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Die neue Methode.

Der Gemeinde Altshausen war er als Stütze und zeitweiliger Stellvertreter des »steinalten« Pfarrers zugeteilt. Steinalt ist für einen Vikar, der in der Blüte der Zwanzig steht, jeder Seelenhirte von sechzig Jahren.

Und solch ein steinalter Mann hat naturgemäß ganz veraltete Ansichten, eine veraltete Art zu predigen, zu denken, zu wirken; eine veraltete Technik möchte man sagen, wenn dieser Ausdruck in Bezug auf das geistliche Amt gestattet ist. Der Vikar wunderte sich daher nicht, daß die Altshausener waren, wie sie eben waren. In stumpfer Alltäglichkeit rackerten sich diese Bauern ab. Die sonnverbrannten, hageren Männer, die abgearbeiteten, schon in der Jugend unjungen Weiber, ja die flachsköpfigen Kinder waren für nichts zu haben, was nicht mit Kartoffeln, Korn und Rüben, mit Stall und Scheune, Hopfen und Flachs zusammenhing.

Da gehörte eine frische Kraft her, ein frischer, fröhlicher Wind, der die schwülen Dünste der Werktäglichkeit aus den Altshausener Herzen und Köpfen trieb und ein würdigeres Menschentum aufleben ließ. Immanuel Winter, der Vikar, würde diese Kraft sein. Er würde die Rolle des säubernden Windes, ja Sturmes spielen, wo es not tat. Er würde eine neue Methode einführen im Altshausener Pfarramt. Der alte Pfarrer Holder – je nun, der predigte schlicht und recht, verwaltete eine Ortssparkasse, hatte für alle Leibesgebresten im Dorf etwas im Arznei- oder im Küchenkasten, besorgte seine und des halben Dorfes Bienen, rauchte Pfeife und lobte die Altshausener als die fleißigsten Bauern im Umkreis.

Lieber Gott, das war ja alles ganz schön und gut; aber fleißig sind auch die Ameisen, und zum Imkerspielen brauchte man nicht Theologie studiert zu haben und – kurzum, Immanuel Winter wußte, was in Altshausen seine Mission war.

Schon im eigenen Hause des alten Holder gab's keine rechte Zucht. Die Jungfer Lene, die seit der Pfarrerin Tode das Hauswesen führte, war eine schreckliche Person.

Den Empfang seinerzeit würde Immanuel Winter nie vergessen. Als erste trat ihm die Lene entgegen, schüttelte ihm die Hand und sprach wörtlich: »So, send Se do? Jetzt ganget Se no meim Herra fest an d' Hand, er ka scho a Hilf brauche. I glaub', wenn i net so draufnaufg'sessa wär, hätt' er sich no' kein Vikar ei do. So ischt er!«

Lachend rief der Pfarrer von der Treppe her: »Willkommen, Herr Amtsbruder! Schöner als die Lene hätte ich das Nötige auch nicht sagen können.«

Das war der Empfang.

Am anderen Morgen rief die Pfarrmagd vor des Vikars Tür: »Um halb siebene trinke mer Kaffee.«

Immanuel Winter blieb zwar ostentativ bis sieben Uhr liegen; aber er wurde seines Sieges nicht froh, denn er bekam den Kaffee kalt, die Milch mit einer Anzahl ertrunkener Fliegen darin.

Und so geschah es täglich. Ja, er hatte das holde Wesen im Verdacht, daß sie den braunen Trank im kalten Wasser extra abkühle und sich der Mühe des Fliegenfangens unterziehe, dieweil schon eine Verspätung von einigen Minuten die angedeuteten Folgen hatten.

So störrisch und zuchtlos war der Geist des ganzen Dorfes.

Da war zum Beispiel der Polizeidiener. Immanuel Winter hatte ihn schon wiederholt gebeten, den Kirchplatz und die nächste Umgebung reiner fegen zu lassen. »Geht mi' nix a,« sagte frech der Mensch. Der Vikar wandte sich an den Schultheißen: »In der Ernt' tut's au so,« erwiderte der unbewegt.

Dann der Nachtwächter! Auf einem uralten Horne tutete er bei jedem nächtlichen Stundenschlag und sang danach mit krächzender Stimme seine von den Vorvätern überkommenen Reime.

Zuerst gefiel dem Großstadtkind der Brauch. Er fand ihn ehrwürdig und reizvoll. Aber da des Vikars Schlafzimmer zu ebener Erde gegen die Straße lag und der Nachtwächter eine sehr gute Lunge hatte, stumpften sich die Reize des nächtlichen Rufens bald ab. Immanuel Winter bat den Sänger, dreißig Schritte besser oben oder unten in der Gasse zu rufen. Aber siehe da, es erwies sich, daß just vor dem Pfarrhaus der einzig mögliche Platz sei. Das sei Brauch, und gegen den Brauch kann und will und darf kein Nachtwächter vorgehen.

Nun, das waren ja Kleinigkeiten; aber Kleinigkeiten, die ganze Bände sprachen, wenn man zu hören gewillt war.

Pfarrer Holder kam leicht darüber hinweg. Er qualmte ruhig aus seiner Pfeife und sagte: »Nur ruhig Blut, lieber Herr Amtsbruder. An der Bauern Fehler lernt der Pfarrer. Die Altshausener Dickschädeligkeit hat mir in dreiunddreißig Jahren ein ganz respektables Stücklein eigener Dickschädeligkeit abgetan.«

Immanuel Winter fuhr empor. War das auch eine Auffassung des Hirtenberufes? War anerkannten Schäden in der Gemeinde gegenüber diese träge Passivität am Platze? War das nicht Lässigkeit im Dienste Gottes?

»Herr Pfarrer,« brach er los, »ich weiß es wohl, daß wir an den Fehlern anderer lernen können und sollen; aber ich weiß auch, daß wir nie aufhören dürfen, diese Fehler als solche zu brandmarken und, gestützt auf Gottes Wort und unseres Amtes Gewalt dagegen zu eifern. Und wenn ich dreiunddreißig Jahre –«

Pfarrer Holder nickte mit dem weißen Kopfe so freundlich und zustimmend, als habe ihm sein junger Vikar mit dem Ausgesprochenen sowohl als mit dem Verschluckten die schönste Anerkennung gesagt. »Ja, mein Lieber, wenn Sie einmal dreiunddreißig Jahre in Altshausen sind, dann wird manches anders sein. Wenn ich dreiunddreißig Jahre zurückdenke, ist mir gar vieles verwunderlich. Ich meine dann, nicht nur für den einzelnen unter uns Altshausenern, sondern auch für das ganze liebe Dorf gelte es: Bis hierher hat der Herr geholfen!«

Die klaren Augen des Pfarrers schauten vergnüglich auf den Vikar, und diesem war es, als müsse er sich innerlich förmlich wehren gegen dieses krasse Mißverstandenwerden.

»Wissen Sie,« fuhr der Greis gemütlich fort, »das kleine Sprüchlein ist mir lieber und paßt für mich alten Mann besser, als wenn ich sagen wollte: dies und das habe ich gesäet, und dies und das ist aufgegangen!«

»Das Aufgehen liegt in Gottes Hand,« sagte voll Salbung und Würde der Vikar; aber guten Samen streuen, begießen und jäten, das können und sollen wir, die Diener am Worte.«

Pfarrer Holder nahm jählings seinen Vikar am Arm und deutete durchs Fenster in den Garten. »Dort in dem Beete hinter der Buchshecke habe ich eigenhändig zwei Reihen Spinat gesät, Herr Amtsbruder. Die Lene jätet und gießt, und die grünen Blättchen keimen und wachsen. Jetzt sehen Sie hin! Sehen Sie hin, wie der Schnauzel drin wühlt und scharrt, weil er ein Mäuslein spürt. Sehen Sie, wie die Erde fliegt unter den scharrenden Hundepfoten und die grünen Blättlein mit!« Der Alte pfiff durch die Finger dem Hunde, dann fuhr er ruhig fort: »Feldmäuse und Schnauzeln, Engerlinge und Platzregen – das sind alles Dinge, die nicht einmal ein Pfarrer in der Hand hat. Ja, er kann sogar nicht wissen, ob nicht schon unter dem Samen, den er säte, Keime künftigen Unkrauts waren.«

Immanuel Winter lachte kurz auf: »Das ist eine bequeme Art, den geistlichen Beruf aufzufassen,« sagte er fast heftig.

Der Pfarrer zuckte die Achseln: »Die Dinge auffassen, wie sie nun mal sind, ist überhaupt immer das Bequemste. Wenn Sie mir das heute aufs Wort glauben wollten, Herr Amtsbruder, könnten Sie sich sicher manches teure Lehrgeld ersparen. Und ist es denn gar so unwürdig, wenn ein Pfarrer sagt: ›Die Hauptsache am Ganzen bin ich nicht, die Schnauzeln und die Engerlinge und tausend andere sogenannte kleine Dinge spielen neben mir auch eine Rolle‹?«

Der Vikar schüttelte das glattsträhnige, lange Haar von der Stirn zurück und entgegnete im Aufstehen: »Von sich, von seiner Person mag das der Pfarrer sagen, aber sein Amt darf er mit all dem Kleinen nicht in eine Reihe stellen. Doch Sie entschuldigen mich jetzt, Herr Pfarrer, ich muß mich hinter meine Predigt machen.«

Der alte Mann schloß hinter dem jungen die Tür und streichelte dann dem schmutz- und erdebedeckten Rattenfänger, der sich hereingedrängt hatte, das Fell. »Schnauzel, Schnauzel, hast was Dummes gemacht und hast doch das Rechte gewollt! Bist eben noch jung, Schnauzel, noch gar so jung! Kannst noch kein Mäuslein laufen lassen, auch wenn du mehr Schaden stiftest beim Fange.«

*

Zwischen den Buchshecken des Pfarrgartens schritt der Vikar auf und ab und memorierte seine Predigt. Lukas zwölf war sein Text. Ein sehr guter Text, der just etlichen von den Kapitalfehlern der Altshausener an die Wurzel ging. Der Altshausener und ihres Pfarrers! »Ich bin kommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden!« Ja, du alter Herr, ein Feuer will Gott sehen; brennenden Eifer um seine Sache; nicht deine laue Friedfertigkeit, die der Mantel ist für innere Trägheit. Und, ihr Altshausener, merket auf! »Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen sollet, auch nicht für euern Leib, was ihr anziehen sollet. Das Leben ist mehr denn die Speise und der Leib mehr denn die Kleidung.«

Ihr Werktagsmenschen mit euren Werktagsgedanken, höret es: »Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.« Immanuel Winter kam jetzt ins Feuer, das ganze lange Kapitel erschien ihm heute wie ein blitzendes Rüstzeug für den Streit, der entbrennen sollte. Wo solche Schwerter aus der Scheide flogen wie diese aneinander gereihten Worte des Menschensohnes, da konnte der Sieg nicht zweifelhaft sein. Rascher schritt er dahin, und der stille, einsame Garten ward ihm zur Kirche.

»Ihr lasset euch vom Alltag nicht nur den Leib, nein, ihr lasset auch die Seele knechten. Wißt ihr, was allen Segen von der Arbeit streift? Wenn man sie zu seinem obersten Hausgötzen macht, vor dem man opfert Tag und Nacht. Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe. Eines aber ist not! Aufrecht geht der Mensch, nicht erdwärts gewandt wie alles Getier. Der Schweiß auf euren Stirnen läßt euch die Himmelsluft nicht achten, die um Menschenstirnen weht. Aufwärts richtet den Blick – suchet was droben ist!«

Durch die ganze ansehnliche Länge des Pfarrgartens schritt der Vikar im Eifer des Lernens.

Eine dichte, halbmannshohe Weißdornhecke schloß gegen die Landstraße hin ab.

Am niederen Raine, der zwischen Straßengraben und Gartenhecke sich hinzog, kletterte des Nachtwächters Jüngster, der Paule, und suchte nach Raupen. Wo Wolfsmilch wuchs und wilder Thymian und Pfefferminzkraut, da witterte der flachshaarige, barfüßige Kerl ergiebige Jagdgründe.

Laut klangen die Worte des Vikars über die Hecke. Dem Buben begann plötzlich das kleine Herz zu schlagen. Der da drinnen, das war gewiß »der Neue«, von dem Vater gestern gesagt hatte, er sei ein Scharfer, den »geniere die Muck an der Wand«. Und Hans Adam, der Polizeidiener, fügte noch bei: »Der möcht' gern 's Unterst z' oberst kehre.«

Der Raupenfang hinter dem Pfarrgarten galt ja bis heutigentags als etwas Erlaubtes in Altshausen; aber wer konnte wissen, wie »der Neue« darüber dachte. Dem Schulzen-Josephle hatte er »eine hing'haut« wegen einem lumpigen Spatzennest.

»Suchet, was droben ist!« klang es streng, drohend fast von da drinnen, und die Tritte im knirschenden Sande kamen ganz nahe.

Der Junge hinter der Hecke duckte sich ängstlich zusammen. Die Raupen, die waren nun mal nicht droben; die krochen zwischen dem Thymian über die rissige Erde, und hier galt es, sie zu suchen. Und das mit dem Spatzennest hoch oben am Scheunendach, das war auch nicht recht gewesen.

Gott sei Dank, die Schritte entfernten sich wieder, ohne daß der Gestrenge über die Hecke geblickt hätte.

Scheu, den Kopf geduckt, rannte Paule im Straßengraben aus dem Bereich des Pfarrgartens. Eine einzige Raupe des Wolfsmilchschwärmers trug er als Beute heim.

Das barsche: Suchet, was droben ist! lag ihm dräuend im Ohr.

Immanuel Winter schritt seinen Weg zurück, der Laube zu. Aus der Buchshecke, die die Beete säumte, glänzte ihm etwas entgegen. Er bückte sich danach und hob ein Stückchen blauen geschliffenen Glases auf, das wohl einst zu einer Vase oder Schale gehört hatte.

Er mußte leise lächeln, indem er den glitzernden Fund betrachtete. Das waren die Güter dieser Erde, um die sich die Menschen abplagten und absündigten. Sie lockten irgendwo und schillerten. Und wenn man sie dann endlich in der Hand hielt, dann erwiesen sie sich als wertlose Scherben, die wohl verletzen aber nicht bereichern konnten. In weitem Bogen warf Immanuel Winter seinen Fund über den Pfarrgarten hin in den Staub der Straße. Seine Augen glänzten, er atmete tief auf. War ihm doch, als habe er eben eine symbolische Handlung vollbracht.

In der geräumigen Laube, die der frühere Pfarrherr nach Maßgabe seiner acht Kinder hatte errichten lassen, saß der alte Holder im Korbstuhl, trank Apfelmost und rauchte Pfeife. Der Vikar hatte jedesmal etwas hinunterzuwürgen, wenn er den Mann so eingehüllt in zufriedenes Behagen vor sich sah. Mensch sein und gar Pfarrer sein, heißt doch ein Kämpfer sein! Und dazu Pfarrer einer so gleichgültigen, erweckungsbedürftigen Gemeinde.

Der Alte schob dem Vikar einen Stuhl zu. »Machen Sie sich's bequem, lieber Herr Amtsbruder!«

In Immanuel Winter gärte die merkwürdige Gereiztheit. »Es ist Samstag heute,« sagte er kurz. Aber es lag eine Fülle von entrüsteter Zurückweisung in den paar Worten.

Der Pfarrer nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte laut. »Dasselbe sagt die Lene schon dreiunddreißig Jahre, so oft ich an diesem gesegneten Wochentag etwas von ihr will. Sind Sie mit der Predigt noch im Rückstand? Wollen wir ein Wörtchen darüber reden? Ich kann Ihnen vielleicht einen Wink geben da oder dort. Ich kenne meine Bauern. Jetzt, in der Ernte, muß man ihnen auf ganz besondere Art predigen, sonst – Gott verzeih mir's, aber es ist so – sonst schlafen sie wie die Dachse.« Wieder lachte der Pfarrer, als habe er eben einen guten Witz erzählt.

Immanuel Winter blickte starr in das grüne Blattwerk der Laube. Er kannte »die besondere Art«: Schreien, Gestikulieren, auf die Kanzel schlagen! Diese ganze alte Schule, die nicht ahnte, daß die zwingende Macht des schlichten, durchdachten Wortes allein aufrüttelnd wirken kann und soll. »Danke bestens, Herr Pfarrer,« sagte er kühl; »ich werde mich bemühen, so zu predigen, daß die Leute nicht einschlafen, beziehungsweise, daß die Schlafenden wach werden.« Der Nachsatz klang ausgesprochen aggressiv; aber der Pfarrer schien das nicht zu fühlen.

»Hm,« sagte er und qualmte stärker, »geben Sie sich keiner Täuschung hin! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach bei meinen müden Altshausenern. Und wenn sie erst einmal schlafen, dann weckt sie vor dem letzten Amen die feinste Rhetorik nicht. Deshalb darf man es nicht erst so weit kommen lassen.«

»Ja,« gab der Vikar feindselig zurück, »man darf es nicht so weit kommen lassen! Den Leuten hier ist das Göttliche merkwürdig fremd. Wenn sich die Predigt um Dreschmaschinen oder Schweizer Kühe drehen würde, dann schliefe wohl keiner.«

»Garantieren möchte ich nicht,« meinte kaltblütig der Pfarrer. »Aber daß den Altshausenern das Göttliche fremd sei, Herr Vikar, das ist ein Irrtum. Die tägliche Kost ist ihnen Arbeit und wieder Arbeit; aber der eiserne Bestand, das, auf was sie sich getrost verlassen, das ist ihnen der Herrgott. Sie wissen, daß sie ihn zur Hand haben; aber vergeuden tun sie ihn nicht, so wenig wie sie ihn unter alles hineinmengen.«

Der Vikar strich die Haarsträhne aus der geröteten Stirn. »Das ganze Leben soll im göttlichen Lichte stehen,« beharrte er.

Der Alte stocherte an seiner Pfeife herum und sagte ruhig: »Ein Pfarrer, der Predigten macht, und ein Bauer, der Garben lädt, das werden all sein Lebtag zwei verschiedene Dinge bleiben.«

Immanuel Winter setzte sich sehr gerade. »Sie ziehen meine Worte ins Lächerliche. Gottesdienst ist an keine Art von Arbeit und an kein Amt gebunden, Gottesdienst ist –«

»Auf seinen Weg sehen, seinen Nächsten lieben und heimwärts wandern durch dick und dünn,« vollendete freundlich und unbeirrt der Pfarrer.

Es klang eigentlich wie ein Schlußwort; aber der Vikar war zu sehr im Zuge und konnte nicht so schnell anhalten. »Ja, heimwärts wandern, das ist es ja eben! Aber hier hängen die Leute doch nur am Irdischen!«

»Halt, halt, halt,« sagte der Pfarrer und hob wie zur Abwehr die Hand. »Sie schießen daneben, lieber Herr Amtsbruder. Am Irdischen hängen meine Bauern nicht! Das Irdische hängt an ihnen! Das ist zweierlei, Herr! Wenn es ans Sterben geht, weist sich der Unterschied aus. Ich bin schon neben manchem gestanden. Keiner hat gejammert um Hab und Gut. ›Herr Pfarrer, jetzt wird's Feierobed,‹ haben sie gesagt und haben sich auf die Ruhe gefreut. Das war mir, weiß Gott, jedesmal lieber, als wenn sie vom himmlischen Jerusalem geredet hätten.«

»Ich werde morgen reden von dem, das droben ist,« sagte nachdrücklich der Vikar, und er nagte dabei, ohne daß er es wußte, an den Fingernägeln. Als kleiner, nervöser Junge hatte er die Gewohnheit angenommen und sie nie wieder ganz ablegen können.

»Sie müssen das nicht tun, es ist unschön und nicht gesund,« sagte mild tadelnd der Pfarrer. »Ich meine das Nagen an den Fingernägeln natürlich,« fuhr er beschwichtigend fort, als er sah, wie der Vikar aufbrausen wollte. »Das andere ist gut, ganz gut. Ich weiß mir kaum einen schöneren Text als den morgigen. Das Liebste aber im ganzen Kapitel ist mir doch immer wieder die Stelle von den Sperlingen und von den Haaren auf unserem Haupte, die alle gezählt sind.«

»Gerade diese Stelle ist aber wohl nicht wörtlich zu nehmen,« meinte Immanuel Winter von oben her und erhob sich, weil die Pfarrmagd unter die Tür trat.

Der Pfarrer lächelte hinter ihm her: Der mächtige Elefant fürchtet die winzige Maus, dieser grimme Elias die Pfarrmagd, dachte er.

Lene winkte mit dem Kopfe nach dem Davonschreitenden: »Der gäb' en gute Prälate,« sagte sie ohne weitere Begründung.

*

Hell tönten die Glocken über das Tal und füllten es bis hinüber zu den Berghängen mit frommen, lockenden Klängen.

Da und dort lag schon die reife Frucht zu goldenen Schwaden hingemäht auf der heißen Erde, über der leuchtend und festlich die Augustsonne ihre Bahn zog.

Erntewetter, dachten die Männer im Dreispitz und Tuchrock, die Weiber in Bänderhaube und Flanellmieder, die mit schweren, weiten Bauernschritten zum Gotteshaus wanderten. Garbenwagen und Scheunentennen und die ganze Fülle der drängenden Arbeit zerrte bei solchem Wetter an den schweigend Schreitenden. Der Sonntag mit seiner aufgezwungenen Ruhe kam ungelegen dazwischen.

Erntewetter, dachte Immanuel Winter beim kurzen Gange vom Pfarrhaus zur Sakristei. Der sonnenhelle, festliche Tag mußte ja die Menschenherzen weit und froh machen, daß sie bereit waren, das Gute aufzunehmen, das er, der verordnete Hirte dieser Gemeinde, streuen wollte mit vollen Händen.

Frisch und kühl war es anfänglich zwischen den gelbweißen Wänden des schmucklosen Gotteshauses, bis allmählich der Schweiß und Dunst der vielen arbeitsmüden Leute auch hier herein einen Hauch des schweren Alltags trug.

Der Vikar auf seiner Kanzel spürte diesen Hauch. Als wittere er den gehaßten Feind, so hob er nach und nach die Stimme, so spähte er scharf über die Reihen der Bauern.

Schultheiß und Gemeinderat saßen vorne an. Die kurzgeschorenen weißen Köpfe waren tief geneigt. Dann und wann nickte einer wie in voller Zustimmung zu den Worten von der Kanzel.

Die Weiber im Schiffe hatten die breiten, taffetseidenen Haubenbänder über die Achseln in den Schoß gelegt; die braunen, abgearbeiteten Hände lagen lässig gefaltet daneben. Von den wetterzernagten Gesichtern waren die wohlgenetzten Haare straff unter die Hauben zurückgezogen, und die Seitenbänder dieser steifen, spitzen Hauben deckten Schläfen, Ohren, Wangen und das halbe Kinn, als gelte es, sich gegen grimme Kälte zu schützen. Bisweilen hob eines der Weiber die Hand, um mit dem sorglich gefalteten, weißen Tüchlein über das feuchte Gesicht zu wischen. Müde sahen alle diese Leute aus, Männer wie Weiber; das Reglose in ihrer Haltung schmeckte mehr nach Erschöpfung als nach Andacht und Ergriffenheit.

Im vergitterten Pfarrstuhl saß Holder und hinter ihm Jungfer Lene. Die Verhaßte schlief, das war nicht zu verkennen. Der alle Herr schaute mit hellen Augen auf seinen jungen Stellvertreter; und ein leises Lächeln lag auf dem glattrasierten Gesicht. Vielleicht ein schadenfrohes Lächeln, weil die kurzgeschorenen Köpfe und die spitzen Hauben so tief gesenkt waren?

Ohne daß er es wollte, ja fast ohne daß er sich dessen bewußt ward, schlug des Vikars Rechte auf die Kanzel, und die Stimme klang schroff und drohend. Sie sollten nicht einschlafen, die Leute da drüben und da unten, sie sollten nicht!

Sprühend flogen des Eiferers Blicke über die Reihen, und siehe da: auf der Bank vor der Orgel, hinten auf der Empore, wo die jüngeren Schulbuben saßen, war etwas nicht in Ordnung. Geschlafen wurde dort nicht, aber aufgemerkt noch weniger.

Der flachsköpfige Schlingel in der Weste mit den blauen Glasknöpfen, das war der Unruhestifter. Warte du!

Als er in der Sakristei den Talar ablegte, hörte Immanuel Winter die schweren Schritte der Bauern über den Friedhof stapfen. Die Türklinke in der Hand stand er und lauschte den murmelnden, rauhen Stimmen da draußen. Ob sie jetzt wohl feine Predigt kritisierten? Eindrücke austauschten?

Einer sagte: »Vom Feldg'schäft hält der Vikar net viel.« – »Der versteht des ebbe net so; wenn mir net so schaffe tätet, hättet d' Stadtleut nix z' esse,« gab ein anderer zurück.

Also so faßten diese Leute sein Eifern gegen ihre Werktäglichkeit auf!

Den Hut in der Hand, daß sein heißer Kopf verkühle, trat Immanuel Winter hinaus auf den Friedhof. Er schrak fast zusammen, als er zwei dunkle Gestalten reglos nahe an der Kirchenmauer stehen sah.

Pfarrer Holder war es und die Lene.

Unwillkürlich blieb der Vikar stehen. Da winkte ihm der alte Herr.

»Da schläft sie,« sagte er leise, auf das grüne Grab zu seinen Füßen deutend.

»Do leit unser Frau,« sagte die Lene noch leiser.

Dann bückten sich die beiden und brachen je ein blühendes Zweigchen ab. Sachte schlichen alle drei jetzt davon, als gelte es, ein schlafendes Kind nicht zu wecken.

»Sonntags nach der Predigt fehlt sie mir am meisten,« murmelte der Pfarrer.

»Se hot's immer glei' g'merkt, wenn ebbes net recht g'wese ischt,« warf Lene ein, »i merk's lang net so!«

Der Pfarrer verzog keine Miene; er hörte offenbar gar nicht, was die alte Magd sprach. Mit verdunkeltem Blicke sah er auf den Weg. Von der heutigen Predigt Immanuel Winters war nicht die Rede.

*

Im Hause des Nachtwächters gab's Sturm.

Die Pfarrlene war dagewesen und hatte den Paule vorgeladen. Heute nachmittag sollte er in den Pfarrgarten kommen zum Vikar. Die Magd wußte nichts Näheres; aber »wütig« sei der Vikar.

Der Nachtwächter schüttelte erst seinen bestürzten Buben, dann schlug er auf den Tisch und redete sich in Zorn gegen den »Neuen«. Was der noch alles einführen wollte in Altshausen! Da könnte man meinen, die Altshausener haben nur auf den Vikar mit seinem »Mädlesg'sicht« gewartet. Vorher war auch eine Ordnung gewesen, eine bessere Ordnung sogar. Kujonieren läßt man sich nicht! Der Herr Pfarrer hat doch auch die kleinen Buben nicht vorgeladen. Aber so einer – der noch einem alten Nachtwächter sagen will, an welchem Platz er zu rufen hat!

Lene stand die ganze Zeit unter der Tür und strich ihre Schürze glatt. Ihr Mann war ja dieser Vikar gewiß auch nicht; aber das ging den Nachtwächter nichts an. »Machet's, wie Ihr wöllt! I han mei' Sach' ausg'richt'!« sagte sie und ging davon.

Der erboste Mann ordnete an, daß der Paule, wie er eben von der Gasse hereingerufen worden war, im »Sonntichnochmittagskittel« und barfuß in den Pfarrgarten gehen sollte. Das war eine Demonstration, die dieser Vikar verstehen mußte.

In dem Jungen regte sich die Ehrfurcht vor dem Pfarrhaus.

»Vatter, d' Stiefel tu i a!« sagte er schluchzend.

»Und i sag', du gohst barfuß!«

»Vatter, wenn i aber in ebbes 'nei' tret'?« Es klang ganz hilflos, wie man nach dem letzten, schwachen Strohhalm greift.

»Domm's Zeug!« schrie grimmig der Vater und schob den Jungen zur Tür hinaus.

Mit verweintem Gesicht und klopfendem Herzen schlich Paule davon. Es war ihm, als habe ihn der liebe Gott heute ganz und gar verlassen und feindlichen Gewalten preisgegeben.

Sein ganzes vergangenes Leben ließ er an sich vorüberziehen. Er fand genug der Missetaten; aber es waren nur solche, von denen der »Neue« nach Lage der Sache nichts wissen konnte. Hatte er denn gestern doch vielleicht über die Hecke geblickt und den zusammengeduckten Buben gesehen?

Am Schulhaus führte der Weg vorüber. Dicht unter dem Fenster, unter dem allsonntäglich der Schulmeister lag, die lange Pfeife über den Sims baumeln ließ und die Vorübergehenden ausfragte, woher und wohin.

Scheu blickte Paule schon von weitem nach der gefährlichen Stelle. Das Fenster war leer. Da fing er zu laufen an, daß der Staub hinter ihm wirbelte.

Die versteckte, wenig benützte Pforte in der hinteren Hecke des Pfarrgartens schien dem Jungen passend für lichtscheue Angelegenheiten wie die seine.

Schon war er nahe am Ziele, da – ein stechender Schmerz im nackten Fuße. Paule rannte weiter, er war noch ganz im Schuß. Aber auf den linken Fuß konnte er nicht mehr auftreten. Wie Feuer brannte die Sohle.

Mit einem leisen Wehruf warf sich der Junge auf den Rain, an dem er gestern nach Raupen gesucht hatte. Erst lag er sekundenlang ganz still und starrte in den blauen, sonntäglichen Himmel hinauf. Die großen, verdächtig blanken Augen sprachen etwa: Meim Vater g'schieht's recht, i han 's jo glei' g'sagt.

Dann richtete er sich auf, zog das linke Bein mit leisem Wimmern aufs rechte Knie und besah sich den Schaden. Ein kleines, scharfes Stückchen blauen Glases steckte, von Blut umrieselt, in der Wunde der Fußsohle.

Mit zitternden Fingern nahm es der Junge weg. Dann sah er den Blutstropfen zu, die wie frischrote Perlen hervorsickerten, ein vielgewundenes Rinnsal über die staubweiße Sohle zogen und an den Kniebändern der Lederhose hinuntertropften in die violetten Thymianblüten.

Wieviel helles rotes Blut wohl in solch einem Fuß drin sein mochte? Paule beschloß zu warten, bis der letzte Tropfen herauskäme. Weh tat die Sache jetzt nicht mehr. Und das Stückchen Glas war sehr hübsch. Wenn man hindurchblickte, sahen Himmel und Erde und der blutende Fuß ganz blau aus. Warum der liebe Gott die Welt wohl grün und weiß und bunt erschaffen hatte! Blau war sie doch viel, viel schöner!

Plötzlich schrak Paule zusammen. Er hörte Leute kommen. Altshausener, die am Sonntag feiernd hinauswanderten zu ihren Äckern, auf denen sie die Woche hindurch im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet hatten.

Seit Gott dazumal am siebenten Tage seiner Hände Werk zufrieden betrachtet hat, ist es beliebter Menschenbrauch geworden, es ihm nachzutun.

Paule lief gegen die Gartenpforte und schlüpfte hinein. Niemand sollte ihn fragen: Was tust du da? Seine blutige Fußspur sah man nicht im blühenden Krautwerk des Raines. In der Laube oben hörte er sprechen. Es kroch ihm eiskalt über den Rücken. Dort sollte sich sein Schicksal entscheiden. Schweiß trat auf die sonnverbrannte Bubenstirn und perlte langsam am Stumpfnäschen herunter.

Seltsam! Dem Paule war es plötzlich, als rinne ihm Blut aus der Stirn und Blut aus den Händen, Blut überall. Und dabei sah die ganze Welt und der ganze Pfarrgarten doch blau aus.

Und jetzt stand Paule in der Laube und vor dem Vikar. Streng ruhten die Augen des Gefürchteten auf des Buben Gesicht, und diesem schien es, als würden diese Augen immer größer und zuletzt ganz feurig gelb wie riesige Eulenaugen.

»Junge, was hast du heute früh in der Kirche für Allotria getrieben?« tönte es schreckhaft an Paules Ohr.

Er wollte antworten, aber es fiel ihm nichts ein. Die »feine« Raupe des Wolfsmilchschwärmers, die Beute von gestern, hatte er den Buben gezeigt; aber Allotria hatte er ganz gewiß nicht getrieben. Er wußte überhaupt nicht, wie man das machte. Und besinnen konnte er sich jetzt auch nicht, wegen dem Blut, das über die Stirn lief.

»Weißt du, Schlingel, ein einziges Wort von der Predigt?« klang es jetzt noch viel drohender.

Paul lehnte am Türpfosten. In seinem Kopfe wirbelte es. Ihm war, als suche er Raupen am grasigen Rain, und als komme eine Stimme hinter der Hecke näher, immer näher, und diese Stimme sagte das, was der Vikar wissen wollte.

Ach, wenn es ihm doch jetzt einfiele!

Mit kalkweißem Gesicht stand der Bub' und suchte in seiner Erinnerung.

Da schob ihn jemand beiseite. Gläser und Tassen klapperten auf dem Tische. Die Pfarrlene sagte laut und rauh: »Lasset Se doch des Büeble laufe, Herr Vikar! So Sache vergißt e Kind.«

Der Vikar fuhr auf: »Sie nehmen ihn in Schutz, weil Sie selbst die Predigt verschlafen haben.«

»So,« sagte Lene giftig und gedehnt, »g'schlofe hätt' i? Des ischt mir neu. No muß d' Predigt dernoch gewese sei. Bei meim Herre schlof i nie, geltet Se, Herr Pfarrer?«

Die Frage galt dem Pfarrer Holder, der hinten in der Laube im Korbstuhl saß, Pfeife rauchte und Arnds wahres Christentum aufgeschlagen vor sich liegen hatte.

Der Gefragte antwortete nicht. »Paule, Paule!« rief er erschrocken und stand auf.

Taumelnd sank eben der Bub auf die Gartenbank neben Jungfer Lene, und im Sinken noch stammelte er: »Suchet, was droben ist!« Eben war's ihm eingefallen.

»Herrje, herrje, er blutet jo, der Paule!« kreischte die Magd, und der Vikar machte große, fast entsetzte Augen.

Der alte Herr aber hob schon die leichte Gestalt des Bewußtlosen auf den Tisch, wo Lene das Kaffeegeschirr eiligst zusammenschob. Er nahm den blutbesudelten, schmutzigen Bubenfuß in die Hände, wischte ihn mit dem Taschentuch ab und sagte, ohne aufzusehen: »Wollen Sie mir schnell Karbolwasser richten, Herr Amtsbruder, und du. Lene, lauf' nach Watte und Leinwand!«

»I hol' scho' älles; aber der Herr Amtsbruder hot sich druckt!« rief erbost die Pfarrmagd und eilte davon.

Unter der Haustür kam ihr schon der Vikar entgegen, und er trug des Pfarrers ganzen Arzneikasten, sah blaß aus und stammelte hilflos: »Ach, Jungfer Lene, der Bub'!«

»Jo freile, der Bub',« gab sie kurz zurück und lief weiter.

Der Pfarrer wusch den Fuß und die Wunde, der Vikar rieb die feuchte Bubenstirn mit Hoffmannstropfen, Lene wechselte von Zeit zu Zeit das Waschwasser und schimpfte dazu verstohlen.

»So no fortg'macht im Altshausener Pfarrhaus! No äls Bube komme lau! Der Nachtwächter wird gucke!«

Der Vikar blieb stumm auf die sausenden Hiebe. Wenn nur der Junge gut davonkam! Das hatte ja niemand ahnen können, daß die Vorladung solche Folgen haben würde. Und überdies hatte der flachsköpfige Unglücksbube offenbar aufgemerkt in der Kirche. Sonst hätte er nicht so treffend die Quintessenz der ganzen Predigt, das eigentliche Leitmotiv herausgreifen können: Suchet, was droben ist!

Immer noch wusch und tupfte der Pfarrer. »Wenn man nur wüßte, in was der Junge getreten ist,« sagte er besorgt zum Vikar.

»En den Scherbe, wo er in der Hand hot, natürlich,« erklärte Lene scharfsinnig.

Der Pfarrer griff nach dem Glasstückchen, das er aufmerksam betrachtete, um sich dann ernst zur Magd zu wenden.

»Lene, das ist ein Stück von meiner Aschenschale, die du mir letzte Woche zusammengeschlagen hast, und von der du behauptest, der Schnauzel habe sie vom Tische gestoßen. Wie kommt der Scherben auf Paules Weg?«

Einen Augenblick blieb Lene erschrocken stumm, dann sagte sie trotzig: »Und 's ischt doch wohr, daß der Schnauze! do hot! I han d' Scherbe wegg'räumt, wie sich's g'hört. Bloß am andere Morge, wie i d' Stub g'fegt han, ischt no e klei's Stückle unter em Sofa fürre komme, des han i in der Eil' durchs Fenster g'schmisse.«

»Zu einer richtigen Fußangel für den Paule,« sagte der Pfarrer streng. »Ich hab' dir schon dutzendmal gesagt, es wird nichts, absolut nichts durchs Fenster geworfen.«

Der Vikar hielt unwillkürlich inne mit Reiben. Seine »symbolische Handlung« fiel ihm ein. Wie er in dem Stückchen blauen Glases, das in der Buchshecke glitzerte, die Güter dieser Welt versinnbildlicht gesehen und in den Staub der Straße geworfen hatte.

Ach, hätte er es doch ruhig liegen lassen! Was ging ihn denn der Glasscherben an! In der Hecke hätte er in alle Ewigkeit keinen nackten Bubenfuß zerschnitten.

Blas' nicht, was dich nicht brennt! hatte schon immer die Mutter gesagt, wenn Immanuel zu Hause an alles seine »ordnende Hand« und öfter noch seinen »ordnenden Mund« legte.

Sollte er sagen, vor dieser Lene sagen, wer den Scherben zum zweiten und verhängnisvollen Male geworfen hatte?

»Er wacht, er wacht!« schrie jetzt die Pfarrmagd, »jetzt muß er Kaffee han!«

Sie goß ihres Herrn Tasse voll zum Überlaufen und legte ein Stück mürben Kuchens daneben, als müsse des Buben ohnmächtige Schwäche von diesem Punkte aus kuriert werden.

In Paule wachten über Erwarten schnell alle Lebensgeister auf. Sein scheuer Blick ging zwischen Kuchen und Kaffee und dem Vikar hin und her.

Der Pfarrer befestigte mit kundiger Hand den Verband, dann sollte Paul stramm sitzen und Kaffee trinken.

Aber mit dem Strammsitzen war es nicht weit her. Zu viel der roten Perlen waren wohl draußen am Rain in den Thymian getropft. Müde lehnte der Junge den Flachskopf zurück. Da nahm ihn schweigend der Vikar auf den Schoß, bettete ihn gar sorglich an seiner Brust und löffelte ihm den Trank und die Kuchenbrocken ein wie einem kleinen Kinde.

Der Pfarrer setzte die ausgegangene Pfeife in Brand, zog seinen Korbstuhl etwas näher heran und sah qualmend zu.

Dann mußte Lene zum zweitenmal zum Nachtwächter laufen, daß er seinen Buben, der zum Gehen zu schwach sei, hole.

»Wär i no 's erst Mol net gange!« sagte sie feindselig.

Da hielt ihr der Pfarrer stillschweigend das blaue Glasstückchen vor, und der Vikar starrte stumm in die leere Tasse.

Die Tritte der Enteilenden verhallten, da sagte Immanuel Winter leise: »Es ist eigentlich meine Schuld, Herr Pfarrer.«

Der Alte nickte beistimmend. »Teilweise auch!«

»Ja mehr, als Sie denken, Herr Pfarrer. Ich habe nämlich das Glasstückchen auf Paules Weg geschleudert. Dort lag es in der Hecke. Da hob ich es auf und warf es auf die Straße hinaus. Draußen ist der Junge hineingetreten, gelt Paule?«

Eifrig nickte der Flachskopf, wenn er auch nicht alles verstanden hatte.

»So, so,« sagte der Pfarrer bedächtig. »Na, in die Buchshecke gehören auch keine Glasscherben. Der Lene ist nicht zuviel geschehen.«

Der Vikar gab sich nicht zufrieden. Er schwelgte jetzt in Selbstanklagen.

»Wie ich das Stückchen in der Hand hielt, kam mir der Gedanke, es sei ein Sinnbild der nichtigen Güter der Erde. Da schleuderte ich es fort und tat mir noch etwas zugute darauf.«

Der Pfarrer lachte. »Bei der Lene Bequemlichkeit, bei Ihnen Philosophie. Ich konstatiere: die Beweggründe waren bei Ihnen besser!«

Der Vikar strich sich die Haarsträhne aus der Stirn. »Sie verspotten mich. Das muß ich tragen; aber wenn alles, was ich hier tue, so zum Schlimmen ausschlägt, wo ich doch nur Gutes will –«

»Gemach, gemach,« wehrte der Pfarrer ab. » Les extrêmes se touchent. Gestern überströmende Siegeszuversicht, heute die Flinte ins Korn! Diesmal ist's Ihnen eben gegangen wie dem Schnauzel: er richtet ein Spinatbeet zuschanden, weil er ein winziges Mäuslein nicht laufen lassen kann. Wenn er älter wird und ein paarmal den Stock bekommen hat, läßt er's bleiben. Es ist aber dann nicht ausgeschlossen, daß eines schönen Tages ein junger feuriger Rattenfänger den alten bedächtigen verlacht und sagt: Seht den faulen, indifferenten Gesellen! Der läßt die Mäuse sich auf der Nase tanzen.«

Der Pfarrer stocherte an seiner Pfeife. Ganz hatte er dem Herrn Amtsbruder die Lehre doch nicht schenken wollen.

Mit rotem Kopfe kam jetzt der Nachtwächter gelaufen. »Paule, was machst für Sache!« rief er schon von weitem.

»Neitrete bin i in ebbes,« sagte der Junge so voll Genugtuung, wie nur jemals ein Prophet das Eintreffen einer Vorhersagung konstatiert hat.

Der Nachtwächter schüttelte den Kopf. »Hätt' i ihn no d' Stiefel anziehe lasse! Er hot's erst partu wölla! Mer sott net immer auf sein Kopf naufsitze!«

»Was sag' ich Euch denn immer, Hans-Jörg! Der Eigensinn, der arge Eigensinn!« tadelte der Pfarrer.

Der Nachtwächter fuhr mit der Hand durchs Haar. Er war ja gern bereit, sich selbst Vorwürfe zu machen; aber von anderen konnte er sie deshalb noch lange nicht ertragen. Ablenkend murrte er auf: »Den, wenn i kenne tät, wo Scherbe auf d' Gass schmeißt! Aber em Polizeidiener will i 's Nötig' sage. Wenn mer sei's Lebes nemme sicher ist! Fege soll er lasse am Samstigs!«

Der Pfarrer schneuzte sich lang und geräuschvoll. Sein Gesicht kam eine Ewigkeit nicht mehr aus dem seidenen Taschentuche hervor.

Der Vikar streichelte immerzu den Bubenkopf, und Jungfer Lene wetterte mit Tassen und Kannen, als sei im Altshausener Pfarrhaus alles Geschirr von Eisen und Granit.

»Send still, Hans-Jörg,« sagte sie jetzt barsch. »Euer Kopf hot halt wieder emol naus müssen sonst wär em Paule nix g'schehe.«

Jetzt lachte der Pfarrer hell auf.

»Haben Sie es gehört, Herr Amtsbruder! Ja, ja, selig sind die Unverfrorenen, denn sie behalten allezeit recht.«

Der Vikar vermochte nicht zu lachen. Ein häßliches Unbehagen ließ ihn nicht los.

Mit dem Nachtwächter, der maulend seinen Sprößling von dannen trug, schritt er davon.

Lene sah feindselig ihren Herrn an. »Hätt' der Vikar den Bube net komme lasse!« murrte sie.

Der Pfarrer nickte beistimmend. »Jawohl! Und hätte man seinerzeit das Glas nicht erfunden, würde der Pfarrer von Altshausen nicht rauchen und Aschenschalen benützen, wär kein Schnauzel im Pfarrhaus, der besagte Aschenschalen zerbricht, und hätte der liebe Gott dem Nachtwächter keine Kinder oder dem Paule Flügel statt der Füße gegeben, dann wäre ganz gewiß der Bub in keinen Scherben getreten.«

Unsicher blickte Lene auf, nahm ihr Geschirr zusammen und sagte im Abgehen: »I muß halt wieder an ällem schuldig sei!«

*

Still lag der Garten im Sonnenglanz. Der alte Herr in der Laube blickte helläugig über die Beete, auf denen die Kohlweißlinge gaukelten und ein Distelfink nach Kerfen suchte.

Der alte Johann Arnd lag zugeklappt auf dem Tische. Wenn einmal die Glasscherben anfangen zu sprechen, braucht man die Bücher nicht.

Schmunzelnd wog der Pfarrer das blaue Stückchen ehemaliger Aschenschale in der Hand. Was hatte dieser elende Rest verschwundener Pracht heute alles zuwege gebracht!

Einem geistlichen Eiferer hatte er die Hitze temperiert, einer nachlässigen Pfarrmagd einen »schneidenden« Verweis gegeben, einem eigensinnigen Nachtwächter den Kopf zurechtgesetzt, ein flatterhaftes Büblein gewitzigt, ja eine hohe weltliche Obrigkeit, als da ist Schultheiß und Polizeidiener von Altshausen, hatte er mit überzeugender Schärfe ins Unrecht gestellt.

Bis das der mundfertigste, feurigste und eifrigste Vikar zuwege brachte, konnte er lange predigen und die »schlichte Gewalt des Gedankens« wirken lassen, wie Immanuel Winter so gern betonte.

Ach, über die simplen Pfarrer von der alten Schule! Denen kann sogar der vorsintflutliche Gedanke kommen, Glasscherben spielten unter Umständen eine Predigersrolle, und sogar das Wort von den Haaren auf dem Haupt und den Sperlingen sei keine leere Redensart! Das war ja so kindlich, so rückständig, so kritiklos gedacht; aber – der alte Mann in der Laube lehnte sich behaglich zurück – es war ein Sonntagsgedanke, der die schwersten Werktage übergolden konnte, ein Gedanke für einen Pfarrer vom alten Schlag. Und die Sprache solcher als Lehrmittel verwendeter Glasscherben kann niemals und von niemand mißverstanden werden, wie es der besten Predigt oft passiert.

Ja, ja, das Predigtamt ist eine heilige und eine wichtige Sache; aber nicht allein und nicht zumeist dasjenige Predigtamt, das durch den Mund der Menschen, ja der Vikare geht, und wenn sie die neueste Methode haben.

*

In der Nacht, die dem sonnenhellen Sonntage folgte, schlief Immanuel Winter schlecht.

Eigentümlich! Der Nachtwächter rief doch nicht direkt unter den Fenstern des Pfarrhauses. Aus der Ferne nur klang gedämpft sein Ruf herüber: »Hört, ihr Leut', und laßt euch sage!«

Der verstockte Hans-Jörg hatte sich offenbar von der Scherbengeschichte gestern etwas sagen lassen. Sollte da Immanuel Winter, der Theologe, zurückstehen?

Gegen Morgen erst schlief er ein.

Und trotzdem stand er mit dem Glockenschlag halb sieben am Kaffeetisch.

Lene trug den braunen Trank herzu, riß verwundert, fast enttäuscht die Augen auf und gab die Versicherung: »Für Ihne han i de Kaffee warm stelle wölle!«

Immanuel Winter dankte und dachte: Auch du, Brutus!

Der Pfarrer hatte die Bibel vor sich liegen zur kurzen Morgenandacht.

»Bitte,« sagte der Vikar, und die schlichten Haarsträhne fielen auf eine sehr rot gewordene Stirn, »lesen Sie heute: zweiten Korinther im elften den ersten Vers!«

Der Pfarrer warf das Buch herum und las: »Wollte Gott, ihr hieltet mir ein wenig Torheit zugute; doch ihr haltet mir's wohl zugute.«

Der Lesende strich über die Blätter und lächelte, die Pfarrmagd starrte auf ihre roten, gefalteten Hände und dachte: Des geht auf mi.


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