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VI

«Ich komme auf dem kürzesten Weg.» Lydia ließ die Depesche auf den Schoß sinken, indes ihre dunklen Augen, in Glück verloren, über Berg und Tal hinausblickten. Daß sie ihre fünf Sinne nicht ganz beisammen hatte, verrieten schon die krausen Haarsträhnchen, die ihr lustig ins Gesicht fächelten, weil sie nicht mit der gewohnten Sorgfalt aufgesteckt waren. Papa kommt. Der Gedanke hatte etwas ungemein Beruhigendes, denn Papa – das wußte sie ganz bestimmt – konnte ihrem 68 Glück nicht in den Weg treten. – Wenn nur nicht dabei gestanden hätte: auf dem kürzesten Weg! Erst nach und nach kam ihr das Bedenkliche dieses Zusatzes zum Bewußtsein. Was stellte sich Papa unter diesem kürzesten Wege vor? Ohne Zweifel etwas Ungewöhnliches, das aus der Kürze eine Länge konnte werden lassen. Und doch eilte die Sache. Der nächste schöne Tag, auf den die Familie Sontag wartete, konnte morgen schon anbrechen oder übermorgen. Und Lydia ahnte, daß der junge Herr Doktor im Falle Ausbleibens des schönen Wetters auch auf andere Weise die «Gipfelstunde» herbeiführen würde, denn sein Urlaub lief bald zu Ende.

«Und die Mutter?» fragte Frau Allenbach, als ihr Lydia ihre Sorge verriet. «Wollt Ihr die nicht ins Vertrauen ziehen? Mich deucht, eine Mutter hätte den ersten Anspruch darauf.»

Einen Augenblick zögerte Lydia. So ganz klar war sie sich darüber nicht, was Mama dazu sagen, ob sie nicht durch ihre Bedenken alles sehr verwickeln würde. Aber nach kurzer Überlegung entschloß sie sich, ganz gradaus zu gehen, und begann einen Brief an ihre Mutter aufzusetzen.

Wenn Herr Simeon Bäuwlin sich etwas vorgenommen hatte, so blieb er dabei. Er hielt auch an seinem «kürzesten Wege» fest, nachdem ihn inzwischen seine geschäftlichen Pflichten unerwarteterweise zwei Tage länger zurückgehalten. Unbarmherzig zwang er seine Knie die endlosen, ausgedörrten Halden aus dem Rhonetal hinan, über denen die Luft zitterte wie über einem Backofen. Er war früh aufgebrochen und dennoch erst in der Mittagshitze an diesen Aufstieg gelangt. Die kürzeste Linie führte ihn über eine jener prachtvollen 69 Hochterrassen, die der gütige Schöpfer extra angelegt hat, damit seine Menschlein unentgeltlich aus dem Sperrsitz den Aufmarsch der ganzen alpinen Gottesherrlichkeit beschauen können. Schon recht, dachte Herr Simeon, als er gesotten und gebraten dort oben anlangte, aber jetzt hab’ ich nicht der Weil’ für euch, ihr Säulen des Himmels. Gott, Gott selber muß ich begegnen, denn ich habe mit ihm zu reden. In der heiligen Einsamkeit will ich seinen Rat suchen; es geht um das Glück meines Kindes. Das – nicht die virtuelle Kürze seines Weges – war es, was ihn bewogen hatte, in der geradestmöglichen Linie den Bergwall zu überqueren, der ihn von Adelboden trennte.

Auf einer Eck, wie man das in seiner engern Heimat nannte, stand eine alte Kapelle mit spitzem Dachreiter, der sich wie eine schwarze Nadel vor dem rosigen Himmel abzeichnete. Und über dem runden Torbogen stand geschrieben: Porta coeli. Aus der Tiefe leuchteten ein paar goldene Bögen des Flusses durch den purpurnen Dämmer des gewaltig klaffenden Tales herauf. Die Erhabenheit des Bildes zwang den Wanderer zur Rast.

Wie wär’s, Herr Simeon, wenn Sie Ihr Gottesbedürfnis in diesem geweihten Hause stillten? Jahraus, jahrein suchen und finden hier drinnen fromme Menschen Gott. Hier stört niemand und nichts die Andacht des Trostbedürftigen. Das schlichte Haus ist nach der Vorstellung seiner Besucher eine Wohnstätte Gottes bei den Menschen.

«Warum eigentlich nicht?» raunte es in Herrn Bäuwlins Seele. Drauf und dran war er, in den kleinen Tempel zu schlüpfen, in der erstbesten Bank hinzuknien und in tiefster Versenkung auf die ersehnte Offenbarung des 70 göttlichen Willens zu harren. Er war ja nicht einer von denen, die sich von der Furcht verfolgen lassen: Es könnte mich jemand von meinen Glaubensgenossen sehen. Wie er nun aber seinen Entschluß in die Tat umsetzen wollte, überfiel ihn mit sieben geschliffenen Messern im Gürtel das protestantische Bewußtsein. Wozu dahinein? sagte es. In diesem weihrauchduftenden Raume pflegt der Allgegenwärtige denen Audienz zu erteilen, die ihn nach der Satzung der Kirche dort suchen müssen. Ei nun, trotzte Herr Simeon, was verschlägt’s? Das eben zieht mich an, daß die Glaubensbrüder von der andern Hälfte dem heiligen Wunder der Vereinung des Ewigreinen und Einzigguten mit dem nach Erlösung Schreienden eine Stätte bewahrt haben, welcher der Krimskrams der betörenden Welt fernbleibt. Du aber weißt, mein Sohn, antwortete das protestantische Bewußtsein, daß du selbst dein Priester bist und durch das Ausstrecken deiner Rechten nach dem Gekreuzigten und Auferstandenen jeglichen Feldstein zum Altar, jede Baumkrone zum Dom, jeden Fußbreit Erdbodens zum Allerheiligsten machen kannst, darauf du von Angesicht zu Angesicht dem begegnest, den du dein Leben lang suchst. Gnade freilich ist solche Begegnung; aber der erste Schritt ist dir, dem Menschen, zugestanden.

Also überlegend, schlüpfte Herr Simeon wieder in die Riemen seines Rucksackes und stieg als vollbewußter Protestant weiter bergan. Seltsamerweise verließ ihn aber das Gefühl nicht, daß er Gott in der Einsamkeit der Berge suchen müsse, und da war ihm keine einsam genug. Erst wo das Grauen hinter seinen Fersen zusammenrauschte, konnte er finden, wonach sein Herz verlangte. So kam es, daß er aus der ersten Empore des 71 Berghanges den Weg nach der höheren, der Steinwüste, wo nur noch die Soldanellen im Nebel schauern, über eine Wasserleitung einschlug, die grausigem Abgrund entlang aus der dämmernden Wildnis herabkam. Gurgelnd, verwirrend schoß das Wasser unter seinen Füßen dahin, und aus den blauen Schluchten herauf quoll fernes Tosen zum Himmel, aus dessen dunkelnder Bläue die ersten Sterne heraustraten. Da auf einmal empfand der Wanderer das Alleinsein mit Gott, aber ganz anders, als ihm lieb war, denn unter der Wasserleitung turnte von Strebe zu Strebe der Tod. Herr Simeon dachte an Weib und Kind und begann mit den Fußspitzen vorsichtig zu tasten. Bei lebendem Leibe hatte er mit Gott Zwiesprache halten wollen. Es dämmerte ihm auf, daß der gewählte Weg ihn zum Besten halten könnte, und er begann in seinem Herzen Buße zu tun. An der nächsten Stelle, wo die Wasserleitung festen Boden streifte, griff er mit den Händen des Gestrandeten in die Tännlein und arbeitete sich durch eine Kehle empor. Hier oben war die Dämmerung heller. Durch eine Wildnis von Arven und Lärchen streifend, in deren phantastischen Gruppen eben das letzte Tageslicht verglomm, trat der Einsame in eine kleine herb duftende Wiesenmulde. Erst jetzt ließ ihn das zurückbleibende Rauschen der Schlucht ein leises Bimmeln vernehmen. Und wie er, diesem folgend, die Mulde durchschritt, sah er sich einem großen dunklen Tier gegenüber, das ruhig grasend dahinschwänzelte. Es war keine Kuh und kein Stier, sondern ein ganz pergamentener Maulesel, der sich nach dem späten Besucher nicht einmal umsah. Dennoch war dieser von der so natürlichen Begegnung übernommen, denn – offen gestanden – Herr Simeon hatte vor ganz 72 kurzem noch in regelrechter Todesangst geschwebt und ein gewisses Verlangen nach menschlicher Hilfe nicht ganz verleugnen können. Darum erkannte er in dem Zusammentreffen eine Fügung, deren Sinn ihm, als einem wahrhaft aufrichtigen Menschen, alsbald klar wurde. In Worte geprägt lautete er ganz einfach: «Herr Simeon, Sie sind ein Esel.» Ja, so lautete der Spruch. In der heilsamen Erkenntnis, daß Gott ihm in der Verschwiegenheit der Wüste einen Spiegel vorgehalten, setzte er sich unter einen Lärchbaum und ging in sich. Eine gewisse verblüffende Ähnlichkeit zwischen seinem eigenen Wesen und demjenigen eines Maultiers war nun einmal nicht zu leugnen. Es gingen Herrn Simeon in dieser einsiedlerischen Nachtstunde überhaupt allerhand Sterne auf über die Schöpferweisheit Gottes, insbesondere über den Humor in der Tierwelt als dem Spiegel menschlicher Tugenden und Untugenden.

Da saß er nun unter seinem Lärchbaum und hatte Zeit, darüber nachzudenken, daß er mit seinem kürzesten Weg sein Kind in die peinlichste Verlegenheit gebracht, als Vater gewissermaßen versagt habe. Wollte vielleicht Gott gerade ihn ausschalten, wo es galt, seines Kindes Wege zu bestimmen? Das ist zwar sonst nicht Gottes Art des Regierens, sagte er sich, weil Gott selber Natur und Menschheit eingerichtet und den Eltern ihre Aufgaben zugemessen hat. Aber wenn nun Eltern es besser machen wollten als Gott, so mag es wohl sein, daß er solchen Vater auf seinem kürzesten Weg ins Gestrüpp schickt, wo er sich nicht mehr auskennt, und unterdessen das Glück eines Menschenkindes hübsch in Ordnung bringt. Das hinwiederum wäre des lieben Gottes Art. Herr Simeon ward in Gesellschaft des hinter ihm 73 grasenden Maulesels sehr klein, und je kleiner er ward, desto höher stieg sein Gottvertrauen, gerade wie der silberne Mond, der jetzt dort drüben über die gewaltigen Schattenrisse des Weißhorns und Rothorns hinschwebte und auch die in Scham und Gottesfrieden glücklich ausschauenden Augen des verirrten Wanderers leuchten machte.

Die Nacht war schön und mild, aber auf die Dauer doch etwas kühl, so daß Herr Bäuwlin, sobald ihm das Mondlicht kräftig genug zu leuchten schien, einen Versuch machte, in die Nähe menschlicher Siedelungen zurückzukehren. Bald jedoch mußte er das aufgeben. Auf gebahntem Weg wandelt sich’s reizvoll im Mondenschein; aber das Krabbeln und Stolpern im Arvenwald bekam dem Wanderer nicht gut, und er beschloß stillezuhalten. «Du hast’s gewollt, Simeon», sagte er sich. «Du hast den Weg durch die Wüste gesucht. Da hast du sie, und nun nimm die Erkenntnis, die sie dir beut, so herb sie auch schmeckt.» Es war auch gar nicht so schlimm; denn noch nie hatte er die Majestät Gottes in seinen Werken in solcher Erhabenheit geschaut wie hier in der hehren Stille der Bergnacht. Seine Seele strömte über in Anbetung. Und seltsam, wie das Große und das Kleine eng beisammen ist, ja ineinander aufgeht! – so oft er die Augen schloß, sah er die Gestalt des alten Schwand-Eisi, die ihrem Stil und Wesen nach eine Verwandtschaft hatte mit diesen von Wind und Wetter, Frost und Hitze verbogenen und doch in all ihrer Krümme wieder sonnwärts strebenden Bäumen. Sobald er die Gestalt sah, wußte er auch, was sie ihm zu sagen hatte. Schweig, schweig nur, hätte er sie bitten mögen. Ich weiß, daß du recht hast. Ich weiß, du bist eine von 74 denen, die Gott finden, wo sie stehen und gehen, die ihn vor Augen und im Herzen haben und deshalb immer den kürzesten Weg zu ihrem Ziele finden. Gott ist ihr Ziel, ihr ein und alles, und darüber haben sie die mannigfachen Künste des Frommseins vergessen, ja sich selber vergessen und verloren und sind doch so gelassen und froh, weil sie wissen, daß Gott gefunden, was der Mensch verlor, und daß sie es unverweslich aus seiner Hand wieder empfangen werden.

Aus kurzem Schlaf weckte die Kälte den Einsiedler. Er schlug Feuer und vertrieb sich die Zeit mit Teekochen, bis der erste Frühschein Baum und Fels aus dem Schatten der Nacht hervortreten ließ. Als Herr Bäuwlin endlich zum Aufbruch sich rüstete, war ihm so froh zumute wie dem Erzvater Jakob nach dem Traum von der Himmelsleiter. In vollen Zügen genoß er, ins Tal zurückkehrend, den Siegeszug des Tageslichts. Mit beiden Händen fing er die Rosen auf, welche es über die blauen Gräte in die Täler warf.

Ganz nüchtern, wie alle andern Menschen, die ihren Weg zu kürzen suchen, setzte er sich zuunterst in der dumpfen Talsohle in einen rumpelnden Eisenbahnwagen und fuhr einsam inmitten eines schwatzenden Schwarmes eilfertiger Menschen auf die mitternächtige Seite des Alpenwalles.

Als der Zug auf der Station einlief, von wo Herr Bäuwlin vor etlichen Wochen den Weg nach Adelboden mit seiner Tochter unter die Füße genommen, war viel Volks auf dem Bahnsteig. Er kümmerte sich nicht um den Schwarm, der in wilder Hast mit Koffern und Bündeln die Wagen erstürmte. Für viele war es Ferienende. Daher das Getümmel. Da er nun schon soviel 75 verloren, machte sich Herr Simeon unverweilt an einen Kutscher und war auch bald mit ihm handelseinig. Eben hatte er sich in den federnden Sitz des offenen Kütschleins niedergelassen, da war ihm, als hätte er vom Zuge her seinen Namen rufen hören. Er wandte sich um, stand auf und ließ seine Blicke die Fensterreihe des Eisenbahnzuges entlanglaufen, der bereits ins Rollen kam. – Zum Kuckuck! – Dort winkte jemand, und täuschten ihn nicht seine scharfen Augen, so war es der junge Herr vom Hornbachbrücklein, der laut Lydias Brief Doktor Sontag hieß. Ohne Überlegung antwortete Herr Bäuwlin, indem er seinen Hut schwenkte, bis eine Kurve die Flanke des Zuges dem Blick entzog.

Simeon! – Er ließ sich in die Polster fallen. Entschieden, die Menschheit befand sich in einem uralten Irrtum, wenn sie das Pferd für das schnellste Tier hielt. Dieses Exemplar da jedenfalls war zum Verzweifeln. Ob er nicht den Sack umhängen und laufen sollte? Bis in den Talgrund vor Adelboden hielt er geduldig an sich. Aber hier war’s aus. Die endlosen Schleifen, welche die Straße hier bis zum Dorf hinauf machte und dann erst noch den weiten Bogen in den Stiegelschwand, nein, die schnitt er lieber auf den Abkürzungen ab. Er bezahlte seinen Kutscher und stürmte hinan. Seit Tagesanbruch hatte sich dem Wanderer immer deutlicher seine Frau in den Rahmen von Eisis Bild geschoben. Schließlich war er doch ihr Rechenschaft schuldig, wenn mit Lydia etwas vorgegangen sein sollte, was nicht nach der Mutter Wunsch und Willen war. Er hatte ihr sein Wort verpfändet, und just weil er die Tochter etwas gewaltsam ihrem Einfluß entzogen hatte, verlangte es seine Ehre als Mann und Gatte, daß er ihr Vertrauen 76 nicht täuschte. Bergauf keuchend entwarf Herr Bäuwlin einen Brief an seine Frau, der – ob er’s wollte oder nicht – zu einer demütigen Beichte gedieh. Als er aber an Peterleins kleinem Grabstein vorübereilte, hauchte des alten Ahorns wohliger Schatten wieder Trotz in seine Seele. Er begann sich selber auszulachen. Dummes Zeug! tröstete er sich, es kann ja noch gar nichts geschehen sein. Da kenne ich meine Tochter zu genau. Und schließlich habe ich sie doch in Eisis Hut befohlen. Die wird doch nicht versagt haben. Sonst wahrlich... aber eben... auch sie war ein Weib. Daraus würde es sich erklären. Bei den letzten Tannen vor dem Stiegelschwand ertappte sich Herr Simeon über dem unbewußten Repetieren des Zufluchtswortes seines ersten Ahnherrn: «Das Weib, das du mir beigesellt hast...»

Ach nein, es war ja doch wohl alles nichts. Nur ruhig Blut!

Wie es zu geschehen pflegt, wenn man in brennender Ungeduld auf einen wartet, kam Herr Bäuwlin gerade in einem Augenblick gegen Schwand-Eisis Haus hinaufgestapft, als niemand nach ihm ausschaute. Er war schon ganz nahe heran, als seine Schritte die kleine Hausgemeinde alarmierten. Noch war er unschlüssig, ob er zuerst bei Eisi eintreten sollte oder auf seiner eigenen Hausseite, da rumpelte etwas auf dem Läubli, und mit dem Schrei «Papsli!» flog ihm Lydia um den Hals, also heftig, daß das lebende mit der Kraft freudevoller Herzensnot geschleuderte Wurfgeschoß von vorn und der schwere Rucksack von hinten den stattlichen Mann beinah unliebsam zum Absitzen gebracht hätten.

«He he!» Das Gleichgewicht Leibes und der Seele wieder herstellend, umschlang er nun selber mit kräftigen 77 Armen sein Kind, wobei ihn die Augen zu brennen begannen. Er küßte Lydia auf den krausen Scheitel und dachte dabei, weiterer Worte bedürfe es eigentlich nicht, die Hauptsache sei heraus, und zugleich fiel ihm ein, den kürzesten Weg habe seine Tochter gefunden, wie denn überhaupt Kinder darin besonders geschickt seien, just weil sie so wenig überlegten.

Dieser Lektion folgte sofort eine zweite. Kaum hatte Lydia, sich an seine Seite schmiegend, ihm den Weg zur Laubentreppe freigegeben, erschien auf deren oberster Stufe Frau Bäuwlin. Die Erscheinung wirkte zunächst etwas verblüffend auf den Herrn Gemahl, zugleich aber auch wieder demütigend, ja beinah so kräftig wie die seltsame Begegnung in der letzten Nacht. – Aber da gab’s wiederum nichts zu deuteln. Die beste Pfadfinderin ist selbstverständlich eine Mutter. Die drahtete nicht erst: «Ich komme auf dem kürzesten Weg», um dann in unmöglichen Schleifen durch die Wüste zu pilgern. Sie kam und war da.

Das hatte sie fein gemacht, und, vom Glück seiner Tochter wie mit Sonnenflimmer übergossen, wäre ihr Gemahl bereit gewesen, ihr mit einem schallenden Gelächter über sich selbst Genugtuung zu leisten. Aber so wohlfeil war der Friede des Hauses nicht zu haben, das verkündete die Feierlichkeit, in welche Mama sich hüllte. Si-me-on! sprachen die ernsten dunklen Augensterne, und die zierliche Gestalt schien mächtig zu wachsen. Simeon, heißt das Wort halten? – Die Frage ward nicht ausgesprochen, und doch verbrühte sie die gute Laune des Heimkehrenden. So tauschte man denn Gruß und Kuß, wie sie unter braven Eheleuten üblich sind und trat selbander in die Stube. Beiden tat das Kind 78 leid, dessen Freude man durch diesen Bisennebel grausam dämpfte. Mutter Bäuwlin, die es schwere Überwindung gekostet hatte, ihres Herzens innigen Anteil am Glück ihrer Tochter und ihren ganz echten Brautmutterstolz aus solch ehepädagogischem Pflichtbewußtsein zu verleugnen, verstrickte sich in Ärger und ließ, auf die Fensterbank hinsinkend, Tränen rinnen, indes Herr Simeon seinen Rucksack an die Wand stellte und, auf dem Ofentritt sitzend, ins Brüten verfiel.

Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Das trauliche Halbdunkel der Stube ward zur Düsternis, in der man nur würgendes Seufzen vernahm. Lydia stand am Fenster gegen die Laube und weinte bitterlich. Als ihr die Knie zu wanken begannen, lief sie zu ihrem Vater hin und fragte mit halb erstickter, halb aufschreiender Stimme: «Aber könnt ihr mich denn gar nicht verstehen? – Macht’s euch gar, gar keine Freude?»

«Ach, Kind!» sagte Herr Bäuwlin, indem er die Tochter zärtlich an sich zog und mit einer unmißverständlichen Kopfbewegung nach der Mutter hinwies.

Die hatte es bemerkt und antwortete: «Ihr habt gut reden. – Ich wollte sehen, wenn ihr in meiner Haut stecktet!... Wie soll ich nun mein Gelöbnis erfüllen?»

Eine lange peinliche Stille folgte. Noch fand keines den Mut, mit seiner Ansicht frei herauszurücken.

«Aber Mama, wie kannst du nur daran zweifeln, daß...» begann endlich Lydia und warf sich nun vor der innerlich Ringenden auf die Knie, das Haupt an ihre Seite bettend, als wollte sie das mütterliche Herz aushorchen.

«Du weißt doch, mein Kind, daß ich dich dem Herrn angelobt habe. Und nun hast du das vergessen, hast 79 meiner vergessen und reichst deine Hand einem Manne, von dem du nicht einmal weißt, ob er auch wirklich bekehrt ist.»

«Aber Mama, Jetzt nehm’ ich dich bei deinen eigenen Worten. Bin ich nicht in der Taufe Gott übergeben worden? Bin ich nicht seither ein Gotteskind? – Bin ich aber Gottes Kind, so hast du anders über mich gar nicht mehr zu verfügen. Wie willst du mich ihm nochmals geben? – Ich bin ja sein und werde es bleiben. Und was das Bekehrtsein betrifft, so laß du uns nur unsern Weg suchen. Wir werden eins sein und eines des andern Last tragen.»

Frau Bäuwlin antwortete mit einem überlegenen Lächeln. «Ja ja», seufzte sie. «Wenn du nur erst wüßtest, was das heißt.»

Nun hob auch Herr Simeon den Kopf und stand im Begriff, eine Frage an seine Frau zu richten, da schollen in die dumpfe Stille drei wuchtige Schläge von der Stubenwand.

«Aha», unterbrach Herr Bäuwlin sich selbst, «Mutter Allenbach ruft zum Essen.»

«Es ist gut», meinte Lydia, «wenn du nur erst einmal recht mit ihr gesprochen haben wirst, Mama, so wird dir alles viel einfacher erscheinen.»

«Ihr denkt wohl, ich soll mich von dieser ungebildeten Person erleuchten lassen, um über die Stimme meines Gewissens hinwegzukommen?»

«Warte nur, bis du sie kennst», sagte Herr Simeon vor sich hin. Dann blieb es wieder still und schwül in der Stube. Keines rührte sich, bis ein Lichtschimmer durch die Fenster hereindrang, der die Schatten der Fensterkreuze wie Speichen eines Rades über die Balkendecke 80 huschen machte. Man hörte schlurfende Schritte vor dem Hause, und kaum hatte ein jedes in seinem besondern Schmollwinkel sich erhoben, so fiel der Lichtschein vom Laubenfenster herein. Die Schritte polterten auf der Stiege. Und bald darauf stand Eisi, die Lampe hochhebend, unter der Stubentüre. «Hab mir’s doch gedacht», sagte sie, «ich müss’ euch cho ge zündten, sonst findet ihr am Ende nicht einmal den Weg zum Nachtessen. – Ei, guten Abend wohl, Herr Bäuwlin, seid Ihr wieder da? – Ja, gelt, was das für Geschichten gibt. Wo ist das Bräutlein? – Heraus aus dem Eggen! An d’Heiteri, so kann man auch ordentlich das Glück beschauen.»

«Ja, ja, Mutter Allenbach, es ist anders gekommen, als ich mir’s gedacht; aber ich glaub’, es sei ganz recht so. Meint Ihr nicht auch?»

«Es wird schon recht sein. – Aber kommt jetzt herüber, hab’ schon angerichtet.»

Sie folgten der Hausmutter in die behagliche Stube und setzten sich zu Tische. Dann mußte Eisi erzählen, wie alles gekommen, und sie tat’s mit Freuden. «Seht, Herr Bäuwlin», sagte sie, «das ist so geworden, weiß selbst nicht wie. Alles recht und in Ehren, wie es unter Christenmenschen sich schickt. Da sind sie selbander z’Berg gegangen. Auf den Albrist, in aller Sternenfrüh. Und am Nachmittag sind sie hier vorübergegangen. Eure Tochter ist hereingekommen, hat ein wenig geleuet, sich gsuntiget und dann hier unter der Tür zu mir gesagt: Niid für ungut, Mutter Allenbach, aber ich soll zu Sontags zum Nachtessen gehen. Und dann ist sie gegangen, hellauf wie ein Gitzi. Kein Mensch hätte erraten, daß sie von so einem hohen Berg heruntergekommen. Ich hab’ mir schon meine Sache gedacht 81 dabei. Aber etwas Ungerades hab’ ich nicht dran finden können. Der junge Herr ist dann gekommen, hat gattlich nach der Jungfer Bäuwlin gefragt, und dann sind sie zusammen dem Dorf zu. Ich hab’ ihnen nachgeschaut, soweit als man das Sträßlein sieht, und hab’ grad eins denken müssen: die zwei hat der liebe Gott füreinander geschaffen. – O wie hab’ ich’s ihr gegönnt. – Ja, wenn Ihr wüßtet, Herr Bäuwlin, wie sie nach Euch gekummert und immer wieder gefragt: Darf ich ächt? Darf ich ächt? Bis ich zuletzt gesagt habe: Ja nun, der liebe Gott wird auch wissen, warum er dem Herrn Papa ein Bein stellt und das Wetter hienache so schön macht, daß es junge Leute an allen Haaren z’Berg zieht. Und so hab’ ich sie halt dann, Gott sei mir gnädig, gehen lassen.

Und dann z’nacht. Ja, da war halt ein Mondschein, ach so schön, so schön. Sie sind aus dem Dorf heraufgekommen und immer hin und her da unten, auf dem Sträßlein und haben gar nicht voneinander lassen können. Da hab’ ich dann Licht gemacht und das Lämplein auf die Laube hinausgestellt, damit sie’s merken: Eisi wartet und wacht. Und hab’ die Sache dem lieben Gott ans Herz gelegt und gebetet, er soll die beiden glücklich machen nach seiner Art und ihnen zeitlebens ein so schön Licht leuchten lassen, wie es der selb Abend gewesen ist. – So ist’s gegangen, und ich wüßte nicht, was öppe lätz sein sollte dran. Des seid nur guten Muts, Frau Simeönin.»

Ob diesem Bericht legte sich eine frohe Ruhe auf die Gemüter. Und wenn sie auch noch nicht soweit zurecht kamen, daß sie einander das Wort unbeschwert gegönnt hätten, so trug doch jegliches seinen Trost heim, als sie im Vollmondschein zu ihrer Haushälfte hinübergingen.


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