Auguste Supper
Muscheln
Auguste Supper

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Die Magd vom Walde

Im Schwarzwald, dort, wo Fuchs und Hase sich regelmäßig gute Nacht sagen, lebte ein Bauer mit seiner Tochter.

Das Mädchen war Barbara getauft, hieß aber Bärbele und war so, wie man ist, wenn man unter Tannen und Föhren aufwächst, viel Arbeit und genügend zu essen hat.

Die zwei hatten schwere Zungen; darum saß der Friede hinter ihrem Tisch, und die Dinge der Einsamkeit kamen gern zu ihnen her.

In einem Frühjahr, als eben der Schnee gehen wollte, kam den Bauern eine fremde Sehnsucht an, daß es ihn auch fortzog. Da legte er sich schweigsam hin zum Sterben.

Aber ehe es ganz soweit war, rief er noch einmal sein Bärbele ans stille Lager. Sie kam und sah dem Vater auf den Mund, denn sie wußte wohl, daß er nicht gern eine Rede umsonst oder gar zweimal tat.

»Bärbele,« sagte er, »an Georgii gehst du in die Stadt, wo du etwas lernen kannst und –«

Sie war verdutzt, denn weil sie jung war, meinte sie schon alles zu können. »Was soll ich lernen?« fragte sie erstaunt. 98

Der Vater war ärgerlich, daß sie ihm in die Rede gefallen war, drehte sich gegen die Wand und starb.

Erst hatte das Bärbele eine tiefe, stumme Bitterkeit in sich. Den alten, steinern aussehenden Mann starrte sie an und dachte: Du machst dir's leicht. Gehst davon und läßt mich allein!

Aber als dann das Begräbnis vorüber war und bald der erste Kuckuck durch den Wald schrie, da kam ein neuer, zufriedener Mut über die Einsame. Sie gedachte an des Vaters letztes Wort, schnürte ihr kleines Bündel, nahm auch ein verstecktes Stümplein Geld aus dem Strohsack und ging davon, eine Stelle zu suchen.

Als sie aus dem kühlen, dunklen Wald hinaus in die warme Sonne kam, hätte sie singen mögen. Aber ihre Zunge war zu schwer dazu. So blieben die Lieder ungesungen und schauten ihr stumm zu den verwunderten Augen heraus. Das war hübsch anzusehen für den, der den Blick dafür hatte.

Gegen Abend kam das Bärbele in die Stadt. Wenigstens dachte sie sich, daß das die Stadt sei, weil eine Unmenge Häuser beieinander standen. Sie ließ ihre Augen wandern straßauf und straßab und hätte brennend gern wissen mögen, welches das rechte Haus für sie sei. Aber nirgends fand sie ein Zeichen.

Da, als sie schon recht verzagt war, hörte sie irgendwo ein Lied erklingen. Eine helle Männerstimme sang es, und 99 es war eines von den ungesungenen, die sie selbst in sich trug.

Froh und sicher wie an einem Faden ging sie dem Lied nach und wurde so vor ein niederes, einfaches Haus geführt, das etwas zurück von der Straße in einem verwilderten Garten lag. Sie zog ohne Besinnen die Glocke, und gleich darauf tat ihr ein alter Mann auf.

Sie stand ganz erschrocken, denn sie hatte auf einen jungen gewartet. Aber dann dachte sie, daß in der Stadt vielleicht der Brauch so sei, daß die alten Männer die jungen Lieder sängen und helle Stimmen hätten. Darum ließ sie sich weiter nichts anmerken und fragte, ob nicht eine Stelle für sie im Haus sei.

Der Alte schob seine Brille in die Höhe, schaute sie scharf an und fragte: »Was kannst du denn?«

Schon lag es ihr auf der Zunge, daß sie sagen wollte: »Alles«; da fiel ihr ihres Vaters letzte Rede ein, und sie antwortete: »Ich soll erst lernen.«

Dem Städter verschlug's die Rede. Erst nach einer guten Weile konnte er sagen: »Du mußt von weither sein.«

Dies Wort traf das Bärbele, daß ein großes Heimweh in ihr aufloderte. Mit verdunkelten Augen sagte sie: »Ja, ganz weit her, vom Wald.«

Der Alte lachte: »Aha, von dort, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen.«

Sie konnte nur nicken, denn sie wollte nicht losheulen. 100

Der Mann aber dachte: Du kommst mir recht, auf eine Dumme habe ich schon lange gewartet. So stellte er sie ein und sagte ihr, weil sie erst lernen müsse, bekomme sie keinen Lohn, aber ein Lehrgeld wolle er ihr nicht abverlangen, da er ein guter Mann sei.

Das Bärbele sah ihn verwundert an. Aber weil sie sich in den Stadtbräuchen nicht auskannte, wollte sie nicht streiten und trat ein. Zu einem Schreiner war sie gekommen, und dieser Schreiner hatte einen Gesellen. Der Geselle aber, und nicht der Alte, sang bei der Arbeit; das fand das Bärbele bald heraus. Und sie fand auch heraus, daß ihr Herr ein Geizhals war. Denn so oft sie Geld von ihm verlangte, um einzukaufen, sagte er, er habe den Beutel verlegt.

Eine Meisterin war nicht da. Die sei schon vor vielen Jahren davongelaufen, sagte der Geselle.

Das alles kam dem Bärbele merkwürdig vor; aber was sollte sie mit ihrer schweren Zunge streiten gegen das, was in der Stadt Brauch war! Immer wieder sagte sie sich vor, daß sie zum Lernen da sei, und sie tat die Augen weit auf. Weil sie aber dabei den Mund geschlossen hielt, sammelte sich eine ganze Menge neuer Dinge in ihr an, die legte sie zu all dem, was sie schon vom Wald her in sich hatte, und es wurde zusammen ein nettes Häuflein.

Manchmal, wenn der Meister nicht um den Weg war, stellte sie sich lernenshalber neben den Gesellen, wenn der flink und tüchtig an der Hobelbank hantierte. Oft sang er 101 dabei mit heller Stimme, oft war er aber auch still, und man hörte nur das Rauschen und Knirschen des Hobels und das leise Rascheln der fallenden Späne.

Und einmal wurde es noch stiller. Da hörte man nur noch ein Kichern und ein Küssen.

Der Meister aber jagte den Gesellen davon, denn die billige Magd wollte er behalten. Er goß eine volle Schale der Entrüstung aus über das Bärbele, sagte, so seien die vom Wald, so dumm und so zuchtlos zugleich, und statt daß da eine etwas Rechtes lerne, habe sie den Leichtsinn im Kopf, das sehe man ihr schon an den Augen an.

Das Bärbele konnte den ganzen Schwall dieser Rede nicht so schnell überblicken und sichten. Deshalb blieb sie eine Weile stumm wie eine Schuldige, und nachher fand sie den Anfang nicht zu dem, was sie dagegen sagen wollte.

So behielt der Meister recht.

Es kam ein neuer Geselle ins Haus, der sang nicht und pfiff nicht. Aber sobald der Meister den Rücken kehrte, hobelte er auch nicht. Das Bärbele merkte bald, daß bei dem nichts zu lernen sei, und blieb weit weg von der Hobelbank. Und wenn der Geselle dreist gegen sie wurde, dann schlug sie ihm eins an die Ohren, wie sie's vom Wald her gewöhnt war.

Der Meister aber, der bald merkte, wie feindlich sich die zwei gegenüberstanden, der sagte, was ein stiller und solider Mensch sei, der hänge sich nicht an eine vom Wald. 102

Und weil er das nur zum Gesellen sagte, so behielt er auch diesmal recht.

Überdies kam das Frühjahr. Das Bärbele, wie eine Puppe, die bald auskriechen soll, wußte nicht recht, was mit ihr werden wollte. Im dumpfen Haus war's ihr zu eng, und wenn nachts der Sturm ging, meinte sie, sie müsse das Rauschen im Hochwald hören. Aber es klapperten nur ein paar wacklige Läden in der Nachbarschaft, und eine rostige Wetterfahne kreischte und quiekte auf dem Gartenhaus.

Da geschah es ihr, daß sie lachen mußte über dies Getue, das in der Stadt den Frühling vorstellen sollte. In ihr heißes Kissen hinein lachte sie und lachte immer wieder. Und wenn zuletzt auch ein Weinen daraus wurde – mit Lachen hatte es jedenfalls angefangen.

Am Morgen nach der Nacht, da sie zum erstenmal über die Stadt gelacht hatte, trat sie in den verwilderten Garten hinaus und sah über die paar Beete hin, die rechts und links an alte, schmutzige Häusermauern stießen.

»So,« dachte sie, »das also ist in der Stadt ein Garten! Die Sonne muß man mit Teucheln hereinleiten und den Wind mit dem Blasebalg.« Bei solchem verächtlichen Denken tauchte hoch und stolz der heimatliche Wald vor ihr auf, durch den der Sturm sein Lied sang, und die weiten Äcker der Hochebene, über die die Sonne in hohem Bogen ging.

Sie machte sich jetzt mit starken Armen hinter die Arbeit, 103 grub die verwilderten Beete um, säte und pflanzte. Bei diesem Tun versank ihr alles, denn die Erde, die sie unter den Händen hatte, fing an, mit ihr zu reden.

Und sie redete die gleiche Sprache wie die Schollen der Äcker daheim, nur ein wenig leiser und schüchterner.

»Bist du auch dahergekommen, zwischen die Mauern?« fragte sie; »es ist übel da zu leben.«

»Ja,« dachte das Bärbele antwortend dagegen, »aber ich soll lernen, mein Vater hat's gesagt.«

»Lernen?« hauchte die Erde und glitzerte in hellem Spott; »lernen bei denen, die von mir nichts wissen? Ihre Klugheit ist krüppelhaft: ein dicker Kopf und verdorrte Beine. Die Leute hier essen Brot und wissen nicht, wie es wächst; sie tragen Kleider und wissen nicht, wo sie herkommen. Sie leben von mir und kennen mich nicht. Lerne nur, aber lerne nicht zu viel.«

»Hab's auch schon gespürt,« dachte Bärbele; »aber ich bringe nicht alles so klar zusammen, und mein Vater hat gesagt –«

»Deinen Vater hast du nicht ausreden lassen,« warf die Erde ein, »nun hat er das Beste verschluckt.«

»Was war es denn, dieses Beste?« fragte kleinlaut Bärbele.

»Das kann ich dir nicht sagen,« murmelte die Erde, »das muß ein Mensch dir sagen; mußt halt einen gescheiten suchen.« 104

Still und gedrückt war das Mädchen in der nächsten Zeit. Sie zergrübelte sich den Sinn, was wohl ihr Vater verschluckt habe oder wer es ihr sagen könne.

Zuletzt fragte sie ihren Herrn, denn der war alt, und sie dachte, wer nahe am Grabe steht, müsse am besten wissen, was man vor dem Sterben noch zu sagen habe.

Aber der Meister lachte höhnisch und entgegnete: »Was wird er haben sagen wollen! Du sollst nicht so dumm fragen und an deine Arbeit denken.«

Bärbele spürte genau, daß das nicht das Richtige war, aber sie getraute sich nicht zu widersprechen und auch nicht, weitere Umfrage unter den Menschen zu halten.

In der Morgenfrühe, wenn sich ein Sonnenstreifen in den Garten stahl, stand die Magd zwischen den Beeten und sah den keimenden Saaten zu. Sie wartete immer, daß die Erde wieder ein Gespräch anfange, denn davor war ihr nicht bange. Aber die Gärende, Schaffende hatte jetzt wenig Zeit, sich mit Menschen einzulassen, die sich den Kopf zergrübelten um eine verschluckte Rede.

Aber als das Bärbele sich niederbeugte, um ein paar Setzlinge in den feuchten Boden zu pflanzen, hörte sie doch ein leises Flüstern. Und als sie scharf aufmerkte, verstand sie: »Es muß etwas herauskommen bei der Plackerei; denn jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert.« Erst dachte Bärbele, die Erde meine, die gesäte Kresse, die Rettiche und Bohnen 105 müßten herauskommen; aber dann verstand sie, daß die Sache auch noch anders gemeint sei.

Sie trat vor ihren Herrn und sagte: »Herr, daß Ihr's wißt: Ihr müßt mir von jetzt ab Lohn zahlen. Es muß etwas herauskommen bei der Plackerei, und jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert.« Der alte Geizhals verzog das Gesicht, als hätte er Essig getrunken. »So seid ihr Bauern!« murrte er; »kaum hat man euch etwas gelehrt und hat euch aus eurer Dummheit und Unbeholfenheit ein wenig herausgeholfen, dann nehmt ihr einem das Geld ab.« Bärbele lachte nur in sich hinein. Sie wußte, wenn sie dem Alten sagen würde, daß sie nur einen Rat der Erde befolgt hatte, als sie Lohn verlangte, dann würde er ihr womöglich keine einsame Stunde im Gärtlein mehr vergönnen.

Das tapfere Stück Erde zwischen den Häusermauern mühte sich redlich, etwas Rechtes hervorzubringen. Und Bärbele, das von daheim den Blick hatte für die Bedürfnisse der Erde, kam der Schaffenden zu Hilfe, so oft sie Zeit hatte. Sie schleppte Wasser ins Gärtlein, wenn der Regen auf sich warten ließ, sie lockerte den Boden, daß die Luft mit ihren nährenden Stoffen zu den zarten Wurzeln der jungen Pflanzen kommen konnte, sie trug Dünger herzu, wo sie merkte, daß Dürftigkeit herrschte. Und einmal nahm sie vom Sonntagsspaziergang einen Rosenwildling mit heim, pflanzte ihn in eine Ecke und tat ihm alle Handreichung, daß er Wurzel fassen konnte. Als der Juni kam, der 106 Rosenmonat, blühte richtig in dem versteckten Winkel ein Röschen auf, so schön, so wonnig, wie nur die wilden Rosen, die heimlichen Lieblinge der Erde und der Sonne, sein können.

Bärbele stand vor dem prangenden Röslein und konnte den Blick nicht davon lassen. Niemals in ihrem jungen Leben hatte sie eine Rose gesehen, die dieser glich, die da zwischen den häßlichen Häusermauern erblüht war. Alle Herrlichkeit ihrer fernen Schwestern, die draußen auf sonnigen Halden und am grünenden Waldsaum leuchteten, schien zusammengeströmt zu sein in dieses einzige Röslein an der kahlen Steinwand. Wie ein glückseliges Lachen und Grüßen kam es aus den zarten Blütenblättern, und das Bärbele fühlte eine so große Freude im Herzen, daß es fast wie ein ganz großer Schmerz war. Denn diese beiden stoßen immer mit den Flügelenden aneinander an wie die goldenen Cherubim über dem Gnadenstuhl im jüdischen Tempel.

Auch die Erde lachte an dem Tag, da das Röslein erblühte, und sie sprach zum Bärbele: »Siehst du, wenn wir zusammenarbeiten, dann kommt Schönes dabei heraus. Laß dich nur nicht von mir abbringen durch den alten Geizkragen.«

Der Meister, als er sah, was alles heuer in dem Gärtchen wuchs, war nicht etwa dankbar und froh und genoß die frischen Köstlichkeiten, die da aus dem Boden kamen. Er schickte vielmehr das Bärbele damit zu Markt, daß sie möglichst viel Geld daraus mache. Er selbst aber und seine 107 Magd aßen Dinge, die eine viel weniger reinliche Herkunft hatten, die aus schmutzigen Ladenwinkeln und muffigen Schubladen stammten.

Dem Bärbele wollte manches gar nicht munden. Aber ihr Herr schalt dann und sagte, die Bauern seien schleckig, das wisse man in der ganzen Welt, und das Essen sei ihnen die Hauptsache, darum hätten sie auch so wenig Hirn. Das Mädchen wußte nichts zu entgegnen, wenn ihr Herr so über sie hinwetterte. Sie dachte, daß wohl all dies zu den Dingen gehöre, die sie nach ihres toten Vaters Willen in der Stadt lernen sollte. Es kam ihr sehr schwer vor; aber daß alles Lernen schwer sei, das hatte schon der alte Schulmeister daheim oft gesagt.

An einem Sonntagnachmittag, als der Meister ausgegangen und das Bärbele verurteilt war, das Haus zu hüten, trug sie ihren Küchenschemel ins Gärtchen, dorthin, wo die Rose immer mutiger an der grauen Mauer in die Höhe kletterte.

Die müden Hände ineinandergelegt, saß sie da und schaute bald auf die Gartenbeete, bald auf das Stückchen blauen Himmel, das oben drüber stand und in tiefem Glanze leuchtete.

Unversehens fielen ihr da wieder jene ungesungenen Lieder ein, die sie aus der Heimat mitgenommen hatte, und dann jener junge, fröhliche Geselle, der diese Lieder zu singen verstand, und der sie damit ins Schreinerhaus gelockt und 108 gezogen hatte. Wo war er hin? – Fortgejagt hatte ihn der Meister, weil er sie einmal auf den Mund geküßt hatte in heller Freude und in hellem Glück! War's nicht, als sei seitdem alles Sonnige aus dem dumpfen Haus hinausgezogen?

Eine unerträgliche Sehnsucht und Traurigkeit überkam das Bärbele, und da fuhr es ihr durch den Kopf, daß sie ihr Bündel schnüren und durchgehen wolle, jenen Burschen zu suchen, der die lieben Lieder wußte.

Schon wollte sie aufspringen von ihrem Schemel, da fing im Rosengeranke ein Distelfink zu singen an, laut, hell, jubelnd, wie jener verschwundene Geselle. Und als das Bärbele den Kopf nach dem Vögelein drehte, da leuchtete das wilde Röslein sie an und sagte: »Die Sänger müssen die Rosen suchen, nicht die Rosen den Sänger.«

Es ist nicht sicher, daß das Röslein diese Worte brauchte; aber das ist gewiß, daß das Bärbele mit einemmal wußte, daß sie nicht durchgehen und den singenden Burschen suchen dürfe. Aber die Sehnsucht nach ihm steckte doch von diesem Sonntagnachmittag an in ihrem Herzen, und ganz heimlich wuchs der Gedanke in ihr auf: »Wenn du den Gesellen wiederfändest, der könnte dir sagen, was dein Vater beim Sterben verschluckt hat.«

Hart und ohne Freude ging im Schreinerhaus das Leben weiter. Das Bärbele aber hielt sich heimlich an den Garten, denn sie hatte längst gemerkt, daß die Erde eine heitere 109 Art hatte, über des geizigen Meisters böse Launen zu reden und zu scherzen, und daß die wilde Rose lachte, wenn der Alte im Haus wetterte. Auch der Distelfink und sein munteres Weibchen, die Sonne, die über die Beete glitt, die Wolken, die an dem Stückchen Himmel oben vorüberzogen, die Kohlstrünke und Salatstauden, alles machte sich über den Meister lustig, der zwischen Sägemehl und Hobelspänen und stinkendem Leim an den Groschen herumdachte, die er in einem alten Strumpf sammeln konnte.

Eine ganze Menge Dinge hatte das Bärbele nun schon in der Stadt gelernt. Oft dachte sie, es werde doch endlich genug sein, aber wenn sie den Herrn darüber fragte, so sagte der nur: »Du kannst noch gar nichts und bist so dumm wie je.«

Auch im Garten konnte sie sich keinen Rat holen. Sobald sie davon anfing, klang es ihr entgegen: »Hättest du deinen Vater ausreden lassen, dann wüßtest du, was du zu tun hast.«

So führte sie ihr Leben weiter in Unruhe, Sehnsucht und Heimweh; aber dabei wurde sie eine gar tüchtige Magd, denn das werden die Tüchtigsten, die von sich nie recht wissen, wieweit sie sind und wohin sie noch gelangen müssen.

Und weil sie immer herumhorchte, ob sie von niemand erfahren könne, was ihr Vater im Sterben verschluckt hatte, bekam sie feine Ohren und ein heimliches Aufmerken auf Dinge, die den meisten entgehen, und von denen man doch 110 auf eine besondere Art klug wird, hinter dem Rücken der Leute.

Wieder war ein Winter vergangen, und im Garten begann das Treiben und Sprossen.

Die Heckenrose an der Mauer war nun schon ein ganz stattlicher Busch geworden, der Platz brauchte und Schatten machte.

Das sah der Meister eines schönen Tages, und alsbald kam ihm der Gedanke, daß das Verschwendung sei. Er ordnete an, daß die Rose weg müsse, damit Bohnen an den Platz kämen.

Dem Bärbele tat das Herz weh, als es den Stock aus der Erde grub, und der Distelfink, der dabei zusah, kreischte jämmerlich, denn er hatte sein Nestlein in das Geranke bauen wollen.

Das aber brachte das Bärbele nicht übers Herz, daß sie die gesunde Pflanze auf den Kehricht warf. Sie stutzte sie zu und nahm sie mit zu Markt und pries sie an als die schönste Rose, die je geblüht habe. Sie sagte damit nicht mehr, als was sie für wahr hielt, und sie wollte keinen Menschen betrügen. Ein altes Weiblein kaufte den Rosenstock, nahm ihn heim und pflanzte ihn unter ihr Fenster.

Aber nach ein paar Wochen kam sie wieder auf den Markt und schalt das Bärbele eine Betrügerin, denn die Rose sei nur ein elender Wildling.

Es fielen nun alle über das Bärbele her und schrien, so 111 seien die Bauern vom Wald: wenn sie nur die Stadtleute über die Ohren hauen könnten! –

Bestürzt und verwirrt stand das Mädchen in dem Lärm. Sie wollte sich verteidigen, aber die rechten Worte strömten ihr nicht zu, und mit Schimpf und Schande mußte sie vom Markt gehen.

Als sie wieder im Gärtlein grub und säte, sagte die Erde: »Was wunderst du dich? Sie haben andere Augen als du und andere Gedanken. Das hast du auch noch lernen müssen.«

»Ist's nun nicht bald genug?« wollte das Bärbele noch fragen; aber die Erde tat schon wieder, als höre sie nicht.

Von da an mochte das Bärbele nicht mehr auf den Markt gehen. Daß man sie für dumm hielt, das hatte sie immer als selbstverständlich hingenommen. War sie doch in der Stadt, um zu lernen. Und lernen muß man, weil man dumm ist. Daß man aber eine Betrügerin in ihr sah, das ertrug sie nicht.

Der Meister geriet in großen Zorn, als sie sich weigerte, ihm weiter die Erträge des Gärtchens in schönes Geld zu verwandeln. Aber Bärbele blieb fest, auch als der erboßte Mann ihr sagte, sie könne ihr Bündel schnüren.

So mußte sie denn wandern, und sie hätte es gern getan, wenn sie zwei Dinge gewußt hätte: Erstens, ob sie nun genug in der Stadt gelernt habe, und zweitens, was ihr Vater dazumal hatte sagen wollen.

Traurig und nachdenklich durchschritt sie, mit ihrem 112 kleinen Bündel in der Hand, noch einmal den Garten, der gar nicht mehr froh und heimelig aussah, seit die schöne wilde Rose hatte weichen müssen. Denn auch die Distelfinken waren fortgeblieben, seit ihre Freundin verbannt war, die ihnen im grünenden Geranke Heimat und Zuflucht gegeben hatte.

Sie kniete noch einmal nieder zu der Erde, mit der sie so manche ungesprochene Rede getauscht, von der sie so manchen Rat und manche Weisheit erlauscht hatte, wenn die brausende Stadt und das verkümmerte Leben im Schreinerhaus sie rat- und hilflos gemacht hatten.

Und die Erde hauchte ihr auch jetzt ein gutes Wörtlein zu. »Warst mir treu,« sagte sie, »da wird schon alles recht.«

Wie im Traum ging Bärbele zwischen den steinernen Häusern hin auf den steinernen Wegen, immer die quälende Frage im Herzen, ob sie wohl genug in der Stadt gelernt habe. Es fiel ihr wieder ein, wie sie seinerzeit so fremd und ängstlich ausgeschaut hatte, in welchem dieser Steinhaufen wohl ein Platz für sie sei, und wie dann die hellen Lieder sie nach dem Schreinerhaus gezogen und gewiesen hatten.

Ach ja, die Lieder, die waren so lang verklungen, waren so schön gewesen! Sie eilte fort zwischen den Häusern in jagendem Heimweh, bis sie hinauskam ins Freie, wo Äcker und Gärten an die Stadt stießen. Da tat sie langsamer und fühlte, wie ihr Herz ruhiger klopfte. Den Stand der Saaten sah sie prüfend an; sie schaute, ob der Boden locker oder fest, 113 ob alle Arbeit gut oder schlecht gemacht sei. Darüber vergaß sie ein wenig ihre Sorgen, und das Wandern wurde leichter. Und als sie den fernen Waldsaum erreichte und das Rauschen in den hohen Wipfeln hörte, den tiefen, feierlichen Orgelton, der durch ihre ganze stille Kindheit hingeklungen hatte wie die Begleitung zu Freud' und Leid, da war auf einmal wieder jene leise Verachtung in ihr für die Stadt, in der allein die knarrenden Wetterfahnen vom Wind wissen und erzählen.

Auf weichem Moos, zwischen stolzen Farnen schritt sie aus, und plötzlich – sie wußte nicht, wie ihr geschah – sang sie die Lieder, die ihr immer ungesungen in der Brust gewohnt und stumm durch die Augen geschaut hatten, und die sie nie hatte laut werden lassen können, weil eine Schwere in ihrer Zunge, in ihrem Kopf gewesen.

Wie das klang in dem feierlich stillen Wald! Wie weit die hallenden Töne fluteten! Und einige davon nahmen vielleicht Vögel auf ihre Flügel oder die unsichtbaren Wesen, die im Walde weben, auf ihre Arme und trugen sie noch ganz besonders weit an einen ganz bestimmten Ort.

Denn auf fernen Wegen hörte sie ein Wanderbursch. Der Fuß stockte ihm; er lauschte mit lachenden Augen, denn er kannte die Lieder. Dann fing auch er zu singen an, und die zwei Stimmen woben und spannen sich ineinander zu einem Geflecht, das nicht mehr zu lösen war und immer engmaschiger wurde. Auf einmal aber standen mitten im 114 Wald zwei junge Menschen voreinander und wußten nichts anderes, als daß die hellen Lieder sie hergeführt und zusammengebracht hatten.

Das Bärbele legte sein Bündel ins Moos und der Bursch seinen Stecken, und sie küßten sich, indes in den Wipfeln die Häher schrien vor Neugier und Freude.

Das Bärbele nahm zuerst sein Bündel wieder auf, war ganz kleinlaut und sagte: »Du – was tät mein Vater sagen, wenn er nicht gestorben wär?«

Da nahm der Bursch seinen Stecken, hieb in die Luft und antwortete: »Der tät sagen: Wenn du genug gelernt hast, dann nimm einen rechten Mann.«

»Hab' ich denn genug gelernt?« fragte fast atemlos das Bärbele.

Da lachte der Bursch schallend auf. »Hast doch singen gelernt! Deine schwere Zunge hast verloren. Reden kannst, kannst heraus aus dir selber!«

Das Bärbele stand eine Weile ganz erstarrt. Dann schlug sie die Hände zusammen. »Ach,« sagte sie, »jetzt weiß ich ja die zwei Dinge, die ich immer habe wissen wollen. Du bist der gescheiteste Mensch von der Welt, daß du mir beides gesagt hast. Die Erde hat doch recht gehabt.«

»Wieso?«fragte der Bursch.

»Sie hat gesagt, nur ein Mann könne mir das sagen, was mein Vater gemeint hat, und es müsse ein gescheiter sein.« 115

»Bärbele,« entgegnete der Bursch, »du bist noch gescheiter als ich, denn du verstehst die Erde.«

»Oh,« sagte das Bärbele, »dazu muß man doch nicht gescheit sein.«

»Ei,« meinte der Bursch dagegen, »dazu aber auch nicht, daß man einem Mädchen sagt, sie soll einen rechten Mann nehmen.«

»Meinst du?« rief das Bärbele; »das ist so gescheit und so schwer, daß ich's gar nicht allein herausgefunden hätte.«

Der Bursch nickte. »Ganz gewiß haben wir müssen deshalb wieder zusammenkommen, weil keines für sich allein gescheit genug gewesen wäre.«

»Was täte der Meister sagen?« – meinte Bärbele.

»Ach,« lachte der Bursch, »so gescheit sind wir zusammen nicht, daß wir das wissen.«

Sie nahmen sich an den Händen, zogen lachend und singend durch den Wald, der nun auf einmal nicht mehr feierlich, sondern ganz freudig rauschte, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch dort hinten unter den Tannen, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, wo der Friede bei den Stillen am Tisch sitzt und wo die Dinge der Einsamkeit heimlich zu den Menschen herkommen. 116

 


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