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Nix B'sonders.

Mein alter Freund spielte sich mit Vorliebe auf den Physiognomen hinaus. Er war ein bedeutender Mensch mit klangvollem Namen und hervorragenden Eigenschaften, die ihm einen Platz unter den Vollmenschen sicherten. Hochgewachsen, breitschultrig, mit geistvollem Gesicht und sprechenden Augen, einer klassischen Nase und prächtig gewölbter Stirn, die durch den schönen Ansatz des vollen, weißen Haares etwas besonders Edles erhielt, – so war er ein Mann, der schon um seines Äußeren willen nicht zu übersehen war.

Dazu sprach er fünf lebende und etliche tote Sprachen, er las ägyptische Hieroglyphen und assyrische Keilschriften, wußte Bescheid in den Tiefen von Erde und Himmel, spielte hinreißend Klavier, dichtete, schrieb und komponierte, aber man hätte ihm dies alles abstreiten, man hätte ihn für den häßlichsten, unbegabtesten und unwissendsten Menschen erklären dürfen, wenn man ihn nur in seiner Eigenschaft als unfehlbarer Physiognom unangetastet ließ. Er pflegte zu sagen, jegliches Wissen und Können der Welt sei mehr oder weniger Sache des Fleißes, der Übung, der Neigung, aber der sichere Blick für die göttliche oder minder göttliche Schrift auf den Menschengesichtern, das allein sei in Wahrheit Begabung, das sei Inspiration, das sei das wahrhaftige Hellsehen, das uns zu Herren und zu Wissenden mache. Dieses Lesen in Menschengesichtern nannte er die einzige Wissenschaft, die nimmermehr durch Täuschung und Lüge gehemmt werden könne, sobald man ihre unveränderlichen Regeln kenne und festhalte.

Wenn dann aus dem kleinen Kreis, dem er sein Steckenpferd vorzureiten liebte, einer den Eifrigen bat, auch uns Unerfahrene einzuführen in die seltene Wissenschaft, dann winkte mein Freund ab und schüttelte den Kopf mit stillem Lächeln: »Hören und sehen kann man diejenigen nicht lehren, die nicht Augen noch Ohren haben, wer aber Augen und Ohren hat, der sieht und hört von selbst; aber ihr alle habt nicht Augen noch Ohren.«

Damit mußten wir uns zufrieden geben, und wir ließen gern dem Allverehrten sein Idol unangetastet, wenn es auch manchem von uns seltsam schien, daß solch ein universeller Geist in dergleichen Einseitigkeiten sich festrennen konnte, wie wir im stillen des allen Herrn Feuereifer beurteilten.

An einem linden Abend im Mai wanderten mein Freund und ich den Wiesenpfad im breiten Tal entlang, der von der kleinen Stadt zum nächsten Dorfe führte.

Maikäfer schwirrten uns um die Köpfe, Grillen zirpten am Wegesrand, und in einer fernen Hecke schlugen Amsel und Schwarzkopf.

Wir schritten still und langsam aus, es war ein Abend zum köstlichen und schweigenden Genießen.

Ich sah von Zeit zu Zeit von der Seite auf meinen Begleiter. Aufrecht, die breiten Schultern stramm zurück, den schneeweißen Kopf, den er auch im Freien zu entblößen liebte, stolz getragen, ein Leuchten in den Augen wie von quellendem inneren Leben, einen lächelnden Zug um den bartlosen Mund, so schritt er neben mir her, und die Schönheit der blühenden Welt, der Zauber des herrlichen Abends schien ihm das Herz zu schwellen.

Ein Mann im Arbeiterkittel kam uns entgegen. Er trug die Schaufel auf dem Rücken; aber von der Arbeit schien er nicht zu kommen, denn er hatte ein Glas über den Durst und schimpfte laut über die Pfeife, die ihm erloschen war.

Mein Freund nahm sein Feuerzeug aus der Tasche und reichte es dem Fremden; aber er sah ihn dabei nicht an und ging hastig weiter.

Ich folgte ihm und sah, wie er sich mit der Rechten über die Augen fuhr.

»Häßlich, häßlich,« murmelte er, »heute, wo die Welt von Schönheit überfließt, sollte man solche Gesichter gar nicht sehen, noch viel weniger darin lesen.«

»Aber Sie haben den Mann ja kaum angeblickt,« sagte ich und mußte lachen über meines Freundes Schrullen.

Er sah mich erstaunt an. »Schon von weitem hat mich dies Gesicht angeekelt; mit Lapidarschrift standen Laster und Gemeinheit darauf geschrieben. Dieser Mann ist roh, aber nicht mutig genug zum Morden, gemein, aber nicht regsam genug zum Stehlen, gierig, aber nicht entschlossen genug, um alle unerlaubte Lust der Welt zu genießen. Dieser Mann wird jederzeit Schwache mißhandeln, Vertrauende betrügen, Harmlose mißbrauchen; es ist der hündischste Typus, den ich kenne, wenn ich damit den Hunden nicht unrecht tue.«

Das geistvolle Gesicht des Erregten war ganz rot geworden vor Eifer, und es war mir unmöglich, irgendeinen Einwurf zu machen, nur das konnte ich mir nicht zu bemerken versagen, daß er dem Menschen gleichwohl sein Feuerzeug gegeben.

Mein Freund lachte leise. »Aber mein Lieber, wenn ich gegen jeden Menschen ungefällig sein wollte, dessen Physiognomie mir nicht paßt, dann würde ich bald für den rüdesten Patron gelten.«

Wir gingen weiter bis in das Dorf, bis an den Brunnen unter der alten Linde am Kirchplatz.

Eine hölzerne Bank war rund um den mächtigen Stamm gezimmert, da setzten wir uns nieder und sahen zu, wie der dünne Wasserstrahl in den grünbemoosten steinernen Brunnentrog plätscherte, während über uns in den zarten Lindenblättchen gefräßige Maikäfer schwirrten.

Jetzt trieb ein Weib zwei Kühe an das Wasser.

Ich blickte auf die beiden reingehaltenen, wohlgenährten Tiere mit denjenigen gemischten Empfindungen, mit denen wohl jeder Städter das liebe Vieh betrachtet, wenn es ihm in ungebundener Freiheit gar so nahe kommt.

Prüfend sah ich in die glotzenden, tiefbraunen Kuhaugen, ob nicht ein Strahl feindseliger Gesinnung darin aufblitze; aber blöde Verwunderung und dummdreiste Neugier war alles, was ich daraus las.

Als ich beruhigt meine physiognomischen Studien an den breitgestirnten Rindern abbrach, sah ich, wie mein Freund keinen Blick von dem Weib ließ, das am Brunnentrog stand und in das Wasser schaute, das, von den Mäulern ihrer Kühe aufgestört, durch den ganzen langen Trog zitternde, kleine Wellen warf.

Ich kannte dieses sonderbare Starren an meinem Freund und wußte, daß jetzt bei ihm der Physiognom in Aktion trat.

Diesmal mußte ich leise lächeln. Was war an diesem kleinen, etwas verwachsenen alten Weibe zu sehen? Welche Eigenschaften, welche Schicksale, welche Erfahrungen mochte mein Freund bei dieser schweigsamen Alten vermuten? Das war doch sicher ein Bauernweib, wie sie alle sind: abgearbeitet, abgestumpft, teilnahmlos für alles, was nicht mit Kuhstall, Scheune, Acker und Wiese zusammenhing, verdummt in rauhester Arbeit, im Sparen, Sorgen und Sich-Plagen.

Die Kühe hatten ihren Durst gelöscht. Sie kehrten die jetzt triefenden Mäuler, die glotzenden Augen noch einmal zu uns, wandten sich dann schwerfällig ab und trotteten weiter.

Das kleine Weib schwang die Geißel und folgte, ohne uns nur einen Blick zu gönnen, ihren Schutzbefohlenen.

Plötzlich stand mein Freund auf und eilte dem Weib nach. Sie blieb stehen und sah verwundert zu dem hochgewachsenen Städter auf, indes ihre Kühe allein dem offenen Stall zustrebten.

Unwillkürlich trat ich zu den beiden. Mein Freund, der das schöne Deutsch des gebildeten Rheinländers sprach, mühte sich eben, die Alte auf schwäbisch zu fragen, ob sie aus dem Dorfe gebürtig sei.

Es klang so drollig, und doch lag in der Bemühung um den ungewohnten Dialekt, in dem hastigen, unvermittelten Fragen so viel ehrlicher, um nicht zu sagen ängstlicher Wissensdrang, so viel Sorge, gewiß den rechten Ton und das rechte Wort zu treffen, daß ich nicht zu lachen vermochte und selbst mit seltsamer Spannung an des Weibes Lippen hing.

»Sell net,« sagte sie; »aber i haust hia schau fufzig Johr.« Sie sah dabei an uns vorbei ihren Kühen nach, die eben hinter der Stalltür verschwanden.

»Haben Sie nicht etwas Besonderes erlebt, etwas Schweres oder Großes, liebe Frau?« drängte mein Freund und stellte sich ganz breit vor sie hin, als wolle er sie an allenfallsiger Flucht verhindern.

Die Frau hob ihr welkes Gesicht zu meinem Freund, und diese von rötlichen Äderchen durchzogenen Wangen, diese ganz lichtblauen, wie verschossenen Augen, diese, von graumeliertem, glatt gescheiteltem Haar umrahmte, eher zu breite als zu hohe Slim schien jetzt auch mir in irgend etwas abzuweichen von andern Bauerngesichtern.

»Ebbes B'sonders?« sagte sie, und ein sinnender, suchender Ausdruck trat in ihre Augen, dann flog es wie ein Schatten über das ganze Gesicht und sie sagte kurz: »Noi, B'sonders nix.«

»Gar nix B'sonders?« forschte mein Freund so ängstlich und so unverfälscht schwäbisch, daß ich jetzt doch lachen mußte.

»Meine Küah, meine Küah!« schrie statt aller Antwort das Weib und lief trotz meines Freundes gespreizter Stellung so schnell dem Stalle zu, unter dessen offener Tür die bewußten Braunäuglein wieder sichtbar wurden, daß jedes weitere Fragen abgeschnitten war.

Wir blieben ordentlich verdutzt zurück. Mich würgte ein unterdrücktes Lachen im Halse. Es laut werden zu lassen, wagte ich nicht, nachdem ich einen Blick in meines Begleiters enttäuschtes, ja unglückliches Gesicht geworfen hatte.

Wir schritten heimwärts unsern einsamen Weg. Über uns gingen stille Sterne auf, und fern drüben flötete immer noch die Amsel. Aber es schien mir, als sei meinem Freund das Genießen verdorben. Er sprach viel von fremden Ländern und interessanten Begebenheiten, an denen sein Leben so reich war; er zeigte mir die flimmernden Sternbilder; aber ich fühlte ihm an: er sprach nicht, um etwas zu sagen, sondern um etwas nicht zu sagen, etwas, was er nicht berührt haben wollte.

Und ich berührte es nicht, und vergaß gar bald das Weib, das »nix B'sonders« erlebt hatte.

*

Der kalte Herbstwind fegte durchs Wiesental. Der Amselschlag war längst verstummt, die schwirrenden Käfer verschwunden, die Grillen am Wegsaum still geworden.

Bleigrau und schwer hing der Oktoberhimmel über meinem Freund und mir, als wir wieder einmal den schmalen Talweg entlang schritten.

Die Blätter der Kirchenlinde wirbelten müde und welk in den bemoosten Brunnentrog, und zum Sitzen auf der Bank am Baumstamm war es zu feucht und zu kalt.

Wir wanderten weiter, mitten durch den kleinen Ort, bis hinaus auf die einsame Landstraße, und dann rechts ein Stückchen an dem kahlen Berg hin.

Da ragten weiße Kreuze und Kreuzlein vor uns aus dem Herbstnebel. Hinter einer dichten Tannenhecke waren sie geschart, so viele, viele auf so engem Raum.

Und in der obersten Ecke standen schwarzgekleidete Männer und Weiber im Halbrund.

War dort ein welkes Blatt gesunken und fand den letzten Ruheort?

Mein Freund bog schweigend ab nach der umfriedeten Stätte, und ich folgte ihm, benommen von der Trauer über so viel herbstliches Welken und Sterben.

Ein noch junger Pfarrer sprach an dem offenen Grab. Das schwarze, kreuzgeschmückte Tuch auf der Bahre, nur von spärlichen Kränzen beschwert, flatterte zuweilen auf im rauhen Wind, und der Nebel sprühte über der schmalen Grube.

Wir nahmen unsere Hüte ab vor Seiner Majestät dem Tod und hörten zu. Die Laute drangen windverweht zu uns herüber, allzu nahe wollten wir nicht hingehen.

»Gatte im ersten Jahr der Ehe erblindet – vier Kinder großgezogen – im Krieg gefallen – verschollen – gestorben – Fleiß, stille Kraft –«

Wir verstanden nichts mehr, der Wind setzte sturmartig ein und trug die Worte des Pfarrers talwärts.

Wir sahen noch, wie die Männer am Grabe ungelenk ihre Hüte abnahmen zum Gebet, dann zog mich mein Freund fort durch das Gittertor, an dem schmutzige Buben sich herumdrückten.

Vor der Pforte blieb er sekundenlang stehen. »Also das war es,« murmelte er und schaute an mir vorbei ins Leere.

Ich wußte nicht, was er meinte; aber ich sah ihm an, daß eine Frage hier nicht am Platze war. Wir zogen die Hüte tief in die Stirnen und schritten wieder dem Dorf zu. Der Nebel umsprühte uns immer kälter, nässer und dichter.

Am Brunnen unter der Linde stand mein Freund still und schaute sich suchend um.

Jetzt fiel mir plötzlich das Weib mit den Kühen ein.

Ein Bauer mit der Pfeife im Mund schritt vorüber.

»Hören Sie, mein guter Freund,« sprach mein Begleiter ihn an und deutete gegen die Stalltür, hinter der an jenem Abend im Mai die Kühe verschwunden waren, »ist in jenem Hause jemand gestorben?«

»Jo freile, d' Lisebeth; se wurd' heut' vergrabe!« nickte der Bauer und blieb stehen.

»War die Verstorbene klein, mit blassen Augen und etwas verwachsen?«

»Was se für Auge g'het hot, sell weiß i net; aber klei ischt se g'wea, und an Buckel hot sie au g'het,« entgegnete mit Lachen der Mann und nahm die Pfeife aus dem Mund.

Mein Freund griff in die Tasche und reichte dem Bauern ein Geldstück.

»Hier, nehmen Sie, guter Freund, für Ihre freundliche Auskunft.«

Der Bauer sah aus, wie das leibhaftige Erstaunen. Daß ihm der Tod der alten Lisebeth noch klingende Früchte eintragen sollte, das ging augenscheinlich über sein Begriffsvermögen. Er drehte die Münze zwischen den Fingern, und daß es ein regelrechter Fünfziger war, das brachte ihn offenbar auf den Gedanken, daß er für eine solche Summe noch weitere Gegenleistungen schuldig sei. Aus freien Stücken begann er: »S' ischt a reacht's Weib g'wea, 's laufet net viel so omenander; aber sie hot's net leicht g'het.«

Mein Freund, der den Dialekt in seiner ganzen Breite nur halb verstand, gab mir ein Zeichen, und ich übersetzte ihm danach: »Dem Mann der Lisebeth ist schon im ersten Ehejahr eine Schrotladung ins Gesicht gegangen und hat ihn beide Augen gekostet. Dann hat sie drei Söhne und eine Tochter großgezogen.

»Von den Söhnen ist einer bei Champigny gefallen, einer ist beim Baden ertrunken, die Tochter im ersten Wochenbett gestorben. Und den Buben dieser Tochter hat die Lisebeth aufgezogen, und er ist ein Trinker und ein Lump. Er schafft als Erdarbeiter beim Forstamt und hat seine Ahne vor zwei Jahren so mißhandelt, daß sie seither krumm ist. Der Mann der Lisebeth ist vor vier Tagen gestorben und sie ist ihm nachgefolgt aus Jammer und Heimweh.«

So erzählte der Mann, kurz, trocken und unbewegt, so ganz, als wäre es »nix B'sonders«.

Mir fiel jetzt der Enkel der toten Lisebeth ein, der betrunkene Erdarbeiter, dem mein Freund dazumal sein Feuerzeug gab. Fast mit geheimer Scheu sah ich auf meinen Begleiter, der mit Leuchten in den Augen neben mir talauf schritt.

»Ich wußte es,« sagte er leise zu mir, »ich habe dies alles in des Weibes und in ihres Enkels Gesicht gelesen. Ich konnte mich unmöglich täuschen, oder ich hatte jahrelang in einem blöden Wahn gelebt.«

Ich atmete tief und drückte ihm die Rechte, denn mir war, als gebühre sich hier ein Glückwunsch wie zu einem schönen Erfolg.

Er lächelte vor sich hin, sein eigentümliches Lächeln, das ihm die Herzen gewann. »Ein Leben voll stillen Heldentums hat dieses Weib geführt, sie hat Lasten getragen wie ein Riese, und die Runen davon stehen ihr im Gesicht geschrieben. Und sie nennt es ›nix B'sonders‹. Wahrlich, es ist gut, ein Mensch zu heißen um einer solchen Mitschwester willen.«

Mir wurde warm und stolz wie nie, doch wagte ich leise zu sagen:

»Ob solche in Not, Sorgen und Arbeit stehenden Menschen nicht unempfindlicher sind gegen alle Dornen des Lebens als wir, denen ein glatteres Los beschieden ist? Ob daher nicht des Weibes kurze Antwort stammt?«

Aber mein Freund sah mir mit hellem Blick ins Gesicht:

»Davon stand nichts in den Runen. Nicht, weil sie die Stürme nicht empfunden, sondern weil sie sie mutig bezwungen hat, darum nannte die Lisebeth ihr langes, böses Leben ›nix B'sonders‹.«


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