Auguste Supper
Muscheln
Auguste Supper

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Inter confessiones

Sie waren einen weiten Weg miteinander gewandert; durch die sommerliche Landschaft, deren sanftgeschwungene Hügel das reifende Korn bedeckte. An den Rainen und Wegrändern blühten Hauhechel, Rainfarn und blaue Wegwarten. Der Wind strich über die Ährenfelder, daß sie wogten wie grüngoldene Wellen, darüber jagten die Schwalben, und hoch über allem strahlte der Sommerhimmel mit seinem tiefen Blau und seinen weichen, weißen, balligen Wolken. Jung waren die beiden; noch nicht allzu lang aus dem Lebensfrühling heraus und eingetreten in den Frühsommer. Eine kleine Kapelle stand am Wegsaum. Ein Ding wie ein getünchter Backofen mit einem eisernen Gitter als Tür und einem Betschemel davor. Drei hohe alte Bäume, die einzigen im weiten Umkreis, wölbten ihre grünen Wipfel über dem winzigen Heiligtum.

Die beiden traten hinzu und schauten durch das Gitter. Die Gottesmutter mit dem Kind lächelte im Hintergrund, und um ihre Füße her waren welkende Blumen und Zweige gebreitet. Von der blauen Wölbung der Decke hing ein Ämpelein hernieder, dessen ewiges Licht in der Armseligkeit der Zeit erloschen war, und zwischen dessen Ketten die 93 Spinnen ihre Fäden zogen. Feuchtigkeit hatte Flecken in die Tünche gefressen, und der Staub des lehmigen Weges, den der Wind durchs Gitter trieb, hockte in allen Ecken und lagerte auch in dicker Schicht auf dem Mantel Marias und auf dem nackten Körperlein des heiligen Kindes.

Stumm schauten die zwei durch die Eisenstäbe, ergriffen von der weltfernen Verlassenheit, der merkwürdigen Zeitlosigkeit und tiefen Ruhe des ländlichen Heiligtums, über dem die Wipfel im Winde rauschten.

Der eine, größere der beiden, kniete sich jetzt auf den Betschemel. »Es ist bequemer so,« sagte er wie aufmunternd zu seinem kleineren Gefährten, dessen Blick ein wenig verwundert, ein wenig befremdet auf dem Knienden ruhte.

Da ließ auch der zweite sich nieder, und sie hielten beide die unbedeckten, kurzgeschorenen Köpfe gesenkt und die gefalteten Hände auf der Brüstung des Betschemels.

Merkwürdig – stundenlang waren sie miteinander gewandert, seit sie sich in der kühlen Frühe auf der kleinen Station als zwei fremde Gesellen getroffen hatten vor der Wegtafel, die dort Bescheid gibt. Sie hatten sich gegenseitig verstohlen gemustert, hatten ein tastendes Wort herüber und hinüber gewagt und dann den Weg unter die Füße genommen, als gehörten sie zusammen. Von tausend Dingen hatten sie geredet unterwegs, nicht zum wenigsten vom deutschen Leid und seinem giftigen Stachel: der deutschen Uneinigkeit. 94

Sie waren beide im Feld und vor dem Feind gewesen, beide vom Kriegssturm durch die halbe Welt gejagt worden, beide wie durch ein Wunder unversehrt heimgekehrt, beide, wenn nicht verbittert, so doch gequält und angewidert von allem Schmachvollen, was nach dem Ruhmvollen geschehen war. Und sie hatten sich beide, wie aus zwingendem Selbsterhaltungstrieb heraus, von dem häßlichen Getriebe einer kranken Zeit weggewendet und bei der Natur, auf einsamen Wanderungen und weiten Gängen Erholung und Ruhe gesucht, so oft ihr Beruf es erlaubte. Aber ob sie das alles nach und nach voneinander erfahren oder sich gegenseitig abgespürt hatten, und ob es ihnen ausgereicht hatte für die gemeinsame Wanderung – jetzt auf dem Betschemel und vor der stillen Kapelle war es ihnen plötzlich, als seien sie sich wildfremd, jeder in seine eigene Einsamkeit hineingebannt.

Ohne daß sie es recht begriffen, dämmerte es ihnen auf, daß gemeinsame Schicksale, gemeinsame Neigungen, gemeinsame Wege noch lange nicht letzte Gemeinsamkeit seien. Daß der geheimnisvolle Punkt, wo das Einswerden möglich wird, immer weiter zurückweicht, je näher man ihm zu kommen meint.

Wie sie da knieten, zwei junge, vom Wanderstaub bedeckte, wegmüde Männer, über denen der Wind in den mächtigen Baumkronen rauschte, da mußten sie sich, ob sie wollten oder nicht, plötzlich auf sich selbst zurückwenden, wie Schnecken in ihr Haus. 95

Es war, als wehe ein kühler Hauch aus der kleinen Kapelle. Ein Hauch, unter dem alles Nebensächliche, Zufällige, von außen Kommende zerfloß wie ein Nebel, so daß nur noch ein innerster Kern blieb, ein ganz Eigenes, das keiner dem anderen zeigen konnte.

Lang knieten sie so. Sie dachten vielleicht, daß sie nur das rührend schlichte Heiligtum betrachteten, die Zeichen und Spuren naiver ländlicher Frömmigkeit leise belächelten oder die Stimmung des stillen Ruheortes auf sich wirken ließen – aber ihre Seelen erlebten derweil etwas ganz anderes. Der Blick des Größeren fiel jetzt auf den Kleineren. Das tiefe Hingenommensein des Gefährten erschreckte ihn fast. Ach so, dachte er, ein treuer Sohn der alleinseligmachenden Kirche! Ein leises Unbehagen wollte in ihm aufwallen. Aber schon beschlich es ihn wie Rührung, daß ein Mann, der sich mit dem Leben und dem Tod herumgeschlagen, wie ein Kind vor einem Muttergottesbilde knien konnte. Warm wallte es in ihm auf. Etwas zulieb tun, ein Zeichen des Verständnisses hätte er dem Weggefährten geben mögen.

Unverschlossen sah er das Gitter. Er trat hinzu und tat es auf. Die welken Blüten und Zweige nahm er vor dem Bilde weg, er blies den Staub vom Jesuskind und vom Mantel der heiligen Mutter. Dann holte er Wegwarten vom Rain und steckte die lichtblauen Sterne überall hin, wo sie Platz hatten.

Stumm und verwundert sah ihm der andere zu. Also er 96 ist Katholik, der Mann, dachte er; merkwürdig, wie diese Kirche ihre Leute im Bann hat! Ist dieser Mensch jahrelang in der Welt und im wildesten Geschehen umhergewirbelt worden und schmückt und säubert nun eine Kapelle am Weg! – Er wollte lächeln und konnte doch nicht und fühlte doch nur etwas wie Neid auf den kindlichen Sinn des Gefährten. Leise stand er auf und trat neben den anderen in den kleinen heiligen Raum. »Schön haben Sie das gemacht,« sagte er mit unterdrückter Stimme, »kann ich nicht auch etwas tun? Ich bin zwar ein Sohn Kalvins, aber Sie werden nicht den Ketzerrichter spielen wollen!«

Der andere, der eben das ewige Licht säuberte, gab dem Ämpelein einen Stoß, daß es fröhlich zu schwingen anfing. »Ich werde mich hüten,« sagte er mit leisem Lachen, »mir ist der Luther Pate gestanden.«

Als die zwei ihre Straße weiterzogen, prangte die Kapelle in Sauberkeit und frischem Blütenschmuck. Leicht mag auch aus ihren Seelen eine Handvoll Wegstaub verschwunden und ein grünes Kränzlein, ein buntes Blümchen darin aufgeblüht sein. 97

 


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