Auguste Supper
Muscheln
Auguste Supper

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Laufbahn des Helm Untersteg

Einmal in seinem Leben war Helm Untersteg »Wilhelm« genannt worden. Das war bei seiner Taufe gewesen, als ihm der lutherische Pfarrer das heilige Naß auf die Stirne geträufelt und dazu des schlummernden Bübleins klingende Namen verkündet hatte: Wilhelm Nathanael Gottfried. Seither hatte sich niemand mehr die Mühe genommen, so weitläufig zu sein, und das kurze »Helm« mußte genügen.

Und es genügte auch. Es lag so etwas Blankes, Wehrhaftes, Tatbereites und Gefestetes in dem Namen, wie es sich bald auch in dem Buben zeigte. Fremd der Lüge, fremd allen Winkelzügen, allen Ausflüchten und Seitenwegen, stand er von klein auf inmitten seiner Welt, einer der »reinen Toren«, wie sie immer wieder über die Erde gehen, bald da, bald dort.

Ja, wäre die Welt, auch diese engumgrenzte Kinder- und Knabenwelt, ohne Arg, ohne Hinterhalte, ohne Untiefen gewesen, hätte sie mit offenem Visier nur zu völlig ehrlichem Kampfe herausgefordert – Helm Untersteg wäre wohl einer der ruhmreichsten Kämpen gewesen.

So aber dachte manchmal die Mutter, die bei Helms, 143 ihres Jüngsten, Geburt schon nicht mehr jung und durch manchen Lebensernst hindurchgegangen war: Mein Büblein taugt schlecht für die unebene Erde. Er hätte vielleicht lieber drüben bleiben sollen bei den Ungeborenen. Es wird auf seinem Weg ein beständiges Stolpern, Hängenbleiben, Sichbeschädigen geben, wie er jetzt schon so oft mit Beulen und Wundmalen herumläuft. Wo andere sich ducken und winden, da geht er mitten hindurch, und wo es andere mit Schlauheit machen, da versucht er alles mit Tapferkeit.

Helms Vater war ein stiller, einfacher Mann, seines Zeichens ein Weber. Wenn das emsige Schifflein auf dem klappernden Stuhl herüber- und hinüberflog, so folgten ihm seine aufmerksamen Augen und sorgten für völlige Ordnung und für ein stetiges Wachsen des angefangenen Werkes. Diese Ordnung und diese Stetigkeit waren auch in den Gedanken des Mannes. Sie prägten sich aus auf dem ein wenig breiten, von einem dünnen Rundbart umrahmten Gesicht, sie leuchteten von der schönen, klaren Stirne und aus der ebenmäßigen, wohlgebauten Gestalt, sie umflossen den ganzen Mann und schufen eine besondere, den Menschen spürbare Luft um ihn her.

In der Zeit, ehe ihm seine Söhne geboren wurden – sie kamen erst nach zehnjähriger Ehe und dann drei nacheinander –, hatte der Weber Achatius Untersteg manchen verschwiegenen Kampf in sich ausgefochten. Sein lutherischer Glaube war ihm nicht nur, wie in der damaligen Zeit 144 so vielen, ein Besitz, den man in die Lade legen und hüten kann, sondern ein Sauerteig, der nicht ruht, bis alles durchsäuert ist. Oder ein Samenkorn, das nicht tot und allein bleiben, sondern Neues und Lebendiges aus sich hervortreiben will. Oder die Unruh in der Lebensuhr.

Der Weber war kein Stürmer und Neuerer um jeden Preis; aber etwas in ihm rang um jeden Preis nach Wachstum und Entfaltung. Er wurde der Leiter und Mittelpunkt einer kleinen, stillen Gemeinschaft. Aber bald schon spürte er, daß nicht alle Brüder Suchende waren. Ja, daß eine Sattheit und ein Genügen Platz griffen in dem abgeschlossenen Kreis, davon der klarschauende Mann sich nicht viel Gutes versprach. So legte er die Sache nieder und ließ es sich nicht anfechten, daß er dafür als ein Wankelmütiger, ein Lauer, ein Abtrünniger angesehen wurde.

Sein Weib war ihm wohl in allen Dingen des äußeren Lebens eine vortreffliche Gehilfin und Gefährtin. Aber in seinem inneren Leben und Erleben blieb er allein.

Als dann seine Söhne kamen, durchglühte ihn eine heimliche Freude und Sehnsucht, aus den Büblein möchten die Männer werden, die er sich manchmal als Gefährten träumte. Aber zwei von ihnen, die ältesten, schlugen mehr in der Mutter – an sich gewiß vortreffliche – Art. Sie wurden fleißige, sparsame und zu allen Dingen des bürgerlichen Lebens brauchbare und tüchtige Menschen, die ohne weiteres ihren Platz fanden und ausfüllten; der eine, älteste, 145 als ein geschickter Goldschmied, der zweite als ein Buchbinder und zugleich Einnehmer der städtischen Abgaben.

Erst der letzte zeigte den heimlich suchenden Blicken des Vaters manchen Punkt, an dem seine Hoffnung sich anklammern konnte. Nicht die Lauterkeit seines Wesens allein war es – die ging auch den beiden anderen nicht ab –, sondern die Art dieses Jüngsten, gewisse, oft nebensächlich erscheinende Dinge bis auf den Grund zu verfolgen, nichts gering zu achten, sich mit leeren oder vertröstenden Worten niemals abspeisen zu lassen und der Fragen – wenn oft auch nur der an sich selbst gerichteten, niemals laut werdenden – kein Ende zu finden.

Oft ruhten des Vaters stille klare Augen auf dem Buben, wenn er über einem Buch oder über einem Spielzeug plötzlich ins Nachdenken, ins Suchen kam. Man sah ihm dann, auch wenn er nichts fragte, fast greifbar deutlich an, wie er sich mühte, verschlossene Türen aufzutun. Dann ging es dem Weber durch den Sinn, daß vor Gottes Augen wohl kein großer Unterschied sei zwischen dem Büblein, das dem Geheimnis des brummenden Kreisels, und dem Manne, der dem Schwingen der Gestirne nachsann.

Und noch etwas war es, was den Weber in seinem jüngsten Sohn einen Gefährten seiner Seele und seines Geistes vermuten ließ. Das war die Liebe zur Musik oder, besser gesagt, zu der großen, für viele so gar nicht vorhandenen Welt des Klingenden. 146

Denn nicht nur, wenn die Zinkenisten vom Kirchturm bließen oder wenn Spielleute am Haus vorbeiwanderten oder wenn ferner Gesang von der Stadtschule herübertönte, horchte der Weber auf, sondern auch das Sausen des Windes, der Ruf eines Vogels, das Murmeln und Glucksen eines Baches klopfte ihm ans Inwendige. Und wenn bei den meisten Menschen der Reichtum und die Fülle der Welt zuvörderst durch die Augen ins Innere dringt, so leisteten bei dem Weber die Ohren ihr redliches Teil an diesem Werk. Wenn der fromme Mann sich das ewige, selige Leben ausmalte, so sah er nicht nur allen Glanz unausdenkbarer Schönheit, sondern er hörte ihn auch, obgleich er von Musik im gebräuchlichen Sinn nicht viel wußte oder gar verstand.

Sein jüngster Sohn, sein Helm nun hatte auch dieses Horchen auf alles. Und er hatte noch ein anderes dazu, das der Weber nicht hatte: daß er sich aus allem ein Instrument zu machen wußte, um Töne hervorzurufen. Die Mutter zwar und die Brüder schalten, daß Helm so gerne Lärm mache. Sie wußten und ahnten nicht, daß dieser Lärm etwa das gleiche war, wie wenn ein Maler ein Dutzend Farben auf die Palette bringt und sucht, mischt, probiert, bis er findet, was er braucht. Sie ahnten nicht, daß Helm bei seinem Tuten, Blasen, Streichen, Zupfen auf und an den unmöglichsten Dingen etwa wie ein Bergmann war, der mit dem Hammer Gestein abklopft, ob er wohl etwas Wertvolles finde. 147

Wenn sie ihn auslachten, weil sie sein Beginnen für ein verunglücktes Musizieren hielten, so sagte er erstaunt, daß er doch gar nicht Musik machen wolle, sondern daß er nur probiere, »ob es tut«. – Und es war ihm eine heimliche Freude, daß fast alle Dinge auf der Welt, wenn man es nur richtig angreift, auch »tun«, womit er »tönen« meinte.

Helm wuchs heran, ein tüchtiger Schüler, die Freude des gelehrten, hinkenden Magisters, der die Stadtschule mit viel Eifer und ohne Kleinlichkeit leitete. Es kam der Tag, da dieser Gestrenge dem Vater Untersteg sagte, es wäre sünd und schade, wenn sein Sohn Helm nicht einen gelehrten Beruf ergreifen und auf die hohen Schulen gehen dürfe.

Der Weber schüttelte den Kopf. Nicht um des Geldes willen – damals brachte sich manches blutarme Studentlein ohne viel Beihilfe durch –, sondern weil es ihm zuerst gegen den bescheidenen Sinn ging, daß sein Jüngster sich nach so hohen Dingen strecken sollte. Wenn er sich im Geist mit Helms Zukunft beschäftigte, so sah er ihn entweder als den Erben seines Webstuhls, wozu ihn sein klarer, auf Ordnung gerichteter Sinn tauglich erscheinen ließ, oder als Obmann der Stadtzinkenisten, in welcher geachteten Stellung er seine Freude am Klingenden und Tönenden hätte stillen können.

Aber in einer schlaflosen Nacht, als der Weber nach seiner Gewohnheit die Totenstille in seiner kleinen Kammer 148 und in der monddurchglänzten Welt draußen benutzte, um auf die allerleisesten und geheimnisvollsten Stimmen zu lauschen, da war es ihm, als sage solch eine Stimme: »Du mußt ihn ziehen lassen, den Helm! Ich habe ihn zu anderem ausgerüstet als zu einem Weber oder zu einem Zinkenisten.«

Den Schlaflosen schauerte ein wenig. Es war ihm immer, und auch jetzt wieder, ein herzbeklemmender Ernst, die aufklingenden Stimmen auch recht zu unterscheiden. Konnte nicht der eigene Wunsch oder gar der eigene Hochmut reden und die Worte, schlau und gewissenlos wie ein echter Verführer, ausgeben als von jenem Einen gesprochen, der fast immer stumm bleibt?

Aber nun klang es deutlich weiter: »Ich will ihm dann auch zeigen, wieviel er leiden muß um meines Namens willen.«

Da wußte der Weber, daß nicht sein eigenes, kleines Vaterherz die Rede getan hatte, sondern jenes viel größere, das in seinen Tiefen Raum hat für Unerforschlichkeiten wie die: daß die liebsten Kinder soviel leiden müssen.

*

Helm Untersteg zog aus, zu lernen auf den Schulen und überall da, wo es etwas für ihn zu lernen gebe. Zuerst probierte er es mit dem Studium der Rechte. Sein auf Ordnung gerichteter Sinn hatte eine hohe Meinung von diesem 149 aus dem Verlangen nach bürgerlicher, sittlicher, geistiger Ordnung heraus geborenen System, das so alt ist wie menschliches Zusammenleben.

Aber je tiefer er hineingeriet, desto kühler umwehten ihn die Lüfte dieser geistigen Welt. Er sah und spürte, wie da überall der ehrlichste Wille, die trotzigste Kraft, der kühnste Geistesflug nur Stückwerk leisten kann. All das endlose Mühen der Geister war da nur ein Kämpfen mit dem Flugsand, der täglich verschüttet, was täglich bloßgelegt werden soll. Er sah das Recht als das geheimnisvolle Zentrum der Welt, als den Kern des Alls, der hinter dem Feuerwall liegt, da niemand hinzukommen kann.

Als er zum erstenmal heimkam, da war sein Schritt nicht mehr so wanderfroh, sein junges Gesicht abgespannt, wie nach einem zu harten Weg.

Er mochte nicht reden mit dem Vater und konnte doch auch nicht schweigen. Neben dem Webstuhl setzte er sich auf die Bank, mitten in den Flachsstaub, der so seltsam nach Heimat, nach Frieden roch. Der Stuhl ratterte und schlug noch eine Weile, denn ein letztes Endchen war noch zu weben, dann drehte der Vater den Kopf: »Hast schon genug davon?« fragte er – sonst nichts.

Als aber der Sohn schwieg, da schüttelte sich der Vater die Flachsreste – Nägelein nannte er sie – von der Schürze und stand auf. »Helm, ich hab' es gewußt. Das kann dir nicht gefallen. Ein Notbehelf ist das Recht der 150 Rechtsgelehrtheit. Wenn ich das Häuflein Nägelein da auf dem Boden wollte Flachs heißen, es wäre nicht mehr gelogen, als wenn wir alle Rechte der Menschen Recht heißen. Das soll nicht gescholten sein. Es ist da nichts zu schelten. Es ist unser Los auf der Erde.« –

Helm Untersteg probierte dies und probierte das. Wer in der Heimat von ihm sprach – seine Brüder obenan –, der sagte, er werde wohl noch einmal an einem üblen Ufer landen.

Dann schwenkte er ein in die Gottesgelehrsamkeit. Vielleicht hätte es ihm auch hier nicht lang gefallen; aber ein paar Lehrer waren da, die sorgten, daß scharfe Luft wehte. Da wachte das Wehrhafte in Helm auf und das Blanke, und ehe er es sich versah, war er mit Leib und Seele bei der Sache.

Das Schönste aber an seinem Lernen, der Duft der Blume, war ihm, wenn er über die Berge heimwanderte, ein paar Bücher im Ränzlein und die Freude im Herzen, mit dem Vater reden zu können von höchsten und tiefsten Dingen. Oft packte ihn ein großes Verwundern über die Klarheit und Sicherheit des stillen Mannes; aber er wagte den Vater nie zu fragen, woher er dies alles habe. Er spürte, daß das hier so wenig am Platze wäre, wie wenn man eine Quelle im Walde fragte: Woher nimmst du dein Wasser? Denn was der Vater hatte und gab, das kam nicht aus einer dritten Hand, die man mit Namen benennen konnte, sondern 151 es war sein Wesen, in dem er sich selbst gab, wie sich die Quelle gibt in ihrem Wasser.

Die Ehrfurcht vor des Vaters Wissen, das ein Wissen war ohne Fußnoten und Literaturangaben, war es in erster Linie, die Helm so ehrfürchtig machte, wie jeder sein muß, der es in der Gottesgelehrsamkeit aushalten soll. Diese Ehrfurcht war es auch, die ihm den Blick auftat für Wesenhaftes und Unwesentliches und die ihn bald erkennen ließ, wieviel Unberufene und Unbefugte sich da tummelten, wo er gerne nur Berufene und Auserwählte am Werk gesehen hätte. Dieses Unterscheiden aber half ihm über die schlimmsten Klippen auf seiner Fahrt hinüber, und sein Vater blieb ihm der Lotse.

Es gingen ein paar Jahre. Helm Untersteg steuerte auf den Magister zu, und es war ihm manchmal, als spüre er jetzt, beim selteneren Heimkommen, dem Vater an, daß der ihm doch allerlei zu sagen habe, für das seither die Zeit noch nicht gewesen war. Als ob in ihrem Verhältnis zueinander ein Höhepunkt nahe sei, so fühlte er.

Da ging, wie ein nächtlicher Sturmstoß, eine Seuche durchs Ländchen, und der Vater starb.

Der Bruder Goldschmied hatte vier Wochen zuvor Hochzeit gemacht; der Buchbinder stand im Begriff, um seines Meisters Tochter zu freien.

So waren die beiden mit der kraftvollen Lenkung ihrer eigenen Lebensschifflein vollauf beschäftigt und hatten nicht 152 viel Zeit und Sinn, sich lange darüber aufzuhalten, daß das des alten Vaters in den Hafen eingelaufen war.

Die Mutter aber und besonders Helm starrten wie betäubt und benommen in das leere Kielwasser, das noch eine Weile glänzte und leise Wellen warf, ehe sich für die Augen alles wieder glättete.

Helm sprach mit niemand darüber, wieviel er verloren hatte. Nicht einmal mit der Mutter. Ja, vielleicht wollte er es vor sich selber verbergen, wie man eine Wunde instinkthaft vor der leisesten Berührung schützt.

Aber es graute ihm, zu seinen Büchern zurückzukehren. Sie kamen ihm vor wie ein Garten, dessen Früchte und Bäume wohl locken, aber in dem heimliche Fallen gelegt sind. Der Vater hatte von all diesen Fallen gewußt, hatte vor ihnen gewarnt, hatte sie aufgezeigt. Nun galt es, ungewarnt und unwissend durch die Gefahren zu wandern. Jene Sinnlosigkeit des Todes, die oft nach einem jähen Sterben wie ein Gespenst vor erschauernden Seelen aufsteigt, erschreckte auch den einsamen Helm bis ins innerste Mark und wollte sich wie eine Lähmung über ihn legen. Wozu leben? Wozu gar ein Pfarrer werden? Wozu immer wieder kämpfen gegen tausend Anfechtungen?

Er saß vor dem verwaisten Webstuhl. Draußen in der Küche hantierte die Mutter. Er hörte, wie sie die Töpfe vom Bord nahm und auf den Herd setzte. Ein irdener mußte es sein und ein eiserner; der eine gab einen klingenden, der 153 andere einen dumpfen Ton. Das unterschied er und wollte doch gar nicht darauf achten. Trüben Blickes sah er auf den Stuhl, dessen Schlagen und Rattern die Stimme, die Musik seiner Jugend gewesen und der nun verstummt war.

Ein grauweißer Zettel war noch aufgespannt. Die letzte Spur von des Vaters fleißigen Händen. Wer würde das Schifflein hindurchfliegen lassen, daß zu dem Zettel der Einschlag käme?

Es war ihm plötzlich ein peinigender Gedanke, daß die Fäden, die der Vater gespannt, durchschossen werden sollten von solchen aus fremden Händen. Wie eine Fälschung kam ihm das vor und wie ein Symbol dafür, daß der Vater ausgelöscht, daß über ihn hinweggegangen, hinweggelebt werden sollte. Mit magischer Gewalt zog es seine Hand an den hebelartigen Griff, der den Stuhl lebendig machte.

Ein Zittern lief durch die ganze Stube, durch Helms hohe Gestalt, als nun das Rattern und Schlagen begann.

Die Mutter trat auf die Schwelle. Ihr Gesicht war vom Weinen geschwollen. »Helm,« schrie sie auf, »ich habe geglaubt, der Vater sei wieder da.«

Helm konnte die Augen nicht heben. Das Schifflein zog seine Bahn wie ein Schicksal, das in Gang gekommen ist. »Ja,« schrie er in den Lärm hinein zurück, »glaube das nur, ich glaub's auch.«

Die Handgriffe machend, die er von Kind auf kannte, wob er an dem Zettel, den der Vater aufgeschlagen, und 154 sein Nahesein durchschütterte ihn. Der Webstuhl schlug. Es war ein Getöse wie viele Stimmen, die sich überschreien, die einander unter die Füße treten wollen. Und nun war es ihm, als hätte der Vater die eine Stimme, auf die alles ankommt, um die all der furchtbare Streit ging, herausgehört und verstanden, und er habe daher all sein Wissen und Wesen gehabt.

Ja – da war sie! Sie sprach. Nein – der Vater sprach!

»Helm,« sagte er, »Helm, du taugst ganz wohl zu einem Pfarrer und sollst auch einer werden. Die, die am besten horchen können, braucht man dazu. Stimmen heraushören und Stimmen hervorlocken, das ist's. – Ein lutherischer Pfarrer muß Ohren haben, dann wächst ihm von selbst alles andere zu. Wenn einer das Evangelium predigen will, dann muß er zuerst Gottes Botschaft hören. Die aber tönt aus allen Dingen und Zeiten, wenn man nur tief genug hineinhorcht in allen Lärme und in alle Stille.

Gott hat nicht nur eine einzige Art und eine einzige Wahrheit. Auf unzählbare Arten kommt Er, und Seiner Wahrheiten sind so viele, als ausgestreckte Hände da sind. – Werde du mir kein Rechthaber, Helm! Das ist das Lieblingslaster derer, denen der Buchstabe mehr ist als der Geist. Gottes Recht könnte dort liegen, wo du mit der Peitsche der Buchstaben hinschlägst. Suche es, suche Gott und sein Recht, wie du den schlafenden Klang in den Dingen suchtest, als 155 du noch ein Kind warst; ohne Ermüden, und allem Spott und allem Haß zum Trotz! – –«

Der Webstuhl ratterte fort und fort. Tausend Stäubchen stiegen von ihm auf und tanzten in dem Sonnenlicht, das durch die Fenster brach, und tausend Gedanken umspielten den jungen, versunkenen Weber.

Als nach einer langen Zeit die Mutter das Essen hereintrug, hatte der Sohn an des Vaters aufgeschlagenem Zettel eine halbe Elle leinenes Tuch gewoben. Was aber in seiner Seele geworden war, in der längst hundert Fäden vom Vater her gespannt gewesen, zu denen jetzt der unhörbare Einschlag hinzugekommen war – das ließ sich nicht mit der Elle messen.

*

Helm Untersteg hatte sich den Rang eines Magisters und gute Noten erworben und wurde ausgeschickt in ein Dorf auf waldiger, weiter Höhe, wo eine Gemeinde Lutherischer zwischen andersgläubigen Weilern, Dörfern und Höfen ein weltabgeschiedenes Leben führte.

Sein Pfarrhaus lag auf einem freien Plan, von Wiesen und Feldern umgeben, mehr abgesondert, als es dem neuen Hirten gut schien, denn er hatte einen redlichen Willen, inmitten der Herde zu stehen. Ferne Hügelketten grüßten über zackige Waldränder herüber, und von ein paar unsichtbaren Kirchtürmen kamen Glockenklänge, wenn guter Wind 156 ging. Sonst drangen nicht viel Stimmen der Welt in die Einsamkeit.

Helm Untersteg kam mit seiner Mutter, mit dem väterlichen Hausrat und dem Webstuhl. Über diesen verwunderte man sich, denn man meinte, der Pfarrer wolle das Weben nebenher zum Gelderwerb betreiben.

Zwar hatte noch jeder, der die Stelle versah, nebenher ein brottragendes Geschäft verstanden. Die Alten erzählten von einem, der kunstvolle Uhren machte, ein anderer war Bienenzüchter, ein dritter Holzschnitzer gewesen. Aber das Leineweben erschien doch allen als eine zu geringe Hantierung für ihren Pfarrer.

Sie fragten einander darüber, sie schüttelten ihre Köpfe, sie wurden nicht damit fertig.

Der greise Verwalter des örtlichen Kirchengutes, der Heiligenpfleger Matthias Lörcher, der selbst ein Bauer und Weber war, machte sich zum Sprecher für die anderen und fragte den neuen Pfarrer geradeswegs. Denn es war der einsamen Gemeinde, die sich immer beobachtet wußte oder doch beobachtet glaubte, eine fast peinliche Sache, daß ihr Seelenhirt sich mit Leineweben das Brot für den Leib verdienen sollte.

Aber Helm Untersteg beruhigte seine Leute. Er sagte ihnen, daß der Webstuhl mitgekommen sei, weil er ein Stück vom seligen Vater darstelle. Sein Schlagen, Schüttern und Rattern sei ihm, dem Sohn, wie die Stimme des 157 Heimgegangenen, aus der er vieles heraushöre. Darum sei es ihm eine Freude, dann und wann ein paar Ellen zu weben, so viel, als die Mutter in einem Winter Faden spinne, und wenn sie, die Bauern, dann und wann ein Stück zu weben hätten, so wäre es ihrem Pfarrer eine doppelte Freude, ihnen diesen Dienst tun zu können, denn die Arbeit gehe ihm flink und flott von der Hand, und das Pfarramt werde daneben nicht zu kurz kommen.

In jener Stunde hatte sich der Pfarrer ahnungslos den ersten Widersacher in der Gemeinde erworben, denn der Heiligenpfleger sah sich in seinem winterlichen Broterwerb bedroht durch einen Konkurrenten, der aus Freundlichkeit und Dienstwilligkeit tat, was der zünftige Mann nur ums Geld tut.

Helm Untersteg war trotz seiner Jugend ein stattlicher, in den Schultern breiter Mann, dem ein heller Bart ums frische Gesicht sproßte. Seine Augen waren von einer tiefen Klarheit; eine gütige, reine und dabei mutige Seele spiegelte sich darin wider, und wer hineinsah und keine lauteren Gedanken, keinen ehrlichen Sinn hatte, der schaute bald zur Seite und hatte ein Gefühl wie ein Gescholtener oder Ertappter. Und diese Gescholtenen und Ertappten kamen durch einen geheimnisvollen Zug irgendwie in die innere Nähe und Gefolgschaft des Matthias Lörcher, und es bildete sich schon früh eine Gruppe, die – obgleich sie das geleugnet hätte – dem Pfarrer innerlich widerstand und 158 ihn beschnüffelte und betastete mit dem Wunsch, irgend etwas Anrüchiges und Antastbares zu finden.

So fing Helm Untersteg zu predigen und zu wirken an in einem Kreis, in dem es Augen und Ohren gab, die das Üble wollten und auf das Üble lauerten; was Wunder, daß schon bald Dornenranken sich um seine Füße legten! Er, der Arglose, predigte und wirkte arglos; aber wo sind Menschenworte und Menschentaten, in die das Arge nicht seinen giftigen Samen streuen könnte, so daß Dinge mit aufgehen, die Ärgernis erregen!

Damals war es das üble Vorrecht derer, die sich nach Luther nannten, diesen freien Knecht seines Gottes auf eitel Buchstaben festzunageln, ihm die stolzen Schwingen mit Rechthaberei und Kleinlichkeit zu brechen, und die Enge und Armut des eigenen Geistes mit seinem Namen zu decken.

Helm Untersteg aber war ein Lutheraner von anderem, vom echten Schlag. Ihm waren durch den tapferen Gotteskämpen die Türen aufgetan, die aus Menschengemächte und Erdenmauern hinausführen in die ewig lebendige und darum ewig wechselnde Welt Gottes und des Geistes. Er fühlte sich auf einen Weg gestellt, dessen Verlauf kein Irdischer absieht; darum verstanden ihn bald die nicht mehr, die schon das Ziel und seine Ruhe zu haben verlangten und zu haben behaupteten. Und die anderen, die gern im Kreise liefen, die wollten ihn nicht verstehen.

Was sein Vater damals innerlich erlebt hatte, als er aus 159 seiner Gemeinschaft austrat: das Einsamwerden, das Zurückgeworfenwerden auf sich selbst, das erlebte jetzt auch der Sohn. Aber die Kraft und Frische seiner Jugend gab sich nicht so rasch geschlagen. Wo Enttäuschungen und Schmerzen an ihn herantraten, da hob er die Augen nach einer Ferne, in der er noch Freuden und Hoffnungen witterte. Konnte er nicht seine Gemeinde hineinführen, hineinreißen in sein eigenes inneres Leben, so doch einzelne, die ihm vertrauten, die einen Führer in ihm sahen. Er besann sich auf Namen. Es fiel ihm mancher ein, der nicht zu den Angesehenen, den Vorderen im Dorf gehörte. Was verschlug ihm das! Im Reich der Seelen und der Geister gelten nicht Strümpfe voll Geld und Ställe voll Vieh, auch nicht dörfliches Ansehen und Ehrenämtlein. So hielt sich der Pfarrer bald zu manchem Haus, an dem die ehrengeachteten Leute vorübergingen, und in keines kam er häufiger als zu der Emerentia Neubaurin, der Witwe eines Andersgläubigen, die nach ihres Mannes Tod in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war mit knapp so viel Geld, daß sie sich ein elendes Häuslein am Dorfrand, einen kleinen Acker und eine Baumwiese kaufen konnte.

Drei kleine Kinder und drei junge Geißen brachte sie mit. Von den Geißen gingen zwei drauf – man sagte im Dorf: weil sie auf einer fremden Wiese geweidet hätten –, von den Kindern starben zwei – man wollte wissen, daß das Weib sie schlecht pflegte. 160

Nun hatte die Emerenz noch eine Tochter, die war sechzehn Jahre alt und blind von Geburt.

Der Mutter Haar war schneeweiß, obwohl das Weib noch keine vierzig Jahre zählte. Das der Tochter hatte einen hellen, goldenen Glanz und hing in starken Flechten über des Mädchens schmalen Rücken. Mutter und Tochter hatten blasse Gesichter und breite, kluge Stirnen. Die Gestalten beider waren sehnig und hoch, aber zu schmal; es war, als sei jede Fülle hinweggemeißelt.

Helm Untersteg kam in dieses Haus erst, nachdem er schon ein paar Wochen im Dorf war. So unscheinbar und an den Boden geduckt lag es seitab und kehrte dem Dorf und den Menschen den Rücken, daß man eher einen Schuppen, einen kleinen Stall in ihm vermutete als eine menschliche Wohnstätte.

Aber als es der Pfarrer zum erstenmal umging und von der Vorderseite sah, da überkam ihn fast ein freudiger Schrecken, so, wie wenn sich ein mürrisches oder finsteres Gesicht plötzlich entwölkt und zu einem schönen, gütigen Lächeln verklärt hätte.

Eine Reihe blütenweiß verhängter, kleinwinziger Fensterlein ging hier heraus auf das sonnige Ackerfeld. Leuchtende Geranien und hängende Nelken lachten ins Licht, und die blanken Scheiben, die grüne Haustür glänzten vor Sauberkeit.

Als er dann eintrat und die hochgewachsene Frau in dem niederen, aber sonnenhellen Gemach aufrecht stehen sah, als 161 wolle ihr weißer Scheitel an die Decke rühren, da überkam ihn – er wußte nicht wie und warum – plötzlich eine große Befangenheit, als sei er ein unbescheidener und unerwünschter Eindringling.

Sie schaute ihn an mit stillen prüfenden Augen. Mit den Augen der Leidgewohnten, die dem Neuen nur zögernden Schrittes entgegensehen. Zögernd war auch ihr Gruß, zögernd und fast befremdet und nicht so freundlich und fast demütig, wie viele grüßten, bei denen Helm Untersteg doch spürte, daß ihre Herzen weit weg waren.

Der frische Sand knirschte auf den Dielen, als der Pfarrer nach der blanken Holzbank schritt, die sich an der weißen Wand hinzog nach einer Ecke, in der etwas stand, was man im Dorf sonst nicht in den Stuben fand: Unter einem großen, wie von Alter und Rauch gebeizten Kruzifixus aus braunem Holz war ein Betschemel.

Die Augen des Mannes weiteten sich. Er kehrte sich nun zu der Frau, deren blasses, müdes Gesicht plötzlich belebt aussah. Wie Kampfbereitschaft, wie Mut des Verteidigers leuchtete es aus ihrem Blick; aber als er in den des Pfarrers traf, zeigte sich's, daß da nichts zu verteidigen war.

Warm, freudig schaute der Mann auf das Weib. Dann deutete er in die Ecke. »Schön ist das bei dir, Emerenz! Es ist ein gut Ding, den Gekreuzigten in der Stube zu haben.«

Sie stützte sich auf den Tisch. Die aufgeflackerte Wehrhaftigkeit war in jähe Schwäche umgeschlagen. 162

»Der Neubaur ist gestorben auf diesem Schemel; ein Schlagfluß hat ihn weggenommen. Darum bleibt die Ecke, wie sie ist.«

»So ist er eines seligen Todes gestorben an des Kreuzes Fuß. Was sollen wir uns Besseres wünschen?«

Die Arme der Frau zitterten. Ihre hohe Gestalt schien zu wanken. Schwer ließ sie sich auf die Bank nieder, und der Pfarrer setzte sich neben sie. Seine Augen konnten das verräucherte Bildwerk mit dem abgenutzten Schemel davor nicht lassen.

Auf einmal griff er nach der zerarbeiteten Hand der Frau, die auf ihrem Knie lag. »Emerenz, du hast viel gelitten; aber er litt vielleicht noch mehr.«

»Ja,« klang es erstickt dagegen, »er hat ja am allermeisten gelitten.«

»Ich denke jetzt nicht an den Heiland, ich denke an den Neubaur, an deinen Mann.«

Es wurde eine tiefe Stille in der Stube. Man hörte nur, wie der bunte Distelfink in seinem Holzkäfig von einem Stängchen auf das andere hüpfte und leise zirpte, wie im Selbstgespräch.

»Ja,« murmelte jetzt die Frau, »wir hätten es nicht tun sollen.«

Der Pfarrer drückte ihr die harte Hand und sagte nichts.

Da begann sie wieder: »Er war gut katholisch, und ich war gut lutherisch – wir hätten es nicht tun sollen.« 163

Helm Untersteg senkte den Kopf und sagte nichts.

Sie zog ihre Hand zurück und legte sie in die andere wie zum Gebet.

»Er hat wollen bei seinem Glauben bleiben, ich bei dem meinen, da kann's nie ein Zusammenkommen geben.«

Der Pfarrer sagte immer noch nichts.

Ihre Stimme wurde schärfer. »Meine zwei Büblein hab' ich müssen katholisch taufen lassen, nur meine Ursel ist lutherisch. Daß sie blind ist, sei die Strafe dafür – hat es geheißen.«

»Hat das auch der Neubaur gesagt?« fragte rasch der Pfarrer.

Sie gab nicht sogleich Antwort. Wie gequält klang es dann: »Gesagt hat er es nicht. Aber ich meine, er hat es manchmal geglaubt. Umgetrieben hat es ihn, an ihm gefressen hat es – dort ist er manche Stunde gekniet.«

Sie deutete nach dem Betschemel.

Da stand Helm Untersteg langsam auf und ging in die Ecke. Das alte Bildwerk sah er an, das nicht gerade hohe Kunst, aber doch von einer inneren Wahrheit war, als hätten fromme, ehrfürchtige Hände daran geschnitzt.

»Du,« sagte er zu dem Gekreuzigten, »was hast du dann dem Mann gesagt, wenn er kam mit seiner Last?«

Es knirschte im Dielensand. Das Weib stand neben Helm Untersteg. Sie sahen beide auf das Heilandsbild.

Hinter ihrem Rücken fing plötzlich das schöne Vöglein 164 klingend und jubelnd zu singen an, daß die Stube wie mit heller Froheit erfüllt war.

»Ja,« kam es leise aus des Mannes Mund, »du wirst ihm etwas ganz Helles gesagt haben, denn in dir hat das Dunkel menschlicher Zänkerei nicht Raum. Du weißt nur von einer ganz großen Liebe, durch die alles atmet und lebt, vom glänzenden Sonnenball bis zum Wurm in der Erde. Daß diese große und für ein Menschenhirn unausdenkbare Liebe dein und unser aller Vater ist, das nur weißt du, und von dem allein wirst du mit dem Mühseligen und Beladenen auf diesem Schemel hier gesprochen haben – –«

Der Vogel schmetterte jetzt so laut, daß des Pfarrers flüsternde Worte darin untergingen.

Das Weib trat an das Bauer und öffnete das Türlein. Als hätte er nur darauf gewartet, huschte der Distelfink heraus, flatterte ein paarmal durch die Stube und setzte sich dann auf des Heilands dornengekrönten Kopf. Emerenz machte eine scheuchende Bewegung. »Laß,« sagte Helm Untersteg, »die Kreatur schändet den Herrn nicht. Das tun nur wir, wir treten ihm täglich aufs Herz.«

Sie blieben lange ganz still vor dem Bild. Das Vöglein drehte das Köpfchen, blähte sein prächtiges Gefieder auf, schlug mit den kleinen Flügeln und zeigte auf jede Weise die Freude, von der es erfüllt war.

»Siehst du,« sagte der Pfarrer leise, »das Tierlein trägt ihm sein Glück herzu; wir schleppen ihm nur immer unsere 165 Lasten her, wenn wir nicht gleichgültig oder blind an ihm vorübergehen.«

»Woher soll ich sie nehmen, die Freude?« – murmelte nach einer Weile das Weib.

Helm Untersteg drehte ihr langsam das Gesicht zu. »Ist das dein Ernst, daß ich dir das sagen soll?«

Sie senkte den Kopf und schwieg.

Da setzte sich der Pfarrer wieder auf die Bank, und seine Finger griffen nach einem kleinen, mit ein paar Saiten bezogenen Brettlein, das da wie zufällig liegen geblieben war. Als hätte er alles ringsum vergessen, fing er an, den Saiten mit leisem Zupfen Töne zu entlocken, dann fragte er eifrig: »Wie kommt das daher?«

»Es ist der Ursel ihr Zupfbrett. Ihr Vater hat es ihr gemacht, als sie noch ein kleines Dinglein war, und seither mag sie's nicht mehr lassen.«

»Zu was hat es ihr der Vater gemacht?«

Das Weib wunderte sich der seltsamen Frage. »Nun, daß sie darauf zupfen soll und Freude haben.«

»Freude haben! Also der Neubaur hat Freude verschenken können? Er ist also nicht immer als ein Beladener einhergegangen?«

Die Augen des Weibes glänzten auf. »Seine Kinder hat er arg lieb gehabt.«

»Danach habe ich nicht gefragt. Ich meine, ob er Freude zu verschenken hatte?« 166

Sie schaute ihn ratlos an und schwieg.

Helm Untersteg lachte. »Da weißt du nichts zu sagen. Aber spüren tust du, daß das ein Ding ist: Liebhaben und Freude die Fülle haben, so daß man noch davon verschenken kann. Ich sage dir, Emerenz: Darum ist die Liebe die größeste unter ihnen, weil sie allein so reich macht. Neben allem Glauben und allem Hoffen her kannst du sein wie ein armer Hungerleider, der sich und anderen kein Fünklein Freude schenken kann. Hat dir das nie jemand gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf und schaute an dem eifrigen Mann vorüber.

»Dann bist du auch nie in Wahrheit vor dem Kreuz gestanden, und der Neubaur, der dort auf dem Schemel gestorben ist, hat doch die besseren Pfarrer gehabt,« sagte Helm Untersteg fast hart.

Sie fuhr sich über die Stirn. Ihre Augen wurden blank. »Von denen hat er's nicht gehabt, das Liebhaben. Gehetzt haben sie an ihm und ihm die Hölle geweissagt. Wir hätten ein Leben haben können wie die Engel im Himmel, wenn wir allein auf der Welt gewesen wären.«

Leise lachte der Mann, und seine Finger zupften auf dem Brettlein, daß kurze, rasch verklingende Töne laut wurden, denen das Vöglein mit eifrigem Piepen antwortete.

»Wenn das wahr ist, Emerenz, dann freue dich! Denn Gott der Herr wird all das einmal von deiner und des Neubaurs Schuldliste abziehen, was den anderen auf die 167 Rechnung zu setzen ist. Jeder wird dann so dastehen, wie er wäre, wenn kein fremdes Böses ihn beschmutzt hätte. Es wird eine schwierige Abrechnung sein, ich weiß wohl. Aber schon ehe du dir den Todesschlaf aus den Augen gewischt hast, wird sie fertig sein. Dort drüben sind klare Verhältnisse. Und wenn ihr zwei hier waret wie die Engel im Himmel – kein Gott und kein Teufel und am wenigsten ein römisches oder lutherisches Pfarrerlein wird euch drüben die Flügel stutzen!«

Der Distelfink fiel jetzt wieder mit seinem schmetternden Lied ein, als hätten ihm die Worte wohlgefallen, und er müsse seine Zustimmung ausdrücken.

Das Weib aber hatte Augen voll Unruhe. Etwas klang ihr aus Ton und Worten des Besuchers entgegen wie jenes leise mahnende Rütteln, das einen Schläfer sanft und mit dem Wunsch, ihn nicht zu erschrecken, aus dem Schlaf erwecken will, dieweil die Zeit zum Aufstehen da ist.

Das war der erste Besuch, den Helm Untersteg im Häuslein der Emerenz machte. Die junge Ursel war, wie sie oft und gern tat, davongegangen, um draußen die aufsteigenden Lerchen, den einsamen Bussard, den trommelnden Specht, den kreischenden Häher zu belauschen.

Sie ahnte nicht, daß da nach langer Zeit, ja seit des Vaters Tod, einmal wieder ein Mensch bei ihnen eingetreten war, der Stimmen hörte wie sie, und noch viel mehr als sie. Denn was zu ihr drang, kam alles von selber; aber 168 jener Mann schlug die Stimmen heraus aus Menschen und Dingen.

Durch die Feldbreite, die das Dorf umrahmte, lief eine Bodenwelle, eine mäßige Erhöhung, von der kein Mensch wußte, auf welche Weise sie entstanden war. Vielleicht waren von uralten Zeiten her die aus den Äckern gelesenen Steine hierhergetragen worden, wie die Angrenzer sie immer noch neben der Welle aufschütteten; oder es war, wie einige sagten, eine Gräberreihe da unten – man wußte es nicht und dachte auch nicht darüber nach.

Aber das gab zu denken, daß der Pfarrer ein paarmal mit der blinden Ursel Neubaur da draußen saß, und daß er einmal sogar auf ihrem kleinen Zupfbrett Musik machte.

Kindereien seien das, sagte der greise Matthias Lörcher, und andere sagten, es sei noch Schlimmeres.

Still, du zischende Schlange!

Helm Unterstegs Mutter starb. Sie war eine tätige und eine kluge Frau gewesen. Aber seit ihres Mannes Hingang lag eine Dämpfung über ihrem ganzen Wesen. Sie war wie eine welkende Blüte, die die Blätter einrollt und von allem draußen nicht mehr viel wissen mag.

Wäre es nicht so gewesen, sie hätte vielleicht manches beachtet und eingerenkt, was ihr Sohn nicht zeitig einrenken konnte, weil er es, frei dahinschreitend, gar nicht beachtet hatte. 169

In dem verwaisten Haushalt schaltete jetzt eine Magd, der es recht einsam war in dem abgelegenen Haus und die ihre Freunde und ihre Freuden suchte, wo sie sie finden konnte.

Sie war nicht ohne Treue, ohne Anhänglichkeit für ihren Herrn; aber ihr zerfahrener Sinn entbehrte der Zucht, die von der Gestorbenen ausgegangen und unmerklich durch das ganze Hauswesen geströmt war. Langsam zermürbte die vorher so straffe Ordnung; dagegen knüpften sich zwischen dem Pfarrhaus und dem Dorf Fäden an, von denen Helm Untersteg nichts wußte und an denen er schwerlich eine Freude gehabt hätte. Er ahnte nicht, daß jetzt viel mehr, als zu der Mutter Zeiten, vom Dorf her in sein Leben hereingetastet wurde und daß seine Häuslichkeit vielen wichtig war, die nach seinem Amt kaum fragten.

Es warteten nun alle, daß er eine Frau nähme. Er spürte das, und sie sagten es ihm mit all dem Freimut, den sie in den Angelegenheiten anderer aufbrachten.

Er fühlte sich davon gepeinigt und wußte nicht recht warum. Sie hatten ja recht, die Drängenden; doppelt recht, wenn ein lutherisches Pfarrhaus zwischen so viel Pfarrhöfen der Andersgläubigen stand. Da war es eigentlich mehr als eine private Angelegenheit, daß eine Frau in sein Haus käme.

Und doch wehrte sich seine Seele gegen das Ansinnen. So viele Schicksale, so viel fremdes Leben und Erleben lag ihm 170 auf dem Herzen; – er hatte nicht den Mut, dazwischen Platz zu schaffen für etwas Eigenes, das so viel Raum einnahm, Raum einnehmen mußte, wie eine Heirat. Er glaubte den Sinn der Ehelosigkeit zu durchschauen, wie die Besten ihn auffaßten.

An seine Brüder dachte er, die längst Frauen und Kinder hatten. War deren Leben nicht ganz in sich und ins Eigene zusammengerollt wie eine Uhrfeder? Da war kein freies Ausschreiten mehr ins Weite; alles, was sich strecken wollte, mußte wieder zurückschnellen. Um des leisen Zerfalles willen, den er nachgerade selbst unangenehm im Hauswesen spürte, mußte er doch keine Frau nehmen? Da ließ sich doch auf eine leichtere Weise abhelfen?

Er feilschte mit sich selbst, mit dem eigenen Gewissen, und wie ein ganz ferner, hauchzarter Ton kam auch von seinem Herzen her eine Einrede, die er damals noch gar nicht verstand und nur wie ein Träumender hörte. –

In die Hütte der Emerenz Neubaur trat er und fragte die Weißhaarige, ob sie ihm nicht wenigstens eine Zeitlang das Hauswesen führen wolle?

Er tat diese Frage mit dem vielleicht kaum bewußten Gedanken, der Frau in ihrer großen Armut ein Glück ins Haus zu tragen. Mußte sie sich nicht unsäglich mühen, um für sich und die Blinde den Lebensunterhalt aufzubringen? Wieviel leichter würde sie es bei ihm haben, wo wenigstens fürs liebe Brot immer gesorgt war! 171

In ihrer steilen Größe, die der seinen fast gleichkam, stand die Frau vor dem Besucher. Durch ihre stillen Augen, über ihr blasses Gesicht ging es wie eine Woge der Unruhe. Abwehrend hob sie die Hand. »Daß's Gott erbarm, Herr Pfarrer, es wär' nicht das Rechte.«

Ohne Verständnis sah er die Erregung und sah, wie ihre Augen nach der Ecke glitten.

»Du darfst ihn mitnehmen, deinen Herrgottswinkel.«

Sie schüttelte den Kopf. Ein kurzes, schattenhaftes Lächeln spielte um ihren strengen Mund, wie man über eines Kindes schöne Torheit lächelt. »Nicht um das ist's,« sagte sie und sah sich um, als ob sie etwas suche. »Die Ursel kennt hier jeden Tritt. Im Häuslein kann sie der Augen entraten. Woanders ist sie hilflos.«

»Sie soll nicht lang hilflos sein bei mir. Ihr kluger Sinn kennt sich rasch aus. Wie eine Schwester will ich sie führen.« Warm klang die Stimme, die das sagte.

»Aber sie ist Eure Schwester nicht,« entgegnete mit merkwürdiger Härte die Frau und sah dem Mann fest ins Gesicht. »Siebenzehn ist sie – bald achtzehn –.«

Er lachte. Es war noch ein ganz freies und helles Lachen. Aber auf einmal brach es ab. Auf einmal trug Helm Unterstegs frisches Gesicht den Stempel der Unfreiheit, der seither nie darauf gelegen hatte. Zu dem Vöglein im Käfig wandte sich der Mann. Und dann reichte er der Emerenz die Hand. »Also dann nicht,« sagte er und ging. 172

Ganz tief in der Furche lag ein Körnlein. Es schwoll und quoll. Ein Keim brach hervor, drängte ans Licht und wuchs und wuchs.

Wie oft war der Pfarrer der blinden Ursel draußen begegnet, wenn sie ihre einsamen Gänge machte, auf denen sie nach ihrer Weise und wie es ihr junges Herz verlangte, die Schönheit der Welt ertasten und erhorchen wollte! Ein schmerzvolles Erbarmen hatte er gespürt, einen heißen Wunsch, ihr zu helfen, für sie mit den eigenen scharfen Augen zu sehen, ihr zu erschließen, was ihr sonst verschlossen war.

Sie war immer scheu, immer abweisend, immer unzugänglich gegen ihn gewesen. Wie einen Eindringling in ihre Welt betrachtete sie ihn, das spürte er wohl. Aber daß er das Gute für sie wollte, das trieb ihn immer wieder auf ihren Weg. Er warb um ihr Zutrauen, er suchte den versteckten Pfad, der durch die Stacheln ihrer ablehnenden Herbheit in ihr Innerstes führte. Er fand ihn, indem er in die Fußstapfen ihres toten Vaters trat.

Das kleine Zupfbrett mit den paar Saiten lenkte ihn. Er machte aus dem dürftigen Instrumentlein ein vollkommeneres und schuf damit dem Mädchen eine hohe Freude.

In dieser Freude schmolz ihre Scheu. Ihr Herz tat sich dem Manne auf, als sei ihr in ihm der Vater wiedergekommen. Nicht anders. Wenn sie jetzt seinen Schritt hörte, wanderte sie ihm entgegen; wenn sie seine Stimme 173 vernahm, lachte sie; und wenn sie in der Kirche saß, meinte sie, seine Predigtworte gelten ihr besonders.

Sie blühte auf wie eine Pflanze, zu der die Sonne gekommen ist. Ihr reiches goldenes Haar war nicht das einzige Schöne an ihr; ihre blassen Züge, auf denen – wohl durch die geschlossenen Augen – ein merkwürdiger Frieden, eine wunschlose Gelassenheit lag, hatte etwas Edles an sich, das zu der schlanken Gestalt gut paßte.

Helm Untersteg beachtete lange nicht, wie Ursel Neubaur aussah. Sie war ihm die Ärmste der Armen im Dorf; und sein ganzer Sinn, sein ganzes Wesen verlief und verausgabte sich in einem lebendigen Dienen. Aber seit das Körnlein in der Furche keimte, das die Emerenz gestreut hatte, kam in seine Augen ein neuer Blick. Nicht einer des Begehrens. Viel eher einer der heimlichen Scheu, des Bangens und des Prüfens.

Und er sah, daß die Ursel kein Kind mehr und daß sie schön war.

Trotz erwachte in ihm: Was verschlug ihm dies neue Erkennen! War ihm gefährlich, was er seither doch gar nicht gesehen, an was er mit keinem Gedanken gestreift hatte? Trug er etwa ein unsauberes Herz in der Brust? War er ein Gewissenloser?

Wie um sich auf die Probe zu stellen, um sich selbst recht zu durchschauen, traf er jetzt öfter mit dem Mädchen zusammen. 174

Auf jenem Wall in der Feldbreite saß sie oft und gerne mit dem groben Wollstrumpf, an dem ihre schlanken Finger strickten. Sie liebte die Sonne wie eine Eidechse, von denen viele ringsum in dem warmen Steingeröll lagen.

Von seinem einsamen Haus aus war es gar nicht weit dorthin, und manchmal, wenn Helm Untersteg eigentlich hatte hinter seinen Büchern bleiben wollen, zog es ihn fort. War das der Versucher? War es ein guter, war es ein böser Geist, der ihn zog? Er selbst meinte jedenfalls, es sei sein Wille, sein wehrhafter Manneswille, der sich aufschwinge und hinwegsetze über niedrige Verdächtigung. Konnte es etwa dem ewigen Geiste, vor dem er stand und dem er diente, mißfallen, wenn zwei junge und reine Menschen in der grünen, weiten, nur vom Jubel der steigenden Lerchen erfüllten Einsamkeit saßen und von den lautersten Dingen aufs lauterste redeten? Konnte es diesem ewigen Geist ein Ärgernis sein, wenn der Sehende allen Reichtum, den seine scharfen Augen in der sommerlich erblühten Welt sammelten, der Blinden hintrug, damit auch sie Anteil daran habe und sich innerlich das aufbauen könne, was für die anderen, die Glücklicheren, äußerlich aufgebaut war von einer unerforschlichen Schöpfergüte?

Konnte der ewige Geist grollen, wenn ein Mann ein Mädchen nicht mied, nicht in seine alte Armut, seine alte Dunkelheit zurücksinken ließ, trotzdem die Jahre gingen und aus dem kümmerlichen Kind eine Erblühende machten? – 175 Wo lag für ihn, Helm Untersteg, ein vernünftiger und gerechter Grund, eine zureichende und einleuchtende Ursache, die Ursel Neubaur heute zu fliehen oder fliehen zu müssen, die er doch gestern und ehegestern noch wie ein krankes Lämmlein von Amts wegen hatte suchen dürfen und suchen sollen?

So rechtete der Pfarrer in seiner rechtlichen Seele und merkte dabei nicht auf das, was in seinem Mannesherzen mit aller Macht emporwuchs, und noch weniger auf das Wuchern der bösen Dinge im Dorf.

Wie zuletzt der Knoten sich vollends schlang – niemand wußte es.

Helm Untersteg war angeklagt als einer, der seiner Gemeinde schweres Ärgernis gegeben hatte.

Zum ersten hielt er nicht auf reine Lehre und lutherischen Kultus, lutherische Bräuche. Herrgottswinkel und Betschemel duldete er, und vom Bekenntnis war nie bei ihm die Rede. Auch sein häßliches Leben mit einer unordentlichen Magd gab Ärgernis. Am meisten aber die Sache mit Ursel Neubaur, der Blinden.

Wuchtig, wie schwarze Kolosse wankten die Anklagen auf dem Papier daher, Ungetüme aus der Unterwelt. Dazwischen schoben sich lächerliche Spukgestalten, Mißgeburten der üblen Phantasie übler Gehirne: die Anklagen wegen lästerlichen Aberglaubens, als ob der Pfarrer in seinem Webstuhl mit seinem toten Vater rede; er selbst sollte das 176 mehr als einmal gesagt haben und noch mehreres andere von derselben Art dazu, zum Exempel von Stimmen in dem, das nicht lebt, und von Predigten aus Gottes eigenem Mund, die oft zu ihm kämen. –

Helm Untersteg war zur Verantwortung geladen.

Als er das lange, vielfach versiegelte Schreiben auftat, ging eben hinter dem fernen Wald die Sonne hinab. Glut färbte den Himmel, das noch von des Tages Hitze flimmernde Feld und des am Fenster lehnenden Mannes Gesicht.

Die Dämmerung des hohen Sommertages war lang, aber als die Nacht sank, stand Helm Untersteg immer noch und starrte hinaus, wo nichts mehr zu sehen war.

Oder sah er doch etwas? Sah er etwa seine seitherige Welt verwüstet und in Trümmer geschlagen? Sah er alle seine Saaten in den Grund gestampft, seine Hoffnungen, seinen Glauben, seine Liebe in den Schmutz gerissen von rohen Händen?

Er wußte, oder er glaubte zu wissen, daß viele im Dorf seien, die nicht teil hätten an der hinerhältigen Tat. Aber wenn er nun die Reihen durchging, um nach Freunden zu suchen, dann gab es da ein Straucheln, dort ein Zweifeln. Der Schlag ins Gesicht, den er bekommen hatte, war auch in die Augen gegangen, daß sie nicht mehr klar schauten, daß er dem eigenen Blick nicht mehr traute und trauen konnte. 177

Und auf einmal lachte der Mann, der da im Dunkeln stand, laut auf, wie einer lacht, dem die Bitterkeit bis an den Hals geht.

In jener Nacht schimmerte Stunde um Stunde ein Lichtschein aus dem Pfarrhaus.

Helm Untersteg saß und schrieb seine Verantwortung. Es war ein seltsames Schreiben und wurde ein seltsames Schriftstück. Immer wieder ruhte die Feder, und des Mannes Blick ging ins Raumlose. Ja einmal, in der tiefen Nacht, wanderte das Lichtlein hinunter in das Erdgeschoß, wo der Webstuhl in einer sonst leeren Kammer stand. Schon griff des Mannes Hand nach dem belebenden Hebel, da fiel ihm ein, daß die Magd müde sein werde vom Tagwerk und daß den Schlummer eines Müden stören, Sünde tun heiße.

Aber seinen Kopf lehnte er an das Gestänge wie ein Lauschender, der in eine ferne Tiefe hineinhorcht.

Zuletzt, nach vielem Zögern und nach mancher Hemmung, glitt beim Morgengrauen des Mannes Feder so eilig übers Papier, daß der Kiel unwillig kratzte. Helm Untersteg lächelte. Es fiel ihm ein, wie sein Vater, der selten schrieb und eine schwere Hand hatte, dem selbstgeschnittenen, oft ungebärdigen Kiel mit guten Worten zuzureden pflegte: »Schreibe nur, du tust nichts Übles, solang ich dich regiere.«

»Schreibe nur,« murmelte der Pfarrer, »du tust nichts 178 Übles.« Und auf seinem übernächtigen Gesicht stieg etwas empor wie ein stolzes Getrostsein, eine überlegene Ruhe.

Sein Schreiben aber war ein einziges langes und ausführliches Geständnis, daß von den Punkten der Anklageschrift jeder einzelne wahr sei. Er gab zu und begründete, daß ihm Luthers Lehre, Kult und Bekenntnis untergegangen sei, weil er auf dem von Luther gewiesenen Weg den lebendigen Meister und an seiner Hand die ewige tragende Kraft selbst, den Gott Himmels und der Erde, gefunden habe. Es seien ihm seit dieser Zeit die Augen weit aufgegangen und das Herz noch weiter, so daß er auch von den kultischen Gebräuchen der Andersgläubigen viele gut und schön finde und nicht mehr den Mut habe, zu verdammen, was anderen heilig sei. Denn der Menschen wahrhaftige Ehrfurcht und ungeheucheltes Gefühl für Heiligkeit sei wie der Duft der Blumen, von denen jede ihren eigenen habe und jede den eigenen verströme zur Ehre eines Schöpfers, der von der Blüte des Grases nicht verlange, daß sie wie eine Rose dufte, oder umgekehrt.

Dann kam er an den Punkt, der das Hauswesen anging. Auch da war er ein Geständiger. Er hatte selbst längst gespürt, daß die gute und feste Ordnung, die zur Zeit der Mutter geherrscht, ins Zerbröckeln gekommen war, wie eine Mauer, aus der man erst ein paar Steine und Steinchen löst, die dann aber von selbst immer mehr zusammenbricht. Er hatte Einhalt tun, hatte die fleißige und reinliche 179 Emerentia Neubaurin überreden wollen, ihm den Haushalt zu führen. Aber diese rechtschaffene Frau wollte nicht, weil da eine Gefahr war.

Als der Schreibende so weit gekommen war, ließ er den Kiel fallen und stützte den Kopf in die Hände. Und dann zitterten seine Arme, ja ein Zittern ging durch den ganzen Mann; es war, als ob ein unhörbares Schluchzen ihn schüttelte.

Mußte er auch das schreiben, auch das gestehen wie eine Schuld und als eine Schuld, was aus wogenden Nebeln, aus keuscher, kühler Morgenfrühe schimmernd auf ihn zutrat und ihn erfüllte mit nie gekannter süßer Seligkeit?

Er schaute auf. Seine Augen waren gerötet von den Qualen der Nacht. Das erlöschende Lämpchen qualmte neben ihm. Und draußen hinter dem fernen zackigen Waldsaum, wo gestern die Sonne hinabgesunken, leuchtete jetzt wieder ein himmlischer Glanz, ein Widerschein des im Osten aufsteigenden Tagesgestirns.

Da reckte er die Arme und nahm den Kiel und schrieb, daß er Ursel Neubaur, die Blinde, liebe von ganzem Herzen und so rein und gut, wie ein Mann ein Weib nur lieben könne. Ein Unrechtes aber sei nie und nimmermehr zwischen ihm und dem Mädchen.

Als er solchergestalt das Wuchtigste in der Anklage stolz und frei zugegeben und zugleich aus dumpfer Stickluft 180 in die helle Sonne gestellt hatte, machte er sich noch daran, das übrige kriechende Gewürm zu erledigen.

Auch da verfuhr er wie bei den größeren Punkten. Alles gab er zu, vom Reden mit dem toten Vater im Getöse des Webstuhls bis zu den eigenen Predigten Gottes, die zu ihm sprächen.

Indem er aber niederschrieb, was ihm das starke Herz erfüllte an Erfahrungen und an erlebten Wirklichkeiten, die je und je aus einer unsichtbaren geistigen Welt zu seinem Geiste herkamen in lächelnder Fülle, da empfand er plötzlich mit schmerzhafter Deutlichkeit, daß dies Dinge waren, die man weder schreiben noch sagen könne, ohne ihnen Gewalt anzutun, ohne ihr zartes leuchtendes Wesen zu verdichten und zu verdunkeln, so daß sie etwas anderes wurden. Wie ein leicht schwebendes Wölklein zu schwer fallenden Tropfen wird, wenn ein kalter Hauch es überströmt.

Ein tiefes Leid überkam ihn. So, als hätte er auf einmal das Schicksal des Irdischseins, des Menschseins in seiner ganzen Dunkelheit begriffen. War es nicht ein Leben in Regionen, in denen alles Zarte, Lichte, Strahlende sich verdichten und verdunkeln muß wie unter einem Kältestrom?

Und die, deren Wuchs höher ging, so daß sie die Region der Schwere und der Kälte unter sich ließen, die mußten dann wie Lügner, wie Narren, wie Ketzer sein, wenn sie erzählten, was ihr Erleben war!

Die Bitterkeit in ihm schwand. Ein Mitleid, ein 181 Verstehen für die Verständnislosen wachte in ihm auf. Er begriff, daß eine Raupe auf eine andere Wirklichkeit schwört als der Schmetterling. Und daß er oft zu Raupen gesprochen, unter Raupen geatmet und gelebt hatte, als seien es schon Schmetterlinge.

Nicht die anderen klagte er jetzt mehr an, sondern sich selbst. Als draußen der erste Morgensonnenschein auf den reifenden Feldern, den tauigen Wiesen lag, da streute er Sand auf das Schreiben, in dem er seine Behörde bat, ihm den Abschied zu geben, denn er sei zum Pfarrer verdorben.

Dann warf er den Kiel weg, hob die Arme hoch über den Kopf wie einer, der Dem da droben ein Opfer unter die ewigen Augen hält, und ließ dann die Hände sinken.

Eine Stunde später war ein Bote unterwegs mit einem vielfach gesiegelten Schreiben.

*

Die Alten erinnern sich noch, daß ihre Großväter oder Großmütter erzählten von Helm Untersteg, der als ein Pfarrer ins Dorf kam, danach wegen falscher Lehre und anderen Dingen vom Amt getan wurde und als Leineweber anfing.

Er muß ein Besonderer gewesen sein, denn sein Bild lebte so stark in den Herzen, daß sich, trotzdem Geschlechter gekommen und gegangen waren, der Name nicht verwischen wollte. 182 So arm sollte er gelebt haben wie der Herr Jesus; aber auch so guttätig wie der, so frei und ohne Menschenfurcht.

Sein Weib war blind, eine Blindgeborene, deren Eltern irgendwie gesündigt hatten. Schön sei sie gewesen, sehr schön; aber scheu vor den Leuten und nur zutraulich zu ihrem Mann. Sie habe Musik machen können wie die heilige Cäcilie, die drüben im Nachbardorf in der Kirche an die Wand gemalt ist.

An der Geburt eines Knaben sei sie gestorben.

Ihre alte Mutter habe dann den Knaben gewartet, bis das große Sterben durchs Land ging, an dem damals die Kinder reihenweise dahinsanken, wie reife Ähren vor der Sichel.

Da nahm es auch das Büblein.

Aus dem Hüttlein aber, in dem Helm Untersteg mit der Alten hauste, muß etwas ins Land hinausgegangen sein, was kein Mensch recht begriff. Ein geheimnisvoller Zug, der viele herzulockte; wie ein Geruch, den niemand wahrnimmt, manche Falter aus der Ferne locken kann.

Nicht in Scharen und lärmend kamen die Menschen. Still, einzeln, scheu, oft auch gebeugt, wie Beladene, schlichen sie sich herzu.

Aber wenn sie gingen, trugen sie die Köpfe hoch wie Pflanzen, die nach langem Dürsten ein himmlischer Regen erquickt hat, so daß sie die Richtung wiederfanden, die ihrem Wachstum vermeint war. 183

Es war nicht etwa eine neue Sekte, die sich da auftat. Auch nicht für ein bestimmtes Bekenntnis sprudelte der heimliche Quell. Päpstliche kamen, um zu trinken, und Lutherische. Es waren solche, die herbstes Erleben so geführt hatte, daß auch das Bekenntnis hinter ihnen zurückblieb, wie die Grenze der heimischen Markung, wenn erst einmal die Reise ins Weite beginnt. Niemand hatte für die Bewegung, die von der armen Hütte am Dorfrand ausging, einen Namen.

Nur die Spötter, die so manches Mal, ohne es zu wissen und zu wollen, der Mund einer verborgenen Wahrheit sein müssen, sie nannten Helm Untersteg und seine Zuläufer »die Heilandsbrüder«.

*

Noch keine vierzig Jahre war er alt, da saß an einem schwülen Sommerabend Helm Untersteg draußen am Wall. Dort war er oft, und es hieß, er rede da mit den Toten, die seit uralten Zeiten unter den Steinriegeln lägen.

Ein schweres Wetter zog herauf. Jenes berüchtigte, von dem die Kunde ein paar Menschenalter hindurch nicht erlosch.

Vielleicht dachte der Mann, seinem groben und ärmlichen Wams könne kein Regen und kein Hagel etwas anhaben.

Er saß, als die Blitze aus den gelben Wolken zuckten, als der Sturm über das Dorf fegte, als der Hagel die Fluren zerschlug. 184

Er saß, als die Nacht sank und als der Tag weinend und grau emporstieg. Er saß, bis sie ihn suchten und nichts mehr von ihm fanden als eine leere Hülle, aus der der Schmetterling entflogen war.

Seine Stirne war zerschrammt und blutig vom Hagel, auch seine Hände zeigten blutende Male. Eine tödliche Wunde aber trug sein jugendstarker, unentstellter Körper nicht.

War es der Blitz, der flammende Finger des Allerhöchsten, der ihn angerührt? Sein ernstes, friedevolles Gesicht und sein geschlossener Mund gaben keine Antwort, schlichteten nicht mehr den heimlichen Streit zwischen denen, die da sagten, Helm Untersteg sei ein Gerichteter, und den anderen, die ihn einen Sieggekrönten nannten.

Zu Ende war seine Laufbahn, um anderwärts zu beginnen.

 


 


 << zurück