Auguste Supper
Muscheln
Auguste Supper

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gedenke der vorigen Zeiten!

Wir sind kurzlebig und von heute, daran ist nicht zu rütteln. Aber dabei ist es recht merkwürdig, wie rasch wir in die Zeitentiefe hineinkommen, sobald sich nur ein paar Generationen die Hände reichen. Doch fehlt so vielen der Sinn für dieses Rückwärtsblicken und Rückwärtsgreifen. Sie lassen das Vergangene hinter sich liegen als eine wirre, unklare Masse, die sie nichts angeht, und mit der sie in ihrem fortstürmenden Leben nichts zu schaffen haben.

Toren sind sie, die so denken. Sie gleichen einem Ring in der Kette, der im Wahn lebt, nirgends eingefügt zu sein. Irgendwie oder irgendwann spürt man ihrem Wesen an, daß ein Irrtum und eine Verarmung in ihnen ist, von der sie selbst nichts wissen.

Reich aber und der Quelle zu vergleichen, die aus der Tiefe steigt, sind manche Menschen, bei denen der Sinn für die Zeiten der Väter ganz besonders ausgebildet und durch günstige Umstände gefördert ist.

Zu ihnen zählt Ilse Guthaar, die Malerin, die sich tapfer und immer heiter ihr Brot verdient und dabei noch reichlich Muße findet für Geschichten. Denn Geschichten 117 sind ihr zeit ihres Lebens so wichtig und lieb wie das tägliche Brot gewesen.

Ihr Großvater war der erste, der dem frühverwaisten Mädchen von den vorigen Zeiten erzählte.

Er war ein frommer, schon sehr alter, vom Leben und vom Nachdenken gebeugter Mann, vor dessen Seele die Vergangenheit ausgebreitet lag wie ein vertrauter Garten, in dem er von Blume zu Blume, von Baum zu Baum schritt.

An einem klaren Märztage vor vielen, vielen Jahren ist er mit seinem Vater von dem Dorf, in dem dieser Schultheiß war, über Wiesen und Äcker der stundenfernen Stadt zugewandert, um bei einem reichen Tuchmacher, den sie kannten, den Stoff zu kaufen für seinen Einsegnungsanzug.

Er erinnerte sich wohl noch an den Frühlingsgeruch, der aus den Ackerschollen stieg, an die Veilchen, die in kahlen Hecken dufteten, und an die Gänseblümchen auf den kaum ergrünten Wiesen.

Ja, er wußte noch, daß der Vater leise schalt, weil auf der weiten Markung seines Dorfes nicht alles in musterhafter Ordnung war, weil der Jakob Beiter den Mist zu dünn ausgespreitet und der Michel Ohngemach so krumm gepflügt hatte.

Aber all dieser Ärger schwand dann dahin, als man auf die Markung des Nachbardorfes kam, wo alles noch weit schlechter bestellt war. Der Vater schritt schnell aus, denn 118 er war ein gar rüstiger und temperamentvoller Mann. Doch sprach er nicht viel an jenem Frühlingsmorgen und war meist trüb in sich selbst versunken.

Als Vater und Sohn oben am Rand der Hochebene standen, von wo es steil hinuntergeht in die kleine Stadt am grünen Fluß, da läutete eben die Mittagsglocke, und man sah sie hin und her schwingen durch die Lucken am grauen Kirchturm.

Sie nahmen ihre Kappen ab, und der Vater sagte: »Verhüt' Gott, daß sie bald Sturm läute!«

Dann ging es hinunter ins Tal, wo die fleißigen Gewerbsleute, die Tuchmacher, Färber, Gerber, Strumpfwirker, ihre friedliche Hantierung trieben.

Über der Stadt und über der ganzen Welt aber lag trotz des Frühlings ein dunkler Flor. Die Leute in den Gassen waren nicht freudig und fröhlich bei ihrem Werke. Alle hatten sie etwas Scheues und Gedrücktes wie die Vögel, wenn ein schweres Wetter am Himmel steht.

Als Ilses Großvater mit seinem Vater bei dem Tuchmacher eintrat und von dem Festkleid, das sie kaufen wollten, gesprochen wurde, da seufzten die Männer und sahen sich an, als solle ein Totenhemd eingehandelt werden.

Der Bub aber, der sich so gerne gefreut hätte auf das neue Gewand, das stattlich zu werden versprach, wie er keines zuvor getragen hatte, er spürte wohl, daß solche Gefühle nicht am Platze waren, daß alles Freuen in diesen Tagen 119 nur wurmstichig und angekränkelt sein konnte. Kaum daß die ganz Unmündigen noch hell in den Tag hinein lachten.

Vom Tuchmacher ging es dann weiter über die schöne, alte Steinbrücke, die den grünen Fluß überspannt und auf der eine zierliche Kapelle des heiligen Nikolaus sich seit ein paar Jahrhunderten im Wasser spiegelt.

Der Großvater pflegte zu sagen, an jenem Tag habe er es diesem Wasser nicht angesehen, daß es viele Jahre später wildschäumend, gelbweiß und wie kochend daherschießen würde, entwurzelte Bäume, zerrissene Flöße, Bretter und Balken auf dem Rücken tragend. Und er habe nicht geahnt, daß das spitzgiebelige Haus am Flußufer, aus dem an jenem Märztage ein blondköpfiges Büblein mit Erbsen in das Wasser schoß, daß dieses Haus mitsamt dem zum Manne gewordenen Büblein an dem Hochwassertag im August in den Fluten verschwinden würde.

Vater und Sohn gingen in die innere Stadt, wo die Gassen steil und eng sind. Über einen Marktplatz mit zwei alten steinernen Brunnen kamen sie an der Kirche vorüber, die nüchtern und ohne Schmuck, aber merkwürdig ehrenfest und verläßlich hinter den noch kahlen Linden hervorsah. Die Grundfesten dieser Kirche und ein großer Teil ihres Gemäuers hatten viel schweres Unheil überdauert. Brand, Raub, Plünderung waren über sie hereingebraust; da kann man schon nüchtern werden und keinen Wert mehr legen auf Schmuck und Zierat und dafür gewappnet und auf 120 alles gefaßt in die Welt sehen. Nicht weit von der Kirche wohnte ein halbtauber Gold- und Silberschmied. Dorthin lenkten die Zwei ihre Schritte, denn es galt, die Schuhschnallen für den Konfirmanden zu kaufen.

Und wieder gab es, als die Männer miteinander handelten und die vorgelegten Waren prüfend musterten, ein bedrücktes Seufzen, ein trübes Nicken mit den Köpfen. Und als Ilses Großvater, vom Glanz und von der Größe eines besonders schönen Schnallenpaares bestochen, danach griff, da stießen sein Vater und der Silberschmied zur gleichen Zeit einen leisen Ruf des Schreckens aus, und der Halbtaube rief: »Nein, nein, Büble! Das sind keine Schnallen für die jetzigen Zeiten! Ja – wenn Gott uns einmal den Buonaparte vom Hals nimmt –«

Denn das war's, was dazumal so bedrückend in der Frühlingsluft lag – »der Buonaparte«, der sogar den Leuten in dem weltfernen Städtlein am grünen Fluß und den Bauern auf der windbestrichenen Hochebene wie ein Alp den Atem benahm und jede Freude vergiftete.

So weiß also Ilse aus einem lebendigen, nun allerdings auch längst verstummten Mund von dem Gewaltigen, der wie ein Sturmwind Gottes über die Erde brauste.

Der Vater des Großvaters, der gestrenge Schultheiß, ist dereinst als Husar mit einem steifen Zöpflein im Nacken in das Dorf eingeritten, das er später als Hochgebietender regieren sollte. Das Zöpflein aus Haaren fiel bald, als der 121 Mann sein bürgerliches Amt antrat; aber eine merkwürdige Mischung von Zopfigkeit und Husarengeist muß allen Berichten nach dem Schultheißen geblieben sein bis an sein seliges Ende.

Selig war sein Ende. Er saß im Armstuhl am Ofen. Auf dem eisernen Ofenrand neben ihm stand ein Gläschen mit süßem Wein, seine birkene Dose voll braunen Tabaks und eine kleine Schatulle, die er sonst nur Sonntags aus der Lade zu nehmen pflegte. Kleine Stiche und Schattenrisse waren darin und gilbende Briefe und ein Strähnchen ergrauenden Haares.

Eingeschlafen fand man ihn. Die Haarsträhne seines verstorbenen Weibes hielt er in der Hand, und die Briefe lagen wie eben gelesen neben der Schatulle. Er muß gemeint haben, es sei Sonntag, der Alte. Und er blieb bei seiner Meinung. Wenigstens tat er die Augen zu keinem Werktag mehr auf.

Wenn Ilses Großvater über seinen Vater, den Husaren, hinweg tiefer in die Vergangenheit hineindachte, so stieß er, als sei das nur so ein kleiner Katzensprung, auf den Siebenjährigen Krieg. Er hatte nämlich auch seinen Großvater noch gekannt und sich von ihm erzählen lassen. Ein Messerschmied war dieser Großvater gewesen, ein wortkarger, fast finsterer Mann, vor dem sich seine Enkelkinder fürchteten. Aber wenn er auf den großen Preußenkönig zu sprechen kam, dann blitzten seine Augen auf, und sein Mund wurde 122 beredt. Und einmal im November, als der Mann mit seinem ältesten Enkelsohn – eben mit Ilses Großvater – über Feld ging, da blieb er auf einem Hügel stehen und sah lange in die Ferne. »Büblein,« sagte er dann und drückte dem Enkel die kleine Hand, daß er meinte, es müsse Blut aus den Nägeln laufen, »Büblein, heut vor fünfzig Jahren hat der Fritz bei Roßbach uns kannibalisch verhauen.«

»Euch auch?« fragte der Bub.

»Ja,« antwortete des Großvaters Großvater, »mich auch, denn ich war dazumal bei der vermaledeiten Reißausarmee, bei der alle Lumpen vom Heiligen Römischen Reich fochten.«

»Aber Ihr seid doch kein Lump,« sagte da mit Überzeugung das Büblein. Und nun ist das Große geschehen, das Ilses Großvater nie wieder vergessen hat sein ganzes Leben lang, und das auch machte, daß ihm jener Auftritt, und was dabei geredet wurde, wie eingeschmiedet in der jungen Seele haften blieb, so daß er ihn seiner Enkelin genau erzählen konnte: der finstere Mann, der den großen Fritz erlebt hatte, er stand auf dem Hügel im Novemberwind, und zwei Tränen rollten ihm langsam übers Gesicht.

Was die Tränen bedeuteten, wo ihre verborgenste Quelle war, das hat das Büblein, das sie rinnen sah, nie so recht ergründen können. Eines aber steht fest, daß von jenem Tag an der Enkel einen besonderen Stein im Brett hatte beim 123 sonst so unzugänglichen Großvater, ja, daß von da an der wortkarge Mann oft auftaute und Dinge erzählte, die vorher tief in ihm verschlossen gewesen waren und die eben deshalb haften blieben in dem lauschenden Enkelsohn, weil ihnen anzuspüren war, daß sie nicht obenher rieselten wie seichte Wässerlein, die bald kommen und rasch versickern.

Eine der merkwürdigsten Geschichten dieser Art war die, die der Messerschmied von seinem eigenen Vater zu erzählen wußte. Eine Treppenstufe tiefer in den Schacht der Zeiten hinein führt sie zu den leibhaftigen Türken.

Bei Peterwardein unter Eugen und dem Prinzen Alexander von Württemberg focht dieser Ahn Ilses. Er hatte das Handwerk eines Bäckers erlernt, aber die scharfe Backofenhitze ließ ihm allzuleicht das Blut sieden, und so lief er einmal in einer hellen Mondnacht einfach davon und seinem Glück nach, das er in der Ferne zu finden hoffte. Einen Zettel legte er in die Backmulde, darauf stand geschrieben: »Aufs Kneten und aufs Knutschen ist nicht mein Sinn gestellt, die Hosen zu verrutschen, geh ich jetzt in die Welt.«

Es muß dem Abenteurer sonderbar genug gegangen sein, denn als er nach langen Jahren wieder bürgerlich und seßhaft wurde, ein Weib nahm und Kinder hatte, konnte er denen manchen Schnick-Schnack erzählen und vormachen, wie nur Zigeuner, Seiltänzer, Bärentreiber es verstehen. Aber von der Schlacht bei Peterwardein sprach er immer ganz ernsthaft. Wie da an einem Sommermorgen, der voll 124 Klarheit aufzog, plötzlich gegen sieben Uhr ein Höllenlärm losging, davor einem die Haut schauderte.

Er selbst, der Johann Kaspar Guthaar, den man im ganzen Bataillon nur den guten Kaspar nannte, war eben daran, ein gewaltiges Loch, das er sich in die Hose gerissen, mit guter Manier wieder zuzunähen. Sein Freund, der Franz, der ein gelernter Schneider war, stand daneben und krümmte sich vor Lachen, weil der Bäcker die Nadel hielt wie einen Rührlöffel.

Als sie sich so aufzogen und gegenseitig schlecht machten, ging die Hölle los. Man wußte, daß es heute zur Schlacht kommen sollte; aber die Stunde war allen verborgen gewesen. Gut so! Der Kaspar zog die Nadel aus dem Faden und steckte sie in den Dreispitz, ließ den Riß in der Hose Riß sein und dachte: Ei denn, wenn schon die Hölle los ist, so will ich mir jetzt einen artigen Teufel fangen, den kann ich später abrichten wie einen Tanzbären. – Und es war ihm ganz wohl bei der Sache. Da sah er per Zufall dem Schneider Franz ins Gesicht, das in gewöhnlichen Zeiten bläßlich und voll von großen Sommerflecken war, es hatte sich auf einmal so gewandelt, daß Ilses Ahn die Haare aufstiegen vor Schrecken und einem unnennbaren Entsetzen. Denn es war dies kein richtiges Gesicht mehr, sondern ein hohler Knochenkopf, ein Schädel, von dem das Fleisch und das Leben fort war. Aber gerade nur eines Augenblicks Länge sah es so schrecklich aus, dann war wieder alles wie sonst; ja der 125 Schneider lachte über den halbgeflickten Riß, so daß der Ahn meinte, er müsse sich getäuscht haben. Doch konnte er der sonderbaren Sache nicht nachdenken, denn der Höllenlärm war nichts anderes als die Musik der andrängenden Janitscharen. Wie es dann kam, das wußte der gute Kaspar nicht. »Denn,« pflegte er zu sagen, »so eine Schlacht ist, wie wenn der Herrgott am Brotteig wäre. Oder es mag auch der Teufel sein. Aber wer es auch sei: mit einem gewaltigen Griff fährt er hinein, drückt, knutscht, knetet, daß das Unterste zu oberst und das Innerste nach außen kommt.«

Johann Kaspar Guthaar kam erst wieder zur Besinnung, als die Türken in voller Flucht gegen die Save hin waren. Da sah er sich um, wo wohl der rote Franz geblieben sei, denn es war ihm doch, als hätte ihn eben eine kecke Hand an dem Hemdzipfel gepackt, der zu dem Riß in der Hose herausging.

Aber da war kein Franz weitum, und er ist nie wieder unter den Lebendigen gesehen worden.

Bei Peterwardein liegt er begraben. Wer will aber das glauben, was der Bäcker dann noch hinzuzusetzen hatte: daß in der Nacht nach der Schlacht der Riß in seiner Hose geflickt worden sei, so fein und säuberlich, wie nur ein Schneider es könne. –

Ein paar Monate später war der gute Kaspar dabei, als dem Prinzen Eugen der geweihte Hut und Degen 126 überbracht wurde, den der Papst dem Helden sandte, weil er der Christenheit den Türken vom Hals hielt.

Das war vor Wien, als die Extrapost mit der Abordnung durch den großen Wald fuhr, in dem damals sich allerlei verdächtiges Gesindel herumtrieb. Johann Kaspar Guthaar war unterwegs, nicht um die Boten seiner Heiligkeit etwa zu führen oder zu geleiten, sondern um sich den Kopf im Walde zu verlüften. Denn er war viele Wochen lang an den Pocken krank gewesen.

Schön war er nicht in jenen Tagen, sein Gesicht war noch rot und verschwollen und voll Narben von der bösen Krankheit. Aber er sah wieder hell aus den Augen und freute sich seiner Genesung und der wiederkehrenden Kraft. Er horchte auf den Wind, der durch den Wald ging, und auf das spätherbstliche Rauschen und Rieseln der fallenden Blätter, die ringsum zur feuchten Erde tanzten. Und in diese leisen Waldgeräusche hinein hörte er dann das Nahen jener Reisekutsche, die die päpstlichen Herren barg. Da blieb er stehen unfern vom Wegsaum, wartete und spähte.

Als aber in der Ferne die Gäule auftauchten und er sah, daß es vier waren, da dachte er, daß da vornehme Herrschaften daherkämen, denen er mit seinem verunstalteten Gesicht keine böse Schaustellung geben wolle. Und er schlüpfte aus keinem anderen Grund denn aus zarter Rücksicht hinter einen Baum und spähte verstohlen auf den Weg und dem Wagen entgegen. Aber der Postillon auf dem Kutschbock 127 und ein kleiner, bleicher, welscher Kerl, der daneben saß, die mußten wohl einen kaiserlichen Grenadier nicht von einem Straßenräuber unterscheiden können, denn als sie an den Standort des versteckten Mannes kamen, da feuerte mir nichts, dir nichts der Postillon seine Pistole gegen den Wegrand ab.

Da ist aber dem tapferen Ahn der Zorn gekommen. Er trat hervor und war mit einem Sprung neben den Gäulen. Den vorderen Handgaul packte er und schrie: »Ei, Gotts Donner! Glaubet Ihr, wenn einer gegen den Türken stand unter dem Eugen und in des Prinzen Alexander Bataillonen, der lasse auf sich knallen wie auf eine Scheibe am Schützenstand? Verdamm mich Gott, das soll der Eugen wissen!« –

Und wie er so wetterte und schrie aus seiner neuerwachten Kraft heraus, und die Herren im Wagen hörten, daß er sich auf den Eugen berief, wie der Apostel Paulus auf den römischen Kaiser, da guckte ein gepuderter Kopf durch den Wagenschlag, und eine Stimme rief: »Mitnehmen den Mann – mitnehmen!« Der Ahn ließ den Gaul los und dachte schon: Ei gut! Ist mir recht! Komm ich vierspännig heim.

Aber wie ihn der Gepuderte am Kutschenschlag von Angesicht sah, tat er einen leisen Schrei. Etwas Welsches rief er dem Postillon zu, der hieb auf die Gäule ein, als gelte es, dem Teufel aus den Klauen zu kommen. 128

Am andern Tag hat der Ahn von der großen Ehre gehört, die dem Prinzen Eugen vom Papst widerfahren ist. Er hat auch den Reisewagen in einem Schuppen der Hofburg stehen sehen und sich in den müßigen Zeiten, die er damals hatte, nach dem Postillon und dem bleichen Welschen auf dem Bock und den fremden Herren erkundigt. Da hat er vernommen, daß die ganze Kommission an den Pocken krank liege. Ein Scheusal sei ihnen vor den Toren Wiens in die Zügel gefallen und habe sie angehaucht.

Der Ahn aber, der wohl wußte, was es mit dem Anhauchen für eine Bewandtnis hatte, er lachte damals, daß ihm der Atem ausging und dachte, daß das des Himmels Strafe sei dafür, daß ein Postillon auf einen kaiserlichen Grenadier schoß, der gegen die Türken gefochten hatte.

Das sind die Geschichten, die Ilses Großvater von seinem Großvater, dem früheren Messerschmied, erzählen hörte, nachdem diesem damals im November das Herz für seinen ältesten Enkel aufgegangen war. Bis zu den Türken führt die Kunde von Mund zu Mund in die Tiefe des Zeitschachtes hinein.

Dann geht es noch eine Stufe tiefer, aber nicht kraft mündlichen Erzählens. Ein altes, vergilbtes und stockfleckiges Papier besitzt die Ilse, das hütet sie wie einen Schatz. Und steht doch nichts Erfreuliches darin.

Die verschnörkelte und etwas verblaßte Schrift ist sehr schön zum Ansehen. Man meint, eine wohlgepflegte, 129 gewandte Hand auf den Quartblättern liegen und mit gutgeschnittenem Kiele die Zeichen schreiben zu sehen. Aber schwer zu lesen ist die Sache. Viel Schnörkel, viel Rankenwerk, viel Unnötiges und Zweckwidriges überwuchert das Ganze. Hat man dann mit Mühe und Not den Sinn herausgebracht, so möchte man fast lieber, die krause Wirrnis hätte sich nicht wegschieben lassen, und all das böse Vergangene wäre verhüllt geblieben unter des längst vermoderten Schreibers kunstvollen und prächtigen Schnörkeln. Aber wir dürfen nicht so feig sein, den Blick wegzuwenden von schlimmen Zeiten. Denn unseres eigenen Wesens Wurzeln treiben hinein und hindurch durch diese dunklen Schichten, und wir können nichts Besseres tun, als möglichst aufmerksam hinsehen.

In diesem Papier steht von einer Frau, die Theresia Katharina Nohl hieß. Und der Mann mit der schönen Handschrift war ein Gerichtsbeisitzer, der nicht amtlich, sondern, wie es ausdrücklich heißt, »zu seiner Kurzweil und Gedächtnis« sich aufzeichnete, »was es mit der Theresia Katharina Nohl, einer geborenen Schweikerin aus Wetzlar, für ein bös End genommen.«

Es ist, nach jener Schrift, schon jedermann verwunderlich gewesen, daß der Nohl, der reiche Tuchhändler, eine Fremde nahm und in sein stattliches Haus am Marktplatz der schwäbischen Stadt als Herrin einführte. Auch war sie übermäßig jung für eines gesetzten Mannes Eheweib. So 130 sehr, daß man sie eher für die Tochter ihres Eheherrn hätte halten können. Aber es tat lange niemand eine schiefe Rede gegen sie, denn man sah wohl, daß der Sebastian Nohl nichts Trauteres kannte als seine Theresia. Er hat auch ihr zu Ehren einen dreieckigen Erker an sein Haus gebaut, »davon man in alle Gassen sehen konnte.« Und einen Turm in seinem Garten auf dem Klettenberg. Steinern und mit Gucklöchern versehen war der Turm, und es hieß, die Nohlin habe ihn so gewollt, weil sie von den Gucklöchern aus den Rhein erblicken könne, wie er gegen ihre Heimat floß.

Es scheint, daß mit jenem Turm das große Elend für das junge Weib anfing. Denn es war ein unerhörtes und für niemand verständliches Unterfangen, sich in einen friedlichen Garten einen steinernen Bau zu stellen, der wie ein drohender Wartturm ins Land sah. Die Mauerreste davon liegen jetzt noch auf dem Klettenberg in einem Kleeacker, der Ilses Onkel gehört, und man sieht wohl, daß es ein ganz stattlicher Bau gewesen sein muß. Man heißt den Platz jetzt seltsamerweise »am Rheinblick«, obgleich man weder von den Mauerresten aus den Rhein sieht noch sehen könnte und obgleich kaum mehr jemand von der Theresia Nohlin von Wetzlar weiß.

Also am Rheinblick oben stand damals der Turm inmitten des weiten Nohlschen Gartens, und die alte Schrift weiß darüber zu sagen, daß er aus groben Blöcken von rötlichem Stein gefügt war, und daß er »völlig unterschiedlich 131 war von einem gemeinen Lusthaus, das man in den Garten stellt«. Nun ist es aber heute und allezeit etwas vom Schlimmsten, Dinge zu tun und zu lieben, die »völlig unterschiedlich vom Gemeinen« sind. So hat die junge, landfremde Nohlin sich mit ihrem Turm Not und Tod auf den Hals gezogen.

Sie ist wohl gern einsam gewesen und hat auf der lustigen Höhe oben dem Brausen des Windes gelauscht, wenn er um ihren Turm heulte. Auch hielt sie sich Tauben, Falken und Dohlen daselbst, denn sie war eine Freundin der Vögel; vielleicht weil sie hart an Heimweh litt und ihren Lieblingen zutraute, sie könnten auf ihren Schwingen Grüße nach dem Rhein tragen. Sie hatte keine Kinder, da hegte sie wohl viel unverbrauchte Liebe im Herzen, die sich der gefiederten Schar zuneigte, die den Turm bevölkerte. Aber von all dem wußten die Leute in der Stadt nichts. Unbekannter, fremder, ferner, als sie heute sich sind, waren sich in jenen Tagen die Menschen. Sie spürten nicht das Brüderliche, das wie ein Traum an ein fernes, gemeinsames Vaterhaus nach und nach unter uns aufzudämmern beginnt, sondern sie witterten allenthalben Unmenschliches, Satanisches und standen voll Mißtrauen, Argwohn und Angst einander gegenüber.

So ist das junge, fremde Weib mit seinem heimwehkranken Herzen nirgends verstanden, aber allstündlich beschnüffelt und beargwöhnt worden. Man ging ihren 132 Schritten nach; aber nicht offen und mit nachbarlicher Teilnahme, sondern scheu und in verstörter Angst, sie möchte Satanisches treiben und Unheil in die ehrbare Stadt tragen.

Da steht in der alten Schrift von einem Nachbar Elias Knörzer, der gesehen hat, wie die Nohlin am Bühneladen ihres Hauses am Markt stand und mit der Hand winkte. Alsbald aber flog eine Taube herzu, die streichelte sie, sprach mit ihr und blies sie an, daß sich dem Tier die weißen Federn sträubten. »Und auf der Frauen ausgereckter Hand fing der Täuberich einen erstaunlichen Tanz an, darauf sie ihn über sich warf und er nicht mehr da war.« –

An einer anderen Stelle wird erzählt, daß man gesehen hat, wie die Nohlin in ihrem Garten Kränzlein wand und sie ihren Raben um den Hals hängte. Die flogen auf und schrien und strichen ab gegen den Ahldorfer Kopf, wo der Kreuzweg ist. Und am anderen Morgen hat man die Kränzlein gefunden in den Hecken, die dort oben um den kahlen Platz stehen, darauf bei Nacht die Hexen ihre Lustbarkeiten halten. So bunt und toll sind die Klagen, die sich anhäuften gegen das junge Weib. Was uns heute bestricken würde wie ein anmutiges Spiel, ein Treiben voll Liebreiz und Schönheit, das war dazumal besudelt von schmutzigem Argwohn, übergossen mit Unflat und einer häßlichen, furchtbaren Art zu denken, die wir jetzt nicht mehr verstehen, sondern nur noch mit Grauen feststellen können. Vielleicht nirgends sehen wir es so erstaunlich klar vor uns wie in den 133 Akten der Hexenprozesse, daß die Beschaffenheit der Menschenherzen die Zeiten hell oder dunkel macht, daß alles Geschehende erst im Spiegel der menschlichen Auffassung das Ansehen bekommt, das ihm dann zugesprochen wird, als hätte es immer dazu gehört und müßte in alle Zukunft dazu gehören.

Und es kam der Tag, da man Theresia Katharina Nohlin gefänglich einzog. Es sind in der Schrift nicht viel Worte darüber gemacht. Es ist nicht gesagt, wie die Unglückliche sich verhielt, als die Schergen kamen, sie aus ihrem reichen Hause wegzuholen. Es ist auch nicht berichtet, wie ihr Gatte, der sie mit soviel Liebe umgeben und verwöhnt hatte, sich dazu stellte. Es heißt nur: »Ein Vogel hätt' jämmerlich geschrien.« Vielleicht war es der weiße Täuberich, der so kunstvoll auf ihrer Hand zu tanzen wußte, oder einer der umkränzten Raben oder ein Falke, den sie gelehrt hatte, nach Westen zu äugen, wo der Rheinstrom floß. Wir wissen auch nicht, kam die Katastrophe plötzlich und völlig unvermutet, oder war ein Wetterleuchten vorausgegangen. Es ist nur beiläufig erwähnt, daß die Nohlin »ins zwanzigst Jahr ging«, und daß es Spätsommer war, als man sie festnahm.

Wer möchte nicht, daß alles Lug und Trug wäre! Daß man die schwarzen Zeiten wie einen bösen Traum abtun und ausmerzen könnte aus unserer Geschichte! Aber es ist alles ehern gefügt, und jeder Stein trägt einen anderen, jedes 134 Glied der Kette greift ins nächste. Und wäre es nicht töricht, wenn eine Pflanze, die heute eine leuchtende Blüte dem Tag zureckt, sich schämen wollte, daß sie gestern nur Blätter und einen Stengel, vorgestern nur Wurzeln in dunklen Regionen hatte? –.

Aber hart und herzbeklemmend bleibt es doch, weiter von der Sache der Nohlin zu reden.

Sie wurde in den »Turm an der Brucken« gebracht. Dieser Turm steht heute noch und erschreckt noch heute durch sein finsteres Aussehen. Man merkt ihm wohl an, daß er nicht zu freundlichen und holden Zwecken erbaut wurde wie der Vogelturm auf dem Klettenberg. Ein tiefes Verließ, von dem man sich nicht erklären kann, wie einst der Zugang dazu war, ist jetzt noch sichtbar.

Was mag es für ein Winter gewesen sein, den die kaum Zwanzigjährige in dem düsteren Loch verbracht hat! Denn erst vom Frühjahr darauf gibt die Schrift weitere Kunde. Am Sankt-Josephstag, heißt es, habe sie zum erstenmal bekannt.

Das steht ganz kurz da, wie wenn es die gewöhnlichste Sache von der Welt wäre. Aber ein kleines Sätzlein hat der Herr Gerichtsbeisitzer, der die Sache sich zur Kurzweil aufgeschrieben hat, noch angefügt. Ein kleines Sätzchen, das Licht hereinläßt, als sei ein Fenster aufgegangen. Nur ist es kein gutes Licht. Es steht da: »Und ist diesmal unblutig verloffen.« 135

Nun sehen wir auf einmal die Daumenschrauben, die Fußhölzer und den ganzen Apparat, der um die Unglückliche her war, die zum erstenmal bekannte. Wie oft mag sie vorher nicht bekannt haben, wie oft mag die Sache »blutig verloffen« sein! Arme, junge Theresia! Du hast auch für uns gelitten, für uns gezittert, für uns das schreckliche Grauen getragen. Du bist unsere Ahnfrau, unsere Schwester von gestern, ohne die wir heute nicht sein könnten, was wir sind.

Nun hatte sie bekannt. – Welcher Greuel mag sie sich bezichtigt haben, die Unselige! Wenn sie die Vögel so lieb hatte, die beschwingten Geschöpfe, die am wenigsten Erdenschwere und Erdenschmutz an sich haben, die soviel mehr als alle anderen Kreaturen in Licht und Freiheit und Himmelstiefe hineinstreben, dann kann sie nichts gemein gehabt haben mit den grausigen Ausgeburten, die menschliche Unzulänglichkeit damals aus Sumpf und Schlamm steigen sah und hervorzog. Sie muß selbst etwas an sich gehabt haben von Beschwingtheit und Lichtdurst, und vielleicht war ihr Bekennen das, daß sie, benommen von Angst und überquellender Sehnsucht, gerufen hat: »Ja, ich kann fliegen wie meine Vögel! Fliegen über alle Türme, über alle Schrecken der dunklen Erde hin nach der lichten Ewigkeit!« Oh, wenn sie das doch gerufen hätte! Sie hätte damit ja nicht gelogen, nur prophezeit. Freilich – sterben hätte sie doch müssen. Denn man hat noch immer die Propheten getötet so gut oder 136 noch sicherer als die Übeltäter. Aber es wäre doch schön zu denken, daß sie so vor den Richtern und Henkersknechten »bekannt« hätte.

Und nun steht in der alten Schrift wieder etwas, was die Gegend erhellt, daß man sich umschauen kann.

Es heißt: »Den Tag vor Walpurgis ist auch Sebastian Nohl eines raschen Todes verblichen, desgleichen sind die Vögel in dem Turm auf dem Klettenberg nie mehr gesehen worden.«

Die beiden Umstände müssen schwer belastend gewesen sein für die Gefangene. Die Verhöre drängten sich jetzt, und es geht dem Ende zu. Wir aber, mit unseren durch die Tränen aller vergangenen Zeiten gewaschenen Augen, wir sehen die Sache ein wenig anders an. Wir sehen, wie dem unglücklichen Manne die Liebe zu dem gemarterten Weibe, der Jammer um das verlorene Glück, die Macht und Mut und Hoffnungslosigkeit dem eisernen Verhängnis gegenüber allmählich das Herz brechen. Wir sehen ihn durch sein verwaistes und geschändetes Haus irren und die Spuren der Entschwundenen suchen. Es treibt ihn hinauf in den Garten am Klettenberg, wo der Winter jetzt dem Lenz gewichen ist. Wo die Narzissen blühen und der Akelei und die goldenen Kaiserkronen.

Und wie er da auf dem Bänkchen saß, auf dem er oft mit dem jungen Weibe gesessen, und ihre Vögel um den Turm streichen sah, ihre Vögel, die sie so geliebt hatte, und die sie 137 dann ins Elend brachten – mag ihm da nicht ein bitterer Groll auf die Tiere gekommen sein oder auch ein Mitleid mit den herrenlos Gewordenen? Hat er ihnen nicht vielleicht Körner gestreut, in denen der Tod war? Und die Vertrauenden, die Langverwöhnten nahmen die Gabe ohne Argwohn. Hat er sie dann verscharrt oder sind sie, nach sterbender Tiere Weise, in die tiefste Einsamkeit gekrochen – kein Mensch hat sie mehr gesehen, die unheimlichen Vögel der Hexe.

Und hinter den Vögeln her ist der einsam gewordene Mann wohl selber aus der finsteren Welt hinausgegangen. Vielleicht hat er selbst die Tür aufgestoßen in seiner bitteren Not, vielleicht war auch seine Kraft so völlig zermürbt, daß es dessen nicht mehr brauchte. »Eines raschen Todes ist er verblichen« – daran müssen wir uns genügen lassen.

Es scheint, daß jenes erstmalige Bekennen den Richtern nicht ausgiebig oder umfassend genug war. Denn der Urteilsspruch folgt nicht sofort. Die Übeltäterin wird noch einigemal »gütlich befragt«. Vielleicht ist ihr dabei die hochgemute Seele, die damals vom Fliegen über Berg und Tal und Raum und Zeit geredet hat, wieder dumpf und schwer geworden, so daß sie meinte, als Unwahrheit zurücknehmen zu müssen, was sie verzückt wie eine Seherin als ein erstes Bekenntnis lautwerden ließ.

So wird sie »ihrer Halsstarrigkeit wegen« nochmals »peinlich befragt«. Und was sie bei dieser Gelegenheit sagte, 138 das muß den Richtern genügt haben. Sie soll »durchs Schwert gericht« und ihr Leichnam verbrannt werden.

Und nun kommt etwas, das ist eigentlich viel zu schön, um unter dem düsteren, blutigen Wust zu stehen. Der Herr Gerichtsbeisitzer selbst muß das empfunden haben, als er die Sätze niederschrieb; denn seine Buchstaben und seine Schnörkel sind an dieser Stelle so kunstvoll, zierlich und reich verschlungen, daß man zu sehen meint, wie der Mann da mit besonderer Liebe am Werke war. Als man am Morgen des Richttags zu der Hexe trat, saß sie auf ihrem Lager mit gefalteten Händen. Es war »ein ausnehmender Glanz« auf ihrem Gesicht, denn »von der aufgehenden Sonnen fiel der erste Strahl in das Löchlein oben am Gebälk«.

Und in diesem »Löchlein oben am Gebälk« saß ein schwarzes Vögelein, »von Gestalt wie eine Lerch oder Emmerling« und sang und sang in die Sonne.

Als man aber einen Anruf tat an das Weib, da flog der Vogel fort, und die Theresia Nohlin war tot.

Ist es nicht, als ob man den Glanz jenes jungen Maientags in der Seele spürte, wenn man das liest? »Fürchtet euch nicht,« möchte man jubeln, »fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht mögen töten.«

Ach ja, den armen Leib konnte man wohl martern mit Fußeisen und Schrauben und Gewichten. Aber die Seele, die ist umloht vom ewigen Glanz und singt der Sonne 139 entgegen und fliegt dem jungen Morgen zu wie »eine Lerch oder Emmerling«.

Wie königlich, wie sonnenhaft sind doch der Menschen Seelen! Wenn tausendmal die dunklen, fürchterlichen Fäuste des Wahns und des Irrtums nach ihnen greifen – sie entgleiten und entschlüpfen, lassen das Verworrene, Schwere hinter sich und eilen dem Licht zu. Aber jene Richter haben nichts geahnt von dem, was wir Späteren jetzt im Innersten spüren. Sie standen nicht ergriffen und beglückt vor solchem holden Wunder. Sie haben befohlen, daß man den Leichnam der Hexe auf einer Kuhhaut durch die Stadt und auf den Richtplatz schleppe und dort verbrenne »zu einem Exempel«. So wird es wohl geschehen sein. Es steht nichts davon in der alten Schrift.

Der Richtplatz ist ein Hügel nahe bei der Stadt. Kahl und öd ist er heute. Wenn man an heißen Sommertagen obensteht, dann duftet ringsum der wilde Thymian, die gelbe Erde hat Risse und Sprünge vor Trockenheit, und die Eidechsen sonnen sich allerorten. Geheimnisvoll liegen sie da, wie die ins Zwerghafte verkümmerten Drachen ferner Zeiten, und ihre schwarzen Äuglein spiegeln eine Welt, die wir nicht kennen. Wenn sie vor dem ausschreitenden Fuß lautlos in ihre Erdlöcher huschen, möchte man fragen: Wisset ihr, wo sie verscharrt ist, die Asche der jungen Landfremden? Wisset ihr, wohin all das Blut der Gerichteten gesickert ist, die hier oben starben? Kennet ihr den Platz, wo der Fuß 140 des Galgens stand und das Rad und die Schandsäule und der Richtblock? Aber die feinen, kleinen, klugen Tiere geben keine hörbare Antwort. Vielleicht wird der Glanz in ihren Schwarzäuglein tiefer, und ihr zückendes, spielendes Zünglein höhnt: »Menschenwust, Menschenwahn, Menschentorheit.«

Über dem Thymian gaukeln die Schmetterlinge und summen die Bienen. Ihrer Lust und ihrer Arbeit nach taumeln sie und wissen nichts von unserem leidvollen Suchen nach dem Weg, der emporführt, nichts von jener dunklen Etappe auf diesem Weg, die von Richtstätten, Scheiterhaufen und Galgen umstanden ist.

Aber die Lerchen, die aus der sonnenwarmen Heide ins Blau steigen, die wissen vielleicht davon, daß auch unsere Seelen lichte Höhen suchen. Sie klettern so jubelnd empor, als seien ihre kleinen Herzen geschwellt von einem glückseligen Ahnen.

Die alte Schrift schließt damit, daß sie aufzählt, was von des Sebastian Nohl Hinterlassenschaft dazumal an Äckern und Liegenschaften von Obrigkeits wegen eingezogen wurde und was – es war wenig genug – an seinen überlebenden Bruder fiel.

Dieser Bruder, ein Biersieder, war unter den Ahnen der Malerin Ilse. Aus seinem Besitz mag vielleicht die alte Schrift stammen. Und so bleibt es dabei: Ob wir wohl kurzlebig sind wie Eintagsfliegen: wenn sich ein paar 141 Generationen die Hände reichen und wie eilige Stafetten ihre Botschaften weitergeben, dann sehen wir mit Staunen, wie tief wir in Zeiten hineingeraten, die uns sonst fremd und lang verklungen anmuten, als hätten sie mit uns und wir mit ihnen nichts zu tun.

Reicher und fester verwurzelt wird unser eigenes Leben, wenn wir es uns recht gesagt sein lassen, das Wort, das ein weiser und gewaltiger Mann, der ein Kenner menschlichen Wesens war wie kaum ein zweiter, vor Jahrtausenden gesprochen hat, das Wort des Mose: »Gedenke der vorigen Zeiten!« 142

 


 << zurück weiter >>