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II

Alles rauschte, am lautesten der Wildbach, der da drunten in der nächtlichen Finsternis seine schlechte Laune an Blöcken und Geröll ausschäumte, schwermütig die schwarzen Tannen, weil der singende Wind sie im Schlafe störte, sehnsüchtig die Wasserfälle, die man nur hörte und nicht sah, und, alles ausgleichend, der unablässig strömende Regen. In den Karrgeleisen der Straße zogen zwei triefende Pferde mühsam einen Wagen bergan. Hinter dem mit Hausrat beladenen Gefährt stapfte, die Geißel unter den Arm gesteckt, der Fuhrmann, der sich bemühte, aller Nässe zum Trotz, Feuer in seine Pfeife zu bringen. Herr Bäuwlin und seine Tochter hatten Vorsprung gewonnen. Sonderbarerweise hatten sie trotz Wetter und Finsternis die Straße verlassen und, das Dorf mit seinen zahllosen Lichtern umgehend, den Weg zur einsamen Steinernen Brücke eingeschlagen. Und nicht genug an dieser einfachen Umgehung des Dorfes! Herr Bäuwlin verschwieg seiner nachgerade doch müd einhergehenden Tochter, daß von der Steinernen Brücke die Straße in kurzem Zickzack wieder zu gewinnen war. Er führte sie über die Brücke noch weiter vom Dorf ab und durch die Schlucht dem Bach entlang, wo man sich durch Waldstreifen buchstäblich hindurchtasten mußte. Warum das? – Punktum, er wollte es so haben, und Lydia fragte nicht nach Gründen, da sie die Gegend gar nicht kannte, wohl aber ihren Papa. In Herrn Bäuwlins Seele trieb ein Bedürfnis nach Romantik sein Wesen. Je mühsamer und unheimlicher der Weg, desto behaglicher mußte seiner Tochter das neue Heim vorkommen. Das war sein Gedanke. Er erwartete die ängstliche Frage: 24 «Aber Papa, wo führst du mich hin?» Mit tiefer Genugtuung würde er geantwortet haben: «In ein Land, das ich dir zeigen will.» Die Frage kam aber nicht über Lydias Lippen, obschon sie längst auf ihrer Zunge bereit lag. Sie ahnte nicht, daß sie ihm mit solcher Frage diesmal eine Freude bereiten würde. Papa war sonst gegen jede Äußerung des Mißtrauens sehr empfindlich. Und warum sollte man ihm denn nicht auch hier in blindem Vertrauen folgen.

Es gab in dieser Schlucht Strecken, die den Zweifel aufdrängten, ob Herr Simeon sich diesmal nicht doch verirrt habe. In einem Tannendickicht, durch das der Weg im Bogen lief, wurde es so dunkel, daß der Fuß zwischen Wurzeln, Steinen und Löchern nicht weiter fand. Die beiden Wanderer schlossen ihre Regenschirme und tasteten damit nach den Stämmen. Aber sie stachen ins Leere. Und in dieses wesenlose Dunkel hinein schwoll aus nächster Nähe das Tosen des Wildbachs. War er eigentlich über die Ufer getreten? Im nächsten Augenblick mußte einem das kalte Wasser die Füße überspülen. Eine Hand faßte Lydias Lodenpelerine. Es hätte geradesogut eines Fremden Hand sein können; aber das Mädchen war nicht von denen, die in erster Linie an das Gruslige denken. Zögernd, tastend, strauchelnd kamen sie endlich wieder auf eine Strecke, wo der Weg sich unterscheiden ließ und der Schaum der Wellen die Dunkelheit durchschimmerte. Noch mußte man eine Strecke weit alle Sinne auf den Pfad spannen, dann zeigte sich endlich wieder eine Brücke, und der Weg führte, mit einem Geländer versehen, steil bergan. Das Tosen des Baches sank tiefer und tiefer und schwoll zu einem dumpfen Brausen ab, das endlich, als die Wanderer die 25 Straße wieder erstiegen hatten, im Rauschen des Regens unterging.

Man hatte nun nicht mehr so besonders auf den Weg zu achten. Da regten sich in Lydias Herzen wieder die Sorgen. Sie hatte sich zwar geschworen, alles, was sie quälte, zurückzulassen, und hier, in den Bergen, jeden Gedanken totzuschweigen, der, laut werdend, die Laune ihres Vaters zu trüben vermöchte. Aber darüber kam sie nun einmal nicht weg, daß dies Jahr die Mutter nicht mit in die Sommerfrische kam, sondern zu ihren Verwandten gezogen war, gerade heuer, wo man länger als sonst im Oberland zu bleiben gedachte. Es war zwar alles im besten Einvernehmen besprochen und beschlossen worden. Und doch... war etwas anders gewesen als früher. Am letzten Dienstag zum Beispiel, jenes Gespräch zwischen Vater und Mutter – eine Auseinandersetzung in gereiztem Ton war’s gewesen. Kein Zweifel. Bis jetzt kannte Lydia Zwiste unter Eheleuten nur aus Büchern oder allenfalls aus Berichten über das Leben armer Trinkerfamilien. Der Gedanke, daß bei ihren eigenen Eltern etwas Derartiges möglich wäre, hatte sie noch nie berührt. Und nun war es doch da. Zu heftigen Auftritten freilich war es nie gekommen. – Gott bewahre! – Aber wenn sie so rückwärts blickte, so stieß sie in ihren Erinnerungen da und dort auf Tage und Abende, die in peinlichem Schweigen verlaufen waren. Es hatte sich jedesmal um religiöse Fragen gedreht. Früher hatten die Eltern oft über solche disputiert; jetzt schon lange nicht mehr. Sie mieden derartige Gegenstände, weil sie einander nicht mehr verstehen konnten. Müde von dem beschwerlichen Marsch im Regen widerstand Lydia nicht länger. Still vor sich hinweinend, 26 folgte sie ihrem Vater. Und da der Wagen sie wieder eingeholt hatte und dicht hinter ihnen das Geschell der Pferde sich in das Rauschen des Regens mischte, merkte Herr Simeon auch nichts von dem leisen Schluchzen seiner Tochter. Wieder und wieder, wie ein am Rade hängengebliebenes Blatt, ging ihr jene Stelle des liturgischen Gebets durch den Kopf, welche die Leute, deren Klage vor den Menschen nicht laut werden darf, der Gnade Gottes anbefiehlt. Wie oft hatte Lydia diese Bitte von der Kanzel gehört! Immer hatten die Worte sie stärker berührt als so viele andere, die ihnen vorangingen oder folgten. Etwas Unbekanntes, Furchtbares hatte sie hinter diesen Klagen geahnt, aber der Sonnenschein ihrer Jugend hatte ihrem Auge die Sehkraft für das Dunkle in der Welt verwehrt. Und nun stand sie auf einmal mit diesen sonnegewohnten Augen mitten im Dunkel und fühlte sich als einer der Menschen, deren Klage nicht laut werden darf.

Ihre seelische Zerschlagenheit lähmte mehr und mehr auch des müden Leibes Kräfte, und sie stolperte, dem Zusammenbrechen nahe, neben ihrem Vater her, mit dem sie kaum mehr Schritt zu halten vermochte. Unter dem eintönigen Geräusch des Pferdegeschells und des klappernden Wagens verfiel sie in ein trübseliges Träumen, aus dem sie endlich aufgeschreckt wurde durch die erlösende Kunde:

«Aha, das Licht der Mutter Allenbach.» Es war Lydia kaum bewußt, wer das gesprochen hatte. Sie hob ihr matt gewordenes Haupt und sah in unbestimmter Entfernung vom Wege ein erleuchtetes Fenster am Berghang. Der Wagen stand still. Und alsobald huschte droben, neben dem erleuchteten Fensterchen, ein Lichtschein 27 in offenem Raum. Pfosten und Geländer traten als Schattenrisse aus der erleuchteten Laube, und ein blasser Schimmer lief über silbern triefendes Gras und blinkende Steine. Eine Frauengestalt trat ins Freie und hielt eine Laterne hoch. Noch galt es ein schwaches Hundert Schritte mit Vorsicht zu tun. Dann standen Vater und Tochter in der schützenden Laube. Und Lydias Hand lag in Schwand-Eisis Rechter wie ein aus der Irre gerettetes Kind in weicher Wiege.

«Ihr syd mir Lüt», begann die Alte zu spaßen. «Es ischt grad eis e chly naß hütt.» Dann hing sie die Laterne an einen Haken auf der Laube. Herr Simeon machte sich mit dem Fuhrmann unverweilt an die Bergung seines Hausrates. Unterdessen hatte Mutter Allenbach Lydia in die behaglich dämmernde Stube gezogen, wo ein sauber gedeckter Tisch mit ein paar blinkenden Tellern das Licht der Petrollampe auffing. Sie nötigte die Erschöpfte auf den Tritt des Kunstofens, zog ihr die kotbespritzten Schuhe und Strümpfe aus, rieb ihr die kalten Füße trocken und schob sie dann in weiche Filzfinken. Das Wenige, das sie dabei sprach, sagte sie mehr zu sich selbst. Sie hatte Milch über das Herdfeuer gesetzt. Sobald diese ins Aufwallen geraten und in den bauchigen Heimbergerhafen abgeschüttet war, trippelte sie in die andere Wohnung hinüber, um beim Einräumen Hand anzulegen. Die Stubentüre hatte sie mit dem Bedeuten ins Schloß gezogen, Lydia möge hübsch am Trocknen bleiben. Und obschon das Mädchen sich verpflichtet fühlte, dem Beispiel der Alten zu folgen, blieb es ein Weilchen auf seinem Ofentritt sitzen. Wie im Traum ließ es seine Blicke das Behagen der großen niedrigen Stube trinken, deren saubere Holzwände mit dem weichen 28 Lampenlicht erquickende Ruhe in den Raum zurückwarfen. Das Plätschern der freigebigen Dachrinne vor den Fenstern und das leise Knistern des Herdfeuers in der Küche verbanden sich zu einem seltsamen Hymnus auf den Hausfrieden.

Einschlafen aber wollte Lydia nicht. Sie raffte sich auf und begab sich zu den andern in die Wohnung, in der sie nun während Monaten ihrem Vater ein vielleicht nicht so leichtes Geleite durch die erzwängte Einsamkeit geben sollte. Bald war das Nötigste hergerichtet, so daß man sich zum Imbiß in Mutter Allenbachs Stube und hernach zur Ruhe begeben konnte. Daß es in den bezogenen Stuben noch sehr «provisorisch» aussah, war Lydia ein Trost. Das verhieß für die nächsten Tage Beschäftigung genug, um über die neu erstandenen Sorgen hinwegzukommen.


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