Auguste Supper
Muscheln
Auguste Supper

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Dekameron im Autobus

Der große Autobus, der in einen der eisenbahnlosen Teile des bayerischen Waldes hineinfährt, lag mit einer Panne auf der Straße, und gerade dort, wo die Gegend recht reizvoll ist.

Grüne, stille Uferwiesen säumten den angeschwollenen Fluß, der seine Wellen in breitem Bett eilends talabwärts trieb; dunkel und feierlich standen die Wälder an den nahen Berghängen, Hecken voll reifer Hagebutten flammten an Weg und Waldrändern, auf einsamem, ödem Hügel ragte ein Kreuz.

Aber die Fahrgäste steckengebliebener Autobusse sind selten in der Stimmung, die Schönheiten der Landschaft zu genießen.

Zudem regnete es in Strömen. So einen kalten Herbstregen, der den Glanz von allen Dingen streift und, wo nicht hoffnungslos, so doch mürrisch macht.

Fünf Personen saßen im Wagen, drei Männer und zwei Frauen. Alle augenscheinlich bäuerlichen Standes bis auf einen Mann, der ein Lehrer zu sein schien. Das Fluchen des Wagenführers und seine Versicherung, daß vielleicht viel 84 Zeit vergehen könne, bis man wieder flott sei, hatten sie mit verhältnismäßiger Gelassenheit über sich ergehen lassen. Jetzt saßen sie stumm und verdrossen, nickten manchmal, seufzten manchmal, husteten manchmal.

Der Mann, der ein Lehrer sein mochte, und der beständig durchs Fenster schaute, während die anderen vor sich hin blickten, hielt eine Ledermappe auf den Knien und hatte einen Stich ins Feierliche. Aber doch nicht so ausgesprochen, daß es zu einem Pfarrer gereicht hätte. Auch trug er einen – freilich kümmerlichen – Bart und sah verheiratet aus, was beides bei den Pfarrern jenes Landstriches nicht gebräuchlich ist. Dieser Mann verlor zuerst die Haltung und wurde ungeduldig. Er stand auf, stapfte hin und her, soweit es der enge Raum gestattete, warf seine Mappe auf den Sitz, daß Zeitungsblätter und ein Buch herausflogen, und schalt: »Schweinewirtschaft!« Die anderen schauten ihn erstaunt an, wie einen, der ganz neue Gesichtspunkte in eine Sache hineinträgt. Aber sie sagten vorläufig nichts, nickten nur zurückhaltend und sanken wieder in sich zusammen.

Jetzt blickte der Mappenmann auf die Uhr. Dann horchte er auf das Geklopfe und Geklöpfel des draußen arbeitenden Wagenführers. »Kann man denn nichts helfen?« rief er mehr ärgerlich als freundschaftlich hinaus.

»Nichts,« versicherte der draußen, und es klang ebenfalls eher ärgerlich als erfreut, »ich komm ja selber nicht recht drauf, wo es fehlt.« 85

»Wenn der Regen und der Dreck nicht wär,« sagte einer der Bauern, »ich ging meines Weges und schenkte den Schlampern das Fahrgeld.«

Er sprach in der Mundart, der Seelensprache jenes Erdenwinkels, die der liebe Herrgott eigens für die Gegend erschaffen hat und die man vielleicht verstehen, vielleicht sprechen, aber sicher nicht schreiben kann; auch wenn man sie beherrschen sollte.

»Wenn wir Karten hätten,« meinte der zweite, und er gähnte laut, »dann gäb's doch ein Spiel.«

Eine der Frauen drehte den Kopf nach dem nahen Berghang. »Wenn der Wald nicht so naß wär, könnt man wohl Schwammerln suchen da draußen,« meinte sie schüchtern.

Die andere lachte, und ihr Gesicht war dabei um zehn Jahre jünger als zuvor, »da hast recht,« sagte sie, »und wenn wir dann finden täten, dann könnten's die Mannsleut putzen helfen.« Der Bauer, der Sehnsucht nach einem Kartenspiel gezeigt hatte, nickte. »Das sollt' ein Wort sein. Und wenn wir dann noch ein' Butter hätten oder ein Schmalz und e' weng ein Salz und ein' Kocher und ein' Spiritus a – nacher könnten wir die Schwammerln kochen.« –

»Ach,« sagte der erste Bauer, »wie gut tät das riechen da in der Stinkkutschen!«

»Und wie gut tät's uns munden,« meinte die erste Bäuerin. 86

Der Kartenspieler reckte sich hoch. »Herrgott, daheim richtens' bal' 's Nachtmahl.«

Jetzt stieß er mit dem Fuß an das Buch, das vorhin dem vermutlichen Lehrer aus der Mappe gefallen war, ohne daß der in seinem Ärger weiter darauf geachtet hätte. Er nahm es auf, und mit der artigen Höflichkeit des Bauern jener Gegend reichte er es dem Besitzer, indem er mit einem Anflug von Schelmerei sagte: »'s Brevier, Herr!«

Der Mappenmann streckte die Hand aus. »Soll ich etwas vorlesen?« fragte er so rasch, daß man spürte: der Gedanke war ihm in diesem Augenblick gekommen.

Aber nicht so rasch gingen die vier auf den Vorschlag ein. Zögernd, mißtrauisch fast schauten sie einander an. Dann griff die eine der Frauen in ihre Rocktasche und zog den Rosenkranz hervor, die Männer nickten stumm und ergeben, als gedächten sie, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen.

Der Mappenmann blätterte ein wenig, betrachtete auch flüchtig das Titelblatt, auf dem geschrieben stand: Boccaccio: Das Dekameron, schüttelte dann den Kopf und klappte das Buch zu. »Es ist nichts,« sagte er ärgerlich.

Mehr erleichtert als enttäuscht schauten die anderen auf. Der Rosenkranz wanderte wieder in die Tasche, das Feierliche verschwand aus den Gesichtern, die sich schon wie zur Predigt in andächtige Falten gelegt hatten.

Der Kartenliebhaber, mit dem Mut dessen, der eine 87 Gefahr in der Ferne verschwinden sieht, deutete gegen das Buch hin. »Was ist's für eins?«

Der Gefragte strich sich den Bart. »Geschichten erzählen sie sich da drin zehn Tage lang.«

»Nachher ist mit denen wohl auch der Autobus steckenblieben?« meinte der Spieler. »So gar lang wird's doch bei uns net dauern!« – Sie lachten alle und wurden dann wieder still. Aber es war nicht mehr wie vorher. Es arbeitete in den Gesichtern. Der Motor »Geist« schien angelassen. Sein leises Schüttern verriet sich in den Gestalten. Plötzlich brach es aus dem Kartenspieler: »Das gäb' eine Geschichte: von meiner Mutter selig ihrem Großvater. Schaffen hat der net mög'n; aber R Geld hat er gern verputzt. Da hat er halt 's Schatzgraben ang'fangt.«

Die Frau mit dem Rosenkranz schaute auf. »Schatzgraben, ja, das hat der Franzl auch, der Sohn vom Bäcken-Joseph. Geht der her und sagt zu mei'm Sepp – zu dem Büberl, des wo i in der Pfleg hab –, Seppl, sagt er, kommst mit heut nacht um e zwölfe?«

»Sell ist scho' nix,« fiel die zweite Bäuerin ein. »Derreden darf mers net. Der Karl, dem Nieburger Schäfer sein Karl, der wo beim Train ist g'standn, z' Amberg oder wo, und nachher den Hitzschlag kriegt hat –«

»Ach was, Hitzschlag! Beim Train hat noch nie einer ein' Hitzschlag kriegt,« behauptete aufbrausend der andere Bauer; »die sind ja immer hinten dran, von was sollen die 88 en Hitzschlag kriegen? Wenn der bei uns gewesen wär, dem Nieburger Schäfer sein Karl.«

»Ha no, jetzt halt dein Maul,« fiel wieder der Kartenfreund ein, »es ist bei euch eh net hergangen wie bei uns. Wenn i dran denk: i komm grad vom Urlaub.«

»Das ist's: mehr Urlaub habt ihr g'habt als Dienst, so oft i mei'm Weib heimschreib: In acht Tag – –«

»Ja, Klostermaier, hat sie denn noch g'lebt dazumal, dein Weib?« fiel mit Verblüffung im Ton die jüngere der Frauen ein. »Glaubst du, i hätt ihr g'schrieben, wenn sie net g'lebt hätt?« fragte mit sanfter Ironie der Bauer dagegen.

»Ja, wegen sellem,« behauptete da verhaltenen Tons die zweite der Bäuerinnen, »dös gibt's schon« – sie griff wieder nach dem Rosenkranz und warf einen Blick auf den Mappenmann, »die G'storbenen, die sind eh net aus der Welt! dem Sonnenwirt sei Muetter z'Horsten draußen – –«

»Gel', die ist g'storben, dem Sonnenwirt sei' Muetter z' Horsten? Ja ja, i hab davon reden hörn. E' rechts Weib ist se g'wen und mit de Karten hat s' umgehen können! Sagt die ein' Bettel an und hat alle König im Spiel.«

»Ach, halt 's Maul mit dem lausigen G'spiel,« wies die ältere Frau zurecht, »die Schellen im Kartenspiel sind 's Teufels Kircheng'läut.«

»Kennst ihn wohl persönlich, den Teufel?« rächte sich der Kartenfreund, »hast ihn vielleicht gar in der Freundschaft? Und –« 89

»Halt dein Maul!« gebot die jüngere der Frauen, »wenn man von ihm red't, kann's gehen wie bei Stephan Rieders Hochzeit, wo –«

»Ja, het denn der schon Hochzeit g'macht, der Riederstephan?« wunderte sich der zweite Bauer, »ich denk, der sitzt noch wegen der Sach mit dem anzundenen Stadel, da wo –«

»Wie kannst denken!« wehrte die ältere Bäuerin ab, »um Martini war er raus und die Walburg –«

»Die Walburg ist mir auch die Recht – die hat doch für ihren Vater müssen in der Kapellen drunten –« wollte die andere erzählen.

»In der Kapellen haben's jetzt die Gruft aufbrochen, da wo –«

»Ach, geh zu!« berichtigte der Kartenspieler den Sprechenden, »aufbrochen net! Aufg'macht in aller Ordnung. Der Herr Kooprator war dabei und dr Herr Bürgermeister und e paar Großkopfete. Sie meinen doch, dadrinn findn's –«

»Wenn's ihnen nur net brennen!« fiel kopfnickend die ältere Bäuerin ein, »Pferdsmist wird all's, wenn man's anrührt. Dem Helm sein Alois kann derzähln –«

Der Wagenführer riß die Türe auf. Sein Gesicht glühte unter der Schmutzschicht. »Ich bring ihn net auf, er lauft net. Ein Sackermentsglump, ein siedigs. Dr G'scheitest gibt nach. I denk, ihr laufet eini« – er winkte mit der Hand die Straße entlang.

Die Stille der Entrüstung oder des Entsetzens lag erst 90 über den Fahrgästen. Dann brach der Kartenspieler los: »Jetzt grad, wo ma im Schönsten drin sind, fahrst ei'm du übers Maul, wie wenn d' alle Trümpf in der Hand hättest!«

»Hättest net no' e' wengerl probieren können!« schalt die ältere der Frauen.

»D' Mannsleut hänt kei' Geduld net,« stellte die Jüngere fest.

»Fährst net, so stinkst net,« meinte hämisch kurz und bündig der zweite Bauer und stieg aus.

Der Lehrer nahm seine Mappe. Das Häuflein setzte sich ohne Freudigkeit in Trab mit weiten, fördernden Schritten.

Massig und düster stieg jetzt aus dem Tal ein grauer Turm auf. Das schwere Quadergefüge stellte sich trotzig vor den Berghang, der ein weltfernes, einsames Dorf trug.

Der Regen hatte aufgehört; aber die Berge waren verhängt, als steige schon der Abend an ihnen hernieder.

Der Lehrer blieb stehen und besah sich das stille, schwermütige Bild. Auch die anderen hielten im Schreiten inne, obgleich sie den Grund nicht recht einsahen.

»Der dort drüben,« sagte leise der Mappenmann und deutete nach dem grauen Turm, »der könnte Geschichten erzählen.« Sie schauten alle nach dem uralten Verlies, um das die Dunstschleier woben. Keiner wagte ein Wort.

»Vor mehr als sechshundert Jahren,« fuhr der Mann fort, »lag da drinnen ein König gefangen. Friedrich hieß er, man nannte ihn den Schönen.« 91

Der Erzähler wartete ein wenig. Vielleicht auf einen Einwurf, eine Frage. Aber kein Mund tat sich auf.

»Von seiner Mutter her war er mit den großen Staufenkaisern verwandt, sein Großvater väterlicherseits – –«

Ein Schnaufen, ein Rattern kam hinter den Fünfen her. Ein Tuten erschütterte die Luft; der Autobus hielt auf der Straße.

»Laufen tut er,« schrie siegestrunken der Führer, »steigens ein, wir ham Verspätung; er lauft jetzt.«

Sie schauten einander an. Sie wollten dem Mappenmann den Vortritt lassen.

Der zog sich zurück. »Ich fahre heut nicht weiter, ich habe im Ort zu tun.«

Zögernd, enttäuscht standen sie.

»Einsteigen, einsteigen, Verspätung ham mer!«

Sie kletterten hinein. Vier Köpfe sahen aus der Tür.

»Warum haben's 'n eing'spunnen?« schrie der Kartenspieler.

»Waren's die Sozi, die elendiglichen?« rief die ältere der Frauen noch zurück.

Das Rattern des Wagens wurde stärker.

»Ist er ledig g'wen?« fragte mit fast flehenden Blicken die Jüngere in den Lärm hinein.

»Der Stinkkasten, der verflucht,« schrie der zweite Bauer aus Leibeskräften, »immer fährt der ein'm übers Maul.« Der Wagen verschwand hinter der Kehre. 92

 


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