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IV

Herr Simeon gab sich so recht dem Genuß des Wanderns hin. Als er aber an der jenseitigen Tallehne Rast machte und auf das Dorf zurückblickte, das so heimelig um seinen Kirchturm sich scharte, kam ihn doch wieder jenes Gefühl an, daß ihm etwas abgehe. So etwa mußte einem zumute sein, der durch eigene Schuld enterbt ist. Ehrlich gestand er sich, daß ein Sonntag ohne Gottesdienst nun einmal kein ganzer Sonntag sei. Auf dem Heimweg beschloß er, irgendwie das einzuholen, was er versäumt hatte. Und da fielen ihm Eisis Mandleni ein.

Am Nachmittag kamen diese, wie gewohnt, herangeträppelt, einer um den andern. Und jeder legte sorgsam, nachdem er noch einen letzten herzhaften Zug getan, seine Pfeife in den alten Brunnentrog. Als der dritte ins Haus hinaufgestiegen war, schlich sich Herr Bäuwlin mit seiner Tochter unter Eisis Fenster auf die Scheiterbeige, um wenigstens etwas von der seltsamen Unterweisung zu erhaschen. Die alte Frau hatte Herrn Bäuwlin abermals den Zutritt verweigert. «Wäret Ihr heute morgen nicht draußen sitzengeblieben», hatte sie unter Lachen geschmählt, «so müßtet Ihr jetzt nicht mit hungrigem Magen spazieren. Ordnung muß einmal sein. Und meine alten Unterweisungsbuben sollen nicht wegen Eurer Schnäderfräßigkeit geniert sein.» Herr Simeon 48 kam sich als geistlicher Bettler vor, wie er da auf der Scheiterbeige, wo sonst die Hühner gefüttert wurden, nach den Brosamlein schnappte, die aus Eisis Stubenfenster fielen. Mutter Allenbach las feierlich und mit sinngemäßer Betonung ein Kapitel aus der Bibel vor. Ihr Beten war das Flehen einer Mutter und drang tief in die Herzen. Von der Auslegung war nur weniges zu verstehen. Doch wurde ab und zu etwas besonders deutlich ausgesprochen, wie es sein muß, wenn man Schwerhörige um sich hat. Oder sollte Eisi gemerkt haben, daß auch vor ihrem Fenster jemand ihren Worten lauschte? – Es mußte einer der alten Männer von einem Nachbar Unrecht erlitten haben. Man hörte ihn aufbegehren; damit sei es nicht getan, daß einer sein Haus mit frommen Sprüchen verziere, worauf Eisi mahnte: «Ei, ei, Menk! Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.» Menk antwortete: «Das weiß ich wohl. Ich richte nicht. Aber weißt, Eisi, ich habe keine Bibelsprüche an mein Haus schreiben lassen. Dafür bin ich dann aber einer von denen, wo man weiß, woran man ist mit ihnen. Ich bin...»

«Dreck bist, es Hämpfelli», ward er von Eisi unterbrochen. «Laß du die Leute an ihre Häuser schreiben, was sie wollen. Leben sie nicht danach, so ist es ihr eigener Schaden. Du siehst auch aus wie einer, der an die Himmelstür klopft, und trägst im Herzen doch allerhand Unrat mit dir herum. Oder öppa nit, he?»

«Selb ist wohl wahr», brummte der alte Menk.

Die Brosamlein, welche aus Eisis Fenstern herniederfielen, brachten Lydia zum Lachen; Herrn Simeon hingegen deuchte, es wären Hagelkörner, weshalb er unwillkürlich den Hut aufsetzte. Nach einigen weitern Lehrsätzen 49 seiner Hausmeisterin rutschte er sachte von der Scheiterbeige herunter und flüsterte seiner Tochter zu, er wolle noch ein paar Schritte tun, um ein wenig zu meditieren.

Lydia nahm sich vor, ihrem Papa später zu folgen. Jetzt aber mochte sie die eigenartige Lektion noch nicht verlassen. Es gelüstete sie überdies mächtig, mit den alten Unterweisungsschülern in Berührung zu kommen. Um nun vor ihnen nicht als die Lauscherin zu erscheinen, begab sie sich, sobald Mutter Allenbach ihre Bibel zugeklappt hatte, an den alten Brunnentrog hinunter, steckte die drei Pfeifen zwischen die Plackenstauden in die Erde und setzte sich auf der Obern Laube des Chalets hinter das Geländer.

Es währte nicht lange, so kamen sie angerückt. Behutsam und steif stiegen sie das Trepplein von Eisis Laube herab, jeder mit einem braven Haggenstecken bewehrt. Dann wackelten sie hinter dem Rosenhag vorbei und kamen wieder zum Vorschein, doch nur mit dem Kopf, denn ihrer keiner maß mehr denn zweieinhalb Ellen, den Hut eingerechnet. Erst als sie um die Ecke des Krautgärtleins bogen, bekam Lydia sie ganz zu Gesicht. Schitter und langsam kamen sie daher, doch setzten sie auf dem holperigen Weglein ihre Füße so sicher wie alte Geißen. Voran kam der Fuchsrütti-Menk, mit einem gehörigen Buckel behaftet. Sein Kranzbart war noch fast schwarz, die Äuglein blickten bös unter schnauzartigen Brauen hervor. Der Ärtele-Brecht sah dagegen ganz rosig aus, war bis an die weißwollenen Backenbärtchen sauber rasiert und trug ein Fräcklein aus uraltem Zwilchstoff, in dessen fettglänzendem Gewebe ein kariertes Dessin von blauen Fäden zu erkennen war. An seinen 50 Hosen hielt ein Flick getreulich den andern, eine kleine Almend. Über das Fräcklein trug er eine alte Briefträgertasche umgehängt. Der Furggenhans war der wackeligste und freundlichste unter den Greisen. Er trug immer – Gott weiß, warum – zwei Hüte, einen Strohdeckel und darüber gezogen einen Wetterfilz, und am halbleinenen Fräcklein mattgewordene Uniformknöpfe, von denen die Sage umlief, sie hätten noch den General Dufour geschaut.

Vor dem leeren Brunnentrog machten alle drei rechtsum und traten, ein köstlich Geheimnis in den Augen, über das trockene Gräblein hart an den bemoosten Schrein ihres verborgenen Schatzes.

Mit verdutzten Gesichtern schauten sie sich gegenseitig an, guckten ins Gras, unter den Trog, hinter den Zaun.

«Himmeldonder nahi», brummte Menk, «wa sy jitz die Pfyfen hichon?»

Und gleichzeitig erfaßte alle drei der gleiche Verdacht. Das konnte nur so ein schlechter Hund von einem Stadtfetzel getan haben. So rasch es ihnen die Steife des Alters erlaubte, traten sie auf die Straße hinaus und schauten nach links und nach rechts. «Dert ussen geid einer», sagte der Furggenhans und zeigte mit seinem Stecken nach Herrn Simeon, den man eben nach dem Hornbachwäldchen einbiegen sah.

«Dän megen mir nummen ebsieh», meinte der Ärtele-Brecht, und der Furggenhans gab zu: «Där ischt is grad e chly z’lenge.» Aber der böse Menk wollte nicht verzichten. Er, der Jüngste, Fünfundsiebzigjährige, vergaß in seinem Zorn, was zwischen dieser Stunde und der Zeit lag, da er noch Murmeltiere überlistete. Der Bucklige 51 fing an zu laufen, daß die Schuhe stoben. Die beiden andern blieben noch eine Weile stehen. Als aber der Menk schon einen Büchsenschuß weit war, fing auch der mit den zwei Hüten zu laufen an, weil er den Freund nicht im Stich lassen wollte. Und nachdem er seine fünfzig Schritte getan, träppelte auch der Ärtele-Brecht hinterdrein. Alle drei hatten ihre Stöcke wie zum Hieb gefaßt.

Jetzt wurde der Lauscherin doch bange ob dem gefährlichen Spiel. Mit einem schalkhaften Jauchzer wußte sie den Wettlauf zu stoppen. Mit lachenden Augen kam Lydia zu Brecht gelaufen. «Habt ihr was verloren?» fragte sie.

«Üsi Pfyfen syn is furtchon.»

«Ich weiß, wo sie sind», tröstete sie und führte Brecht zurück, den beiden andern zuwinkend, sie möchten ihr folgen. Da standen die drei Rauchfäßlein, mit der Spitze des Wassersacks hübsch in die Erde gesteckt, unter den schattenden Blättern. Brecht, der nicht vor den Atem hinausgekommen war, freute sich des Schabernacks und machte Lydia verliebte Äuglein. Auch der Furggenhans nahm den Streich des schönen Fräuleins von der galanten Seite; aber der grimmige Menk sagte mit strafendem Blick: «Das hätti chönnen fählen», nicht etwa, weil er einen Herzschlag riskiert, sondern weil er entschlossen gewesen, den mutmaßlichen Dieb mit seinem Stecken niederzuschlagen. Zur Beschwichtigung half Lydia den dreien Feuer in den Knaster schlagen, wobei es nicht an Späßen fehlte. Sie hätte nur erforschen wollen, sagte sie, ob die Männer wirklich ihr Herz an die Pfeifen gehängt hätten. Dann trotteten die drei, blaue Wölklein hinterlassend, dem Dorfe zu und kramten einander ihre 52 Liebesabenteuer aus jenen fernen Tagen aus, da noch ein einzig Lädelein im Dorf bestanden hatte mit der Aufschrift: «Käs, Brot und andere Luxusartikel».

Während nun dergestalt seine Tochter durch ihre frohe Laune neue Freunde gewonnen, lief Herr Simeon rastlos den Bach entlang und verteidigte sich in Gedanken eifrig gegen die Vorhalte, welche Eisi dem bösen Menk gemacht. Und damit rollte er von neuem alles auf, was er wider die Leute hatte, die ihre Frömmigkeit unnötig zur Schau tragen. Beinahe hätte er darüber die Zeit des Nachtessens versäumt. In Unruhe und Zerstreutheit kam er endlich heim. Lydia war ihm ein gut Stück Weges entgegengekommen, um ihm zu erzählen, welche Gefahr ihm durch den Zorn des Menk gedroht. Aber Herr Simeon hörte kaum auf ihre Worte. «Ja, ja», sagte er beim Nachtessen zu Frau Allenbach, «ich habe mir zu Herzen genommen, was Ihr mir heute nachmittag von Eurer Kanzel herunter habt liegen lassen.» Eisi antwortete mit einem höchst erstaunten Blick, worauf er fortfuhr: «Den Sack haut man und dem Esel gilt’s.» Mutter Allenbach wollte weder von einem Sack noch von einem Esel etwas wissen und zeigte auch keinerlei Lust, auf einen Disput einzugehen. Damit war aber Herrn Simeons Bedürfnis nach Auseinandersetzung nicht aus der Welt geschafft, und deshalb mußte Lydia, mit der er sich in ihre Wohnstube zurückgezogen, herhalten. Es waren keine leeren Reden, denn Herr Simeon war ein ernster Gottsucher, und jedes Ärgernis, das ihm auf diesem heiligen Wege widerfuhr, brachte seinen Zorn über die mannigfachen Verkehrtheiten des christlichen Gemeinschaftslebens zu leidenschaftlichem Ausbruch. Auch heute abend kam es zu einem solchen, so daß 53 Lydia sich nachgerade zu fürchten begann. Herr Simeon sprach laut und lief auf dem knarrenden Zimmerboden unermüdlich hin und her.

Mutter Allenbach hörte es drüben in Ihrer Stube. Seine Worte konnte sie nicht verstehen, da eine Balkenwand die Haushälften schied. Sie vermutete, daß die Meinungsverschiedenheit mit seiner Frau den Herrn so aufrege und bedauerte das Mädchen, das unter diesen Dingen zu leiden hatte. Was sollte sie tun? In den Streit mischen wollte sie sich nicht. Aber Mutter Allenbach hatte ihre vertrauten Wege in den Nöten des Lebens. Sie faltete ihre hagern Hände und trat als Priesterin für ihre Hausgenossen ein.

Dann holte sie aus der Küche das Beil, trat an die Scheidewand und tat mit dem Beilrücken langsam drei feierliche Schläge an das Gebälk.

Sie wurde verstanden. Die Rede verstummte, und bald breitete sich die erquickende Ruhe der Nacht in allen Räumen des Hauses aus.


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