielleicht? Gibt’s da nichts mehr?» fragte Herr Simeon.

«Ihr wollt mit Schein ganz ab der Welt», meinte Germann. «Nein», sagte der andere, «die Bauern scheue 12 ich nicht. Nur vor den Stadtleuten möchte ich sicher sein.» Und als der Agent ob dieser Verwahrung gegen die eigene Sippe und Gesellschaft lächelte, fuhr Herr Simeon gleich fort: «Ihr müßt mich nicht mißverstehen. Ich bin keinem etwas schuldig...» Aber kaum war ihm das Wort entwischt, schien er sich schon eines Bessern besonnen zu haben und berichtigte: «Das heißt, doch! Allen alles... aber eben deshalb suche ich die Stille. Ich muß einmal darüber nachdenken können, ohne daß mir jeden halben Tag ein guter Freund auf die rechte Spur helfen will. Endlich einmal ins Klare kommen möchte ich.»

Germann hatte nicht den Mut auszusprechen, was er in diesem Augenblick von seinem neuen Klienten dachte. So etwas war ihm noch nicht vorgekommen. Einer, der sich mit der Einbildung quälte, allen alles schuldig zu sein. Da mußte man freilich überlegen, wem man solchen Gast ins Haus führte. Kaum gedacht, half Germann diese Erwägung auch schon auf die richtige Spur.

Sie waren inzwischen vor ein Häuschen gekommen, das, wie alle andern, unter ein steinbeschwertes Dach sich duckte und mit seiner braunen Stirnwand in die Landschaft paßte wie der Fliegenpilz in den Märchenwald. Aber es hatte weder Stall noch Lauben und lugte aus größern Fenstern als alle andern. Die ganze Front war mit eingekerbten Sprüchen bedeckt. Simeon Bäuwlin fing an zu lesen: «Was wollt ihr mir denn für ein Haus bauen? Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meiner Füße Schemel...» Er reckte sich auf den Bergschuhen, so gut es ging, blickte in die sauber gewaschenen Fenster und sah, daß das ganze Haus ein einziger Raum war mit Bankreihen und einem Lehrpult. Als 13 ob sein Auge etwas Verbotenes geschaut hätte, schnellte Herr Simeon auf seine niedrigen Absätze zurück, daß die Pfütze spritzte, und sagte mit einem zusammenfassenden Blick auf das niedliche Oberländerhäuschen: «Eine geistliche Attrappe! – Hier bleibe ich nicht.» Von oben bis unten eine verkörperte Frage, stellte er sich breit vor Germann. Der verstand ihn sogleich und erklärte: «Nur Geduld. Bis jetzt haben wir ja nur einen Zipfel der Gemeinde gesehen, allerdings den schönsten zum Wohnen, aber wenn der Herr mehr auf das Verstecktsein hält als auf die schöne Aussicht, so gehen wir jetzt einmal auf die andre Seite hinaus, gegen den Stiegelschwand.» Seinen Plan hatte Germann im Kopf. «Es wohnt dort drüben», so berichtete er auf dem Rückweg, «eine Frau Allenbach. Bei der würdet Ihr wohl finden, was Ihr sucht.»

«Allenbach?» In Herrn Simeons Augen kam Leben. «Hatte diese Frau einen Sohn namens Peter?»

«Du mein Gott!» lachte Germann auf. «Es gibt manchen Peter Allenbach. Weiß nicht, wie dieser Frau ihr Bub hieß. Es war ihr einziges Kind, und sie mußte es wieder hergeben, kaum daß sie es hatte. Sie war schon nicht mehr jung, als sie heiratete. Dann hat sie das Kind lang ersehnen müßen, und dann, wie gesagt...»

«Das muß wohl das Kind sein, das nächst dem Ahorn begraben liegt. Ihr wißt doch, der kleine Grabstein vorn an der Straße?»

«Wo der Bub begraben ist, kann der Totengräber sagen. Die Frau hat viel Schweres durchgemacht.»

«Ist sie Witwe?»

«Selb nicht. Aber sie lebt doch fast wie eine Witwe. Der Mann – er heißt auch Peter – geht mit dem Vieh 14 z’Berg, sobald der Schnee herunter ist, und bevor droben das letzte Mümpfeli abgerupft ist, sieht man ihn kaum je im Dorf oder daheim.»

«Und ist sie eine rechtschaffene Frau?»

«Eine brave, fromme. Wißt, Herr, z’grechtem fromm. Nicht nur so vorumha.»

«Aber, wohnt sie auch im gleichen Haus? Ich meine, müßte man bei ihr wohnen?»

«Das könntet Ihr dann haben, wie es Euch besser gefällt. Frau Allenbach macht Euch die Haushaltung, wenn Ihr’s begehrt. Es ist ein Doppelhaus. Da könntet Ihr wohl die andre Hälfte mieten. – Aber schöner noch wäre das vordere Hüsli. Das ist für Fremde apart eingerichtet, donders gäbig. Das wäre zu kaufen. Ein hübsches Chalet.»

Herr Simeon faßte Vertrauen in die Sache und begann schon in aller Stille seine endgültige Übersiedlung aus der Stadt in die Bergeinsamkeit auszudenken. Daran störte ihn nicht einmal das Gewimmel im Dorf, das sie nun wieder durchschritten. Als sie am Ahorn vorübergingen, machte er den Agenten auf den kleinen Grabstein aufmerksam. «Nach der Zeitangabe könnte es wohl Schwand-Eisis Buebelli sein», meinte Germann. «Man kennt die Frau unter diesem Namen.»

Ohne viel Redens gingen die beiden ihres Weges. Das Dorf lag hinter ihnen. Zur Rechten verloren sich die durch den Bau der Straße angeschnittenen Felsen in den Nebel. Ihre in seltsame Falten gepreßten Schichten luden ein zum Nachdenken über die Entstehung aller Dinge. Zur Linken stiegen im herrlichen Rauschen eines Wildbaches ernste Tannen feierlich aus dunkler Tiefe herauf. Weder Germann noch Bäuwlin achteten sich 15 dessen. Beider Gedanken waren vorausgeeilt zur Mutter Allenbach. Germann war gespannt darauf, wie sie seinen Klienten aufnehmen würde. Herr Simeon dagegen gedachte der Leiden, welche der frühe Heimgang des einzigen Kindes dieser Mutter verursacht haben mochte. Immer von neuem durchmaß er diesen Leidensweg. Mit Schmerzen geboren, in Freuden gehegt, in Leid und Weh dahingegeben. Das waren seine Stationen. Das Schönste, was ihr Leben der Frau zu bieten vermochte, hatte es ihr wieder genommen, Sehnsucht und Hoffen ihr gelassen. – «Z’grechtem fromm» hatte Germann sie genannt, was ohne Zweifel mit der Art zusammenhing, wie sie ihr Leid trug. Wenn dem so war, so konnte sich Herr Simeon nichts Besseres wünschen als ein Wohnen in der Nähe dieser Frau. Er war zum Kauf entschlossen, wenn das Chalet auch nur einigermaßen seinen Bedürfnissen entsprach, und das schien nach Germanns Beschreibung auch zuzutreffen.

Also entschlossen kam Herr Bäuwlin an der Seite seines Begleiters um die Bergkante geschritten, wo sich der Blick in das Schermtannental öffnet.

«Sieht man es schon?»

«Ja, Seht Ihr dort hinten, wo der Furggi-Bach den schwarzen Hick in die Weide macht, da stehen eine Handbreit nach rechts, aber viel weiter vorn, ein Tschüppeli Tannen beisammen, und noch einmal eine Handbreit weiter rechts hockt das Haus wie auf einem grünen Däntsch.»

«Es sind ein paar neue Bretter an der Laube?»

«Exakt. Das ist’s. Und das Chalet liegt einen Büchsenschuß tiefer in der Mulde, man sieht nur den Kaminhut.» Unwillkürlich beschleunigte Herr Simeon seine 16 Schritte. Prachtvoll! sagte er sich. Schon dieser Talhintergrund mit dem andächtig lauschenden Tannenheer. Es ist, als ob die Bäume den Atem anhielten, um der Stimme über dem Nebel zu lauschen. Eine Mystik der Farbentöne, wie man sie tiefer nirgends findet. Dazu das leise Klingen von Kuhglocken und das Rauschen – das Rauschen! Und das Haus aus dem Berghang gewachsen wie eine Harzknospe aus der Tannenwurzel. Es ist, als ob die Steine aus eigenem Antrieb vom Berg herunter aus menschenfreundlichem Trieb auf das altsilberne Dach gerollt wären, in Reih und Glied von dem Geiste geordnet, der da spricht: Und Gott sahe an, was er geschaffen hatte, und es war gut. Und die Fensterchen! Augen der Heimat voll Herzensgüte und Wahrheit. – Hier, ja hier ist meine Stätte. Und wenn nun gar dahinten die in Schmerzen gereifte Mutter wohnt!

Germann, der berggewohnte Mann, hatte genug zu schaffen, um mit dem schweigsam vor ihm her Laufenden Schritt zu halten.

Der Weg bog ein, bog aus, lief auf und ab, es ging sich wie auf sanften Wogen; aber die Weite dehnte sich. Endlich aber hieß es: «So, das wäre der letzte Bogen.» Noch ein schwaches Hundert Schritte, und... Herr Simeon Bäuwlin fühlte etwas wie einen Faustschlag auf den Magen. Sauber geleckt und zierlich saß das Chalet in grüner Mulde. Die zwei im Giebel gegeneinander anlaufenden Wappenbären – gut. Aber auf dem Laubengeländer – nicht etwa diskret in einen Balken gegraben, wie solches sonst üblich und stilgerecht – nein, in fast meterhohen frechen Frakturbuchstaben lief quer über das Häuschen die Inschrift: «Ich, Herr, und die Meinen gehören zu den Deinen.»

17 Den Blick starr auf die Laube geheftet, blieb Herr Bäuwlin stehen, zog das linke Bein hoch und hielt den Unterschenkel mit der Hand fest umklammert.

«Wo fehlt’s?» fragte Germann teilnehmend.

«Zum mindesten muß man mit Frau Allenbach reden», stöhnte Herr Simeon, immer noch auf einem Bein stehend. Er konnte doch diesem Menschen da nicht erklären, welche Zwangsvorstellung ihn peinigte. Die Inschrift war nämlich, das sah man ja von weitem – so faustdick aufgemalt, daß die Wetterstürme von tausend Jahren sie nicht wegwuschen. Also half nur die Axt. Und wenn Herr Bäuwlin eine Axt sah, so sah er auch gleich Hodlers Holzfäller und fühlte einen grausigen Hieb in seinem linken Schienbein, mit dem er einst als Knabe auf ein Kratzeisen gefallen.

«Selbstverständlich», antwortete der Agent, der sich die sonderbare Turnübung seines Klienten aus der feuchten Witterung erklärte, «selbstverständlich, Herr Bäuwlin, und sie wird gerne mit sich reden lassen.» Die beiden verließen nun das Sträßchen und bogen in den Fußpfad, der am Chalet vorüber durch die Wiese hinaufführte. Nach zwei Minuten standen sie in der Laube des alten obern Hauses, an dessen Anblick Herr Simeon sich rasch von dem da drunten ausgestandenen Schrecken erholte. Er erreichte das alte Haus eben, als Mutter Allenbach aus der Türe trat. Da waren auch die letzten Bedenken weg. Ein unscheinbares Fraueli war dieses Schwand-Eisi. Kaum zwei Drittel von Bäuwlins stattlicher Scheitelhöhe maß sie. Ihre an den Laubenpfosten gelegte Hand war zierlich gebildet, aber mit einem krausen wetterbraunen Gerunzel übersponnen. Die schwarze, schlaff hängende Spitzenhaube überschattete ein regelmäßiges 18 Gesicht, dessen geschütztere Teile glanzlos elfenbeinern aussahen, während Nase, Kinn und Wangen in zartem Kupferbraun angelaufen waren. Die dunkelgrauen Augen blinkten wie Kristall und hatten das Lächeln, mit dem angstlose Mütter überraschenden Einfällen spielender Kinder folgen. Gehörte wohl die Frau, deren Alter schwer zu bestimmen war, schon zu jenen Reifen, denen die Welt wie eine Kinderstube vorkommt?

«Du bist gsunntiget, Eisi», sagte Germann, auf die Spitzenhaube blickend.

«O i wollti zu ds Pfarrers, aber es mueß nid grad jitz syn.»

«Du solltisch emel dem Herr da no dys Hus zigen. I weiß nid, wott er’s mieten oder chuffen. Das wird’s jitz wohl no megen gän, oder nid?»

«Bhiet’ is ja. Syd mer gottwilchen, Herr.»

Mutter Allenbach holte einen Schlüssel aus ihrer Wohnstube. Als sie wieder auf die Laube trat, wo Herr Simeon sich behaglich auf das Geländer gesetzt hatte, sagte sie, wie entschuldigend: «Mier syn grad e chly ab der Wält hie.»

«Eben das ist’s, was mich hiehergetrieben hat. Ab der Welt möcht’ ich just», antwortete Herr Simeon. «Aber seht, Frau Allenbach, vorderhand gelüstet mich noch nicht nach Eurem Chalet da unten. Es ist schön und würde sicher angenehm zu bewohnen sein, aber einstweilen gefiele es mir weit besser hier bei Euch. Ihr werdet doch wohl ein Zimmer oder zwei leerstehen haben. Hernach könnten wir immer noch über das Chalet reden.»

Germann wollte Eisi zu Hilfe kommen, in der Meinung, ihr wäre viel besser gedient mit einem Mieter für 19 das Chalet, und warf dazwischen: «Du wirst öppe mit deinem Mannli drüber reden wollen.»

«O ni», antwortete sie, «ihm isch scho rächt, was i tue.» Ohne weitere Umschweife führte sie ihre Besucher in die andere Hälfte des alten Hauses, wo eine selbständige Wohnung leer stand. Sie schlug die Läden der untern Stube zurück und enthüllte damit eine schlichte, saubere Bauernbehäbigkeit. Freilich, Herrn Bäuwlins Scheitel streifte beinahe die Deckenbalken. Es war dumpf in der Stube, auf deren unebenem Fußboden die genagelten Schuhe gemütlich herumpolterten, und das hochgetürmte Bett weckte die Erinnerung an erstickend schwüle Sommernächte. Im untern Teil der Bettstelle befand sich ein Schubkasten, der, herausgezogen, ein zweites Gelieger bot. Germann pflegte zu solchen in der Gegend üblichen Vorrichtungen einen geronnenen Witz zum Besten zu geben; aber in Gegenwart der Mutter Allenbach durfte das nicht geschehen. Man besichtigte eine zweite Stube und eine ansehnliche Schlafkammer im Giebel. Gut. Nach kurzer Beratung ward abgemacht, daß Herr Bäuwlin sich in einigen Tagen hier mit seiner Tochter einquartieren werde.

Germann wurde mit Dank verabschiedet, weil Herr Simeon mit seiner neuen Hausherrin verschiedenes allein besprechen wollte. Der Agent war mit dem Erfolg seines Geläufes nicht zufrieden und tröstete mehr sich als Frau Allenbach im Weggehen mit der Verheißung, dieser sonderbare Heilige werde sich schon noch eines Bessern besinnen.

Mutter Allenbach braute ihrem Gast einen Kaffee und setzte sich an der Fensterwand auf ihr Tröglein, während er am Tisch über Butter und Milch feststellte, 20 daß er auch hinsichtlich der Nahrung an den richtigen Ort gekommen sei. Sie redete nichts, sondern schonte mit Überlegung die Andacht, mit welcher Herr Simeon der Stillung seines Hungers oblag, und harrte geduldig seiner Wünsche und Vorschläge.

Jetzt lehnte er sich zurück, legte sein Haupt mit geschlossenen Augen eine Weile an die gebräunte Wand, das volle Behagen des glücklich Entronnenen auszukosten. Plötzlich fiel ihm wieder ein, daß er diesen köstlichen Augenblick stillen Wohlseins der Gastfreundschaft der alten Frau verdanke, und daß er derselben nun auch Aufschluß über seine Herkunft schulde.

Er schob das Geschirr beiseite und hub, mit dem Brotmesser spielend, an: «Also, Frau Allenbach, damit Ihr wißt, mit wem Ihr’s zu tun habt: Ich heiße Simeon Bäuwlin, komme aus Bern, habe Weib und Kind. Womit ich mein Brot verdiene, tut nichts zur Sache. Aber damit Ihr auch darüber im klaren seid: Ich wäre gern Pfarrer geworden, so mit dem bessern Teil meines Herzens; aber damals, als es sich für immer entscheiden mußte, war der andre Teil stärker, der nicht davon lassen wollte, Soldat zu werden. Und dieweil es leichter war, Soldat zu werden, studierte ich anderes, allerlei und nichts ganz, damit mir Zeit bliebe zum Militärlen. Jetzt habe ich nichts von alledem und doch genug von allem, genug von den Menschen, ganz besonders – von gewissen frommen.»

Herr Simeon hielt einen Augenblick inne, um die Wirkung dieses rauhen Geständnisses besser wahrnehmen zu können.

Ei ei! dachte Mutter Allenbach, bist du so einer? Aber sie ließ nichts davon laut werden. Ihre Überlegung 21 war sehr einfach. Sie sagte sich, wenn einer von irgendwas oder irgendwem genug hat, so muß er damit seine Erfahrungen gemacht haben. Und warum der da gerade von den Frommen genug hat, das nähme mich jetzt grad eis wunder.

Das Schweigen seiner Wirtin machte Herrn Simeon unsicher. Sollte er den eben gewonnenen Schlupfwinkel und Friedensport durch weitere Geständnisse aufs Spiel setzen und es drauf ankommen lassen, daß Frau Allenbach ihn bitte, um ein Haus weiterzugehen? Ja, sagte er sich aus seiner Augenblicksstimmung heraus, habe ich das Zutrauen der Frau schon halb totgeschlagen, so will ich ihm grad noch den Rest geben.

«Und damit Ihr’s grad wißt, Muetterli», fuhr er in nervöser Hast fort, «das hängt leider Gottes mit meiner Frau zusammen. Wir sind uneins geworden und können einander nicht mehr verstehen. Ich habe mir nicht mehr zu helfen gewußt und bin zum Entschluß gekommen: Hinaus aus dem Gchütt, damit ich einmal ruhig über die Sache nachdenken kann. Solange immer ein Wort das andere gibt, eine Dublete der andern ruft, kann’s nicht tagen. Vielleicht komme ich hier in der Stille zur Klarheit. Am guten Willen fehlt’s bei mir einmal nicht. – So. Jetzt wißt Ihr, woran Ihr mit mir seid. Wenn Euch davor bangt, mit so einem unter einem Dache zu sein, so sagt’s nur frei heraus.»

«O ni», antwortete Frau Allenbach mit einem gelassenen Lächeln, «wenn Er Euch unter mein Dach geführt hat, so wird’s schon recht sein.»

«Er», sagte sie. War das nun wieder aus einer neuen Spielart des Patois de Canaan oder...? Herr Simeon betrachtete die Frau einen Augenblick. Nein, das war 22 keine Redensart, es war Natur. Ein erquickendes Leuchten ging in seinem Herzen auf. Wahrhaftig, er war an einen Menschen geraten, dem Gott nicht nur eine Wirklichkeit war, sondern schlechthin «Er», der selbstverständliche Leiter und Ratgeber, das Agens im Alltag. Schon verlangte ihn, tiefer in dieses Menschenherz hineinzuschauen.

«Also gut, Frau Allenbach», nahm er das Gespräch wieder auf, «ich bin Euch dankbar, wenn Ihr uns, meiner Tochter und mir, für einige Zeit Obdach gewähren wollt. An meiner Tochter werdet Ihr Eure Freude haben, sie ist ein liebes Geschöpf. Ich will sie holen gehen. In drei Tagen werden wir mit Sack und Pack vor Eurer Haustüre sein. Aber nun sagt mir, seid Ihr wirklich die Mutter von jenem Peterli Allenbach, der unter dem großen Ahorn begraben liegt?»

«Ja», sagte Schwand-Eisi, «das ist mein Söhnlein, mein einziges Kind. Grad ein halbes Jahr hab’ ich’s behalten dürfen, und dann hat Er’s wieder zu sich genommen.»

Die Alte strich mit ihrer hagern Hand die galanderierte Schürze glatt und blickte dabei zur Seite, als hörte sie vor dem Hause Schritte.

Herr Simeon war zu ihr getreten und hatte ihre Hand ergriffen. «Solche Führungen sind schwer zu verstehen», fing er an; aber er fühlte in der Hand der Mutter eine leise Abwehr. Sie blickte an ihm vorbei ins Dunkel der eindämmernden Stube und sagte kräftig betonend: «Ja, ja, ich habe meine Zeit auch gebraucht, bis ich ohne Vorbehalt sagen konnte: ‹Er mag’s mit meinen Sachen nach seinem Willen machen.›»

Dann blieb es ganz still in der niedrigen Stube, deren kleine Fensterkreuze sich schwarz vor dem tief gesunkenen weißen Talnebel abzeichneten.


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