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Der Leibsorger.

Hans Bürger, Pfarrer a. D. – so war an der ersten Tür rechts in dem schmalen, langen Flur des niedrigen Häuschens zu lesen. Es war kein elegantes Metall- oder Emailschild, nicht einmal eine gedruckte, gestochene oder lithographierte Karte, welche die spärliche Auskunft gab, nein, es war eine Art primitiven Plakats, ein Stück Pappe von respektablen Dimensionen, auf das in mehr leserlicher als schöner deutscher Schrift Name und Titel gemalt war, und zwar mit leuchtender Purpurfarbe.

Wenn man an einem schönen, klaren Septembermorgen, wie heute, an die Tür Hans Bürgers klopfte, so konnte man sicher sein, selbst auf den feurigsten Trommelwirbel keine Antwort zu erhalten. Drückte man sodann unaufgefordert auf die blanke Messingklinke, so fand man wohl eine unverschlossene Tür, die den Eintritt in ein lichtdurchflutetes, blumendufterfülltes Zimmer freigab, aber den Herrn Pfarrer a. D. suchte man vergebens. Auch hinter der grünen, faltigen Bettgardine war der Hochwürdige nicht; das niedere, feldbettähnliche Lager war im Gegenteil so nett und sorgfältig geordnet, wie ein Lager, das nur aus zwei Wolldecken, einer Matratze und einem rollenartigen Kopfpolster besteht, überhaupt geordnet werden kann. Vor den drei weitgeöffneten Fenstern des großen Zimmers blühten eine solche Menge Blumen, schlang sich so dicht der Efeu ineinander, rieselte so üppig grünes Frauenhaar nieder, daß man die kunstvoll aus Fadenrollen verfertigten Bretter, die all die Pracht trugen, kaum mehr erkennen konnte.

In der Ecke zwischen zweien der Fenster stand ein großes, altväterlich plumpes Möbel mit messingenen Beschlägen und geschweiften Füßen, das sicher vom Verfertiger seinerzeit zum Schreibtisch prädestiniert war. Das, was es jetzt alles zu tragen hatte, erinnerte wenig an die ursprüngliche Bestimmung. Auf der geräumigen Platte lagen die mannigfaltigsten Gegenstände, die mit Tinte, Feder und Papier, ja die mit einem Pfarrer a. D. überhaupt in keinem erkennbaren Zusammenhang standen.

Da waren zuerst zwei oder drei große, silberne Taschenuhren, deren plumpe Zeiger in eisiger Ruhe verharrten. Da war ferner eine ansehnliche Schachtel mit Getreideproben, da stand ein großer weißer Porzellantopf, mit Papier überbunden und mit der Aufschrift »Fliegentod« versehen. Da lag, auf einer Zeitung ausgebreitet, eine Handvoll Schafgarbentee, und in der Ecke dort lehnte sogar eine sehr mangelhaft bekleidete Puppe, die ihren zerzausten Flachskopf auf dem eigenen Schoß liegen hatte.

In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch, der mehr seiner Bestimmung entsprechend benutzt zu werden schien. Ein riesiger Laib Schwarzbrot lag neben einem blanken Messer in der Mitte, und auf rotlackiertem Brett standen vier oder fünf Gläser daneben.

Eine Anzahl hochlehniger Stühle, ein vorsündflutlicher Kleiderschrank und zwei Kommoden, welche die gleichen blanken Beschläge aufwiesen, wie der profanierte Schreibtisch, vervollständigten die Einrichtung von Hans Bürgers Junggesellenstube.

Der Besitzer dieser Herrlichkeiten aber, er ist an dem klaren, taufrischen, wunderbaren Morgen draußen zu finden auf der waldumstandenen, heidekrautbedeckten Hochebene fern vom Dorf.

Zerfetzte Nebelstreifen flüchteten scheu von der freien Heide zwischen die rissigen Stämme der Föhren und tiefer hinab, unter den Tannen hin, bis im Wiesentale und über den Ziegeldächern des Dorfes ihr Schicksal sie ereilte, bis sie zergehen mußten unter den warmen, leuchtenden Strahlen der ewig nebelfeindlichen Sonne.

Grau berieselt bis aufs letzte winzige Blütchen hinaus standen die Tausende von Erikastauden, und sie mühten sich eben, die kleinen süßen Blumenaugen aufzutun für das wonnige Tageslicht.

Mit weitausholenden Schritten, die gewaltige Kapsel an grünem Band um die Schulter, die Beinkleider hochgekrempelt und den schwarzen Filzhut in der Rechten schwenkend, trat ein Mann aus dem Wald am steilen Berghang.

Des Preußenkönigs unerbittliche Werber, sie hätten aufgejauchzt beim Anblick dieses Mannes. Nahe an zwei Meter mußte er haben, und dazu eine Breite der Schultern, eine Derbheit, eine Kraft in allen Gliedern, daß es zu sehen eine Freude war.

Ein überüppiger, schwarzer Haarbusch war zurückgekämmt von der breiten, freien Stirn, eine in ihrer Größe hart die Grenze des Erlaubten streifende Nase, ein starker dunkler Vollbart gaben dem Gesicht etwas Martialisches.

Aber wie jetzt der große Mann die Augen aufschlug, um von dem taunassen, schlüpfrigen Bergweg, den er gekommen, hinzublicken über die glitzernde Heide und über die fliehenden Nebel, da waren es fröhliche Kinderaugen, ja fast übermütige Jungenaugen, die mit glückseligem Ausdruck die Schönheit des Morgens tranken. Und eine Jungenbewegung war es, wie der Riese seinen schwarzen, weichen Filzhut hinüberschleuderte ins nasse Heidekraut.

Und dann tat der Mann noch etwas, was zu seinen mächtigen Gliedern, zu seinem Übermenschenkopf gar nicht recht passen wollte: Er kniete hin auf den feuchten Heideboden, er legte die großen Hände ineinander wie ein Kind, und er betete halblaut in stammelnden Worten, die leuchtenden Augen gegen den leuchtenden Himmel gerichtet, berauscht, überwältigt von der reinen Schönheit der Gotteswelt, der strahlenden, heiligen Morgenstille.

Das frohe, das jauchzende Beten des übervollen Mannesherzens, es klang seltsam naiv, seltsam innig und beweglich aus in den Kindervers:

»Mein Gott, ich bin durch deine Macht
Gesund und froh vom Schlaf erwacht.
Behüte mich auch diesen Tag,
Daß ich nichts Böses lernen mag. Amen!«

Minutenlang verharrte der Mann auf den Knien, und man sah es diesem Gesicht an: hier hatte einer gebetet, der beten mußte, einer, dem das Herz übergeströmt war vom Gebet.

Danach erhob sich der Herr Pfarrer außer Diensten, er klopfte säuberlich die feuchten Tannennadeln von den Knien, suchte seinen Hut aus dem Heidekraut hervor und begann mit einem gewaltigen, mehr ausgiebigen als klangschönen Baß:

»Die Rose stand im Tau;
Es waren Perlen grau;
Als Sonne sie beschienen,
Wurden sie zu Rubinen.«

In den unmöglichsten, den verschlungensten Variationen sang Hans Bürger das Ritornell. Zuletzt, als die Töne immer schneller, immer kunstvoller, immer gewaltiger kamen, nahm der begeisterte Sänger seine stattliche Botanisierkapsel vor, und dumpfe Trommelwirbel begleiteten den kühnen Sang.

Als die Orgien, die solchergestalt Lunge und Kehle Hans Bürgers in der köstlichen Morgenluft feierten, beendigt waren, setzte sich der Sänger auf einen grünbemoosten Stein und entnahm der Kapsel ein stattliches Butterbrot, das mit der gleichen Hingabe und Begeisterung in Angriff genommen wurde wie zuvor das Lied.

Danach machte der Herr Pfarrer eine Handvoll Brotkrumen zurecht, er pfiff leise, weiche Locktöne gegen die nahen Föhren hinüber, und Finke, Meise und Zeisig holten sich zutraulich das Morgenmahl, das die große Hand ihnen streute.

Als das letzte Krümchen verzehrt war, erhob sich Hans Bürger von seinem Steinsitz, er reckte die langen Arme und stülpte dann den Filzhut fest auf den Haarbusch. Nicht zum Singen und Schwelgen war er ja ausgezogen am frühen Morgen, er wollte Pilze suchen für des Frieders Christian, der schon lang keinen Appetit hatte, und dem es immer vor Fleisch- und Milchspeisen ekelte.

Wieder und wieder bückte sich das große Menschenkind, und mit freudiger Gier eilte er von Pilz zu Pilz, die hier oben so prächtig gediehen.

Die Sonne hatte eben den Tau von der Heide getrunken, als mit gefüllter Büchse Hans Bürger sich heimwärts wandte.

Fröhlich pfeifend, den Hut wieder in der Hand schwenkend, schritt er durch den Wald und hinaus auf die abschüssigen Bergwiesen, die Kartoffeläcker und Stoppelfelder, die der schmale Weg durchquerte.

Ein Weib mit der Haue auf der Schulter kam ihm entgegen.

»Krummbire 'raus doa, Bärbel?« fragte der Waldläufer in unverfälschter Schwarzwälder Breite.

»Jo, Herr Pfarrer,« sagte einsilbig das Weib und wollte vorüber.

Hans Bürger blieb stehen. Prüfend sah er der Bauersfrau ins verwitterte Gesicht, dann sagte er bestimmt, fast streng: »Ihr hent wieder Hendel g'het, saget's no!«

Da stieg es dem Weib rot ins Gesicht, und die kleinen Augen blickten giftig, als sie bissig hervorstieß: »Lasset me passiert! Ihr helfet jo doch wieder der Eve-Kätter, wie ällemol.«

Damit hastete das erzürnte Weib an Hans Bürger vorüber, dem Kartoffelacker zu, in jäh entflammtem Ärger.

Der große Mann aber rief ihr laut nach: »Bärbel, Ihr send der größt' Nickel in ganz H–lingen, daß Ihr's wisset!«

Einen Schimmer von Unmut in den hellen Augen, schritt Hans Bürger weiter.

Hell und blank lagen die Dächer von H–lingen dort unten im Sonnenlicht, da und dort kräuselte sich blauer Rauch über dem Schornstein, auf dem Kirchturm glitzerte der Gockelhahn, und die klingenden Schläge des fleißigen Dorfschmieds schallten bis herauf zu dem großen Manne.

Hans Bürger setzte sich auf den grasigen Rain, an dem er eben vorüberkam, und er schaute über das Dorf hin, über sein Dorf!

Als es dazumal schwarz auf weiß im Staatsanzeiger stand, daß er, Johannes Gotthilf Bürger, zum Pfarrer in H–lingen ernannt sei, – was war das für ein Tag! Ehe er nur einen Dachziegel von »seinem« Dorf gesehen, hatte er es schon ins Herz geschlossen, war es doch seine erste Pfarrei, in die er nach ungeahnt kurzem Vikariat in vollem Glanz neuer Würde einziehen sollte in wenigen Wochen.

Pfarrer sein! Einer sein, der das Wort Gottes lauter und rein predigt, einer, der nach diesem Worte lebt und leben lehrt, einer, der jede Not im Dorfe kennt und teilt, einer, der mit seiner Gemeinde weint und lacht, betet, duldet und sich freut, einer, der teil hat an ihrer harten Arbeit, ihren begrenzten Interessen, ihren alltäglichen Sorgen.

Ja, so wollte er sein, so mußte er sein, der Pfarrer von H – lingen. Und dann, weißt du noch, Hans Bürger – das Schreiben dazumal an das hohe Konsistorium? Weißt du's noch; es war gerade ein Jahr, ein kurzes Jahr nach deiner Ernennung!

In den Augen des Mannes blitzte es; aber nicht kindlich und jungenhaft, wie oben auf der Heide, nein, es war ein Blitz aus einem gefesteten Mannesherzen.

Ja, er wußte noch, was in jenem Schreiben stand, und er mußte es aufrechterhalten jetzt, morgen – sein Leben lang.

Um seine Entlassung bat Hans Bürger kurz, knapp und lediglich mit der Begründung, daß er sich seinem Amte nicht gewachsen fühle.

Ein weißhaariger Rat mit goldenem Kneifer auf der Nase, mit lebhaft, fast durchdringend blickenden Augen unter den ungewöhnlich buschigen schneeweißen Brauen, mit bartlosen, dünnen Lippen, die beim Sprechen und Lachen zwei Reihen tadellos gesunder Zähne blicken ließen, er fand Hans Bürgers Schreiben in dem Aktenstoß, der allmorgendlich sein Schreibpult zu zieren pflegte.

Da warf der Herr Rat mit kurzem Ruck den Kneifer von der Nasenspitze und er nahm das Gesuch ganz nahe vor die Augen, und so las er es nochmals und dann nochmals.

Danach bekam das Schreiben einen Platz abseits von den andern Akten, und an einem sehr stürmischen Sonntag im März, gleich nach dem Morgengottesdienst, trat der weißhaarige Herr Rat über der Schwelle des Pfarrhauses zu H – lingen.

Der riesige Pfarrherr saß auf dem ledernen Sofa, als sein Gast am Studierzimmer kurz klopfte und sofort eintrat.

Mit müdem, sonderbar hilflosem Blick sah Hans Bürger auf, und als er den Herrn gewahrte, lief ihm ein Rot über das Gesicht.

Das Ledersofa hatte Platz für zwei. Der weißhaarige Rat mit dem seinen Diplomatengesicht, er setzte sich neben den jungen Pfarrer, und er klemmte den Kneifer fester auf die schmale Nase.

Der Herr Rat hatte Hans Bürgers Eltern gekannt, er hatte den Pfarrer selbst heranwachsen sehen, hatte dessen Studiengang verfolgt, sich an den guten Examinas gefreut, ja – er ließ es diskret durchblicken – er hatte bei der Ernennung für H–lingen auch ein wenig seine Freundeshand im Spiel gehabt.

Und aus dieser langjährigen Anteilnahme heraus, nicht als Mitglied des Konsistoriums, saß heute der Herr Rat auf dem Ledersofa, und er begehrte von Hans Bürger Aufschluß über die Vorgeschichte des seltsamen Schreibens.

Da schauten des jungen Pfarrers treuherzige Augen fest auf den goldenen Kneifer, und die bärtigen Lippen legten ein Bekenntnis ab, darob die bartlosen des Hörers öfters lächelnd und noch öfters strenge zuckten.

»Warum ich meine Entlassung will, Herr Konsistorialrat, nun, weil ich doch niemals mit meinem Amt zu Streich komme. Ein ganzes Jahr habe ich mich gemüht; aber es geht nicht, es geht nicht.«

Eine leise Beimischung von Spott klang aus des Rats Worten, als er entgegenhielt, wie doch Tausende von Landpfarrern mit weniger Fähigkeiten treffliche Hirten ihrer Gemeinden seien.

Hans Bürger starrte zu Boden in trübem Sinnen, dann schüttelte er die dunkle Mähne: »Ich weiß nicht, wie es die andern machen, ich weiß nur, daß bei mir Hirn und Herz, Hand und Geldbeutel nicht reichen. Wenn ich nur ein einziges Mal durch mein Dorf gehe, wenn ich nur zu einer kurzen Predigt auf meiner Kanzel stehe, so fühl' ich, daß ich zu arm bin, viel zu bettelarm, von innen und von außen, um hier ein Priester Gottes sein zu können.«

Der Rat saß still, die weißen Brauen zuckten hinter dem Kneifer, die durchdringenden Augen hingen mit sonderbarem Ausdruck, fast war es eine Drohung, an Hans Bürgers Gesicht.

»Kinderkrankheiten,« sagte der Rat hart, »die Kinderkrankheiten Ihres, unseres Standes. Lassen Sie noch ein Jahr hingehen, ich kenne das, jeder kennt es, aber nicht jeder wirft gleich die Flinte ins Korn, denn Treusein ist die erste Priestertugend.«

Eine helle Lohe schlug über Hans Bürgers breite Stirn: »Wahrsein ist noch heiliger, noch wichtiger,« sagte er leise und verwirrt, und dann spielte ein frohes Lächeln um den bärtigen Mund. »Ich habe einen Vorschlag, Herr Rat: setzen Sie einen andern hierher, einen von denen, die die Kinderkrankheit hinter sich haben, und mich lassen Sie bei ihm bleiben als seinen Gehilfen. Ich will kein Geld, ich habe mein bescheiden Teil; aber der Pfarrer von H–lingen möchte ich bleiben, wenigstens der zweite, wenigstens nominell, denn ich kenne sie alle hier, und sie brauchen mich.«

Der Herr Rat blickte erstaunt auf den Mann, der voll Eifers seine Ungereimtheiten vorbrachte, und er meinte kühl: »Wenn Sie entlassen sind, kann Ihnen niemand wehren, hier zu bleiben; aber erklären Sie mir endlich, wie Sie überhaupt dazu kommen, um Ihre Entlassung zu bitten, wenn Ihre Gemeinde Ihnen so am Herzen liegt.«

Das Lächeln schwand auf Hans Bürgers Gesicht, trüb schaute er gegen die Scheiben, an denen der Regen niederlief, und er sagte seufzend: »Mir ist's zuviel. Seelsorger soll ich sein für die fünfhundert Menschen, und ich bringe es kaum fertig, ein Stückchen ihrer Leibesnöte zu lindern und zu heilen. Und ob Sie es mir glauben oder nicht, Herr Konsistorialrat, solange die Bauern für ihren Leib und mit ihrem Leib in oft so bitterlichen Nöten sind, lassen sie mich an ihre Seelen nicht heran, und ich will dann auch nicht, ich kann nicht, es ist mir wie ein blutiger Hohn, wie eine Gotteslästerung. Und noch etwas! Sie sehen alle auf mich, sie glauben an mich, sie vertrauen mir. Und ich zittere, ob ich wie ein Priester des Höchsten lebe, ob ich dem Himmelsherrn nicht Schande mache. Ich zittere, ob ich niemals lüge auf der Kanzel, ob ich niemals Häckerling unter den Weizen säe, ob diese fünfhundert Menschen sich auf mich, den Hans Bürger, verlassen können, wenn ich deute und auslege, wenn ich drohe und verheiße. Wenn ein altes Weiblein in der Kirche sitzt und schaut zu mir auf mit dem Hungerblick, den hier zumeist nur diejenigen haben, die gegen die Grube wanken, dann schnürt mir's Herz und Kehle zu vor Angst, dann spüre ich nichts von der Freudigkeit, die ein Diener am Wort haben muß.«

»Haben darf, Herr Pfarrer,« sagte der Rat mit einem kleinen Anflug von Salbung. Dann stand er auf und trat an den Schreibtisch. Seine weiße Hand legte er auf die Bibel, und er meinte würdevoll: »Entweder ist es geistiger Hochmut oder es ist Unglaube, Herr Pfarrer, was Ihnen diese Anfechtungen bringt. Ein einfältiger Diener am Wort zu sein, geht keineswegs über Menschenkräfte; aber Sie scheinen zu glauben, Sie allein haben ein Gewissen.«

Der Pfarrer schaute hilflos auf den gestrengen Herrn. Er hätte so viel, so unendlich viel zu sagen gehabt. Wenn er nur die Hälfte von allem hätte erzählen wollen, was ihm in schlaflosen Nächten durch den Kopf ging – der Herr Rat hätte müssen das harte Wort zurücknehmen; aber es war des riesigen Mannes Sache nicht, sich von dem Vorwurf geistigen Hochmuts zu reinigen oder lang über sein Gewissen und das seiner Amtsbrüder zu sprechen.

»Ich bitte recht, Herr Konsistorialrat, mein Gesuch zu belassen wie es ist. Und ich danke Ihnen vielmals, daß Sie bei so stürmischem Wetter die lange Fahrt unternommen haben,« sagte der große Mann gedrückt, aber mit einer stillen Festigkeit, die den weißhaarigen Herrn bewog, nach seinem Hut zu greifen.

»Ich war als ein Freund Ihrer Eltern bei Ihnen, lieber Herr Pfarrer; ich hätte gewünscht, mit anderm Bescheid gehen zu können.«

Hans Bürger lachte leise auf: »Ich möchte es dem Freund meiner lieben, toten Eltern ganz besonders sagen, daß mir mit jenem Schreiben, das Sie hergeführt, ein schwerer Stein vom Herzen fiel,« sagte er fröhlich und geleitete den Herrn Rat in den »Roten Ochsen«, wo der Kutscher eingestellt hatte.

Kurze Zeit danach fuhr die schmutzbespritzte Kalesche des Herrn Konsistorialrats am Pfarrhaus vorüber. Ein schwer betrunkener Bauer wich taumelnd aus, und ein bärtiges Gesicht blickte durch ein Fenster auf diesen Bauern und das entschwindende Fuhrwerk.

»Für einen Herrn vom Konsistorium, glaube ich, würde mein Gewissen auch ausreichen; aber für einen Pfarrer unter Kerlen wie der Veit-Adam reicht es in Gottes Namen nicht,« sagte Hans Bürger ganz leise, und seine guten Augen blickten ehrlich bekümmert in den rieselnden Regen.

Als der weißhaarige Rat am Montag morgen seine Kanzlei betrat, war seine erste Arbeit, das bewußte Schreiben wieder zu den übrigen Akten zu legen, und mit diesen ging es seinen geweisten Gang, und Hans Bürger zog bald danach aus dem Pfarrhaus von H–lingen hinaus in das niedere Häuschen am Dorfende, und er hängte dort sein schönes, rosenrot geschriebenes Plakat auf: Hans Bürger, Pfarrer a. D.

*

Ins Pfarrhaus zog einer ein, der die Kinderkrankheiten hinter sich hatte. Es war ein stiller, schon älterer Mann, der die Pfarrei um ihrer Weltabgeschiedenheit und ihrer gesunden Lage willen gewünscht hatte, denn er, der neue Pfarrer, war nicht sonderlich fest auf der Lunge und suchte in H–lingen Ruhe und Muße für seine botanischen Studien.

Er predigte schlicht und recht, und die Weiblein mit ihrem grabesnahen Hungerblick genierten ihn wenig. Höchstens seines entlassenen Amtsbruders fragende, suchende Augen wollten ihn bisweilen irritieren; aber der Pfarrer gewöhnte sich bald an, bei der Predigt geradeaus und nicht seitwärts nach dem bärtigen Antlitz Hans Bürgers zu blicken. So war der anfängliche Übelstand behoben, und glatt, ohne Stockung und Verwirrung, verlief Predigt um Predigt.

Die Herren waren ganz gute Freunde, und der bärtige Riese selber war es, der für sich den Namen »Leibsorger« im Dorfe in Schwang brachte, während der Neue der Seelsorger war.

»Wir wollen uns wacker in die Hände arbeiten, Herr Pfarrer,« hatte strahlenden Blicks der Entlassene zu seinem Amtsbruder gesagt, als ihm dieser den ersten Besuch machte.

Der Herr Pfarrer hatte zustimmend genickt, seine kurzsichtigen, bebrillten Augen hingen etwas geistesabwesend an einem Prachtexemplar von Cypripedium calceolus, und er fragte interessiert: »Gedeiht das hier in der Nähe?«

Und mit fröhlicher Bereitwilligkeit beschrieb Hans Bürger den Standort, hörte lange Ausführungen über Kalkboden und Sandboden an und sprach nicht mehr über die beabsichtigte Teilung der pfarrherrlichen Arbeit.

Der neue Pfarrer aber ging hochbefriedigt zu Mutter und Schwestern heimwärts; er erzählte viel von dem umgänglichen, fröhlichen Wesen des Exkollegen, von dessen Belesenheit und mannigfaltigem Wissen, und im Pfarrhaus war nur eine Stimme: daß der Pfarrer Bürger vielleicht seine Schrullen habe; aber verrückt, wie es im letzten Pfarrkranz geheißen hatte – verrückt sei er sicher nicht.

*

Der große Mann saß immer noch am grasigen Rain, die langen Beine behaglich von sich gestreckt, die hellen Augen auf das ferne Dorf geheftet. Ja, es war gut so, wie es war.

Ein Jodler, eher einer Hüterbuben- als einer Pfarrerskehle angemessen, klang fröhlich über den Hang hin. Und jetzt zog Hans Bürger sein Taschenmesser hervor, öffnete die Kapsel und begann kunstgerecht und behutsam die zarten Pilze zu putzen und zu enthäuten, und dabei gingen seine Gedanken wieder spazieren.

Das war jetzt die Sache mit dem Veit-Adam, dem alten Säufer. In dem elenden Haus »im Gäßle hinter der Kirch'« saß Hans Bürger stundenlang bei dem Alten, den der Herr Seelsorger einen stumpfsinnigen Trunkenbold zu nennen pflegte. Und der neue Pfarrer hatte recht: Mit Veit-Adams Seele, ihren Nöten und Bedürfnissen war es nicht mehr weit her. Aber Hans Bürger hatte auch recht.

An des heruntergekommenen Bauern rötlicher Habichtsnase liefen salzige Tränen herunter, die sich in den zahllosen Runzeln und Falten des verschrumpften Gesichts verliefen und verloren, wenn Veit-Adam mit Hans Bürger über die tote Kätter sprach.

Die Kätter war des Bauern Weib gewesen, und er hatte sie oft bös geprügelt, obgleich er damals noch allezeit nüchtern war. Seit sie tot war, flossen viele Tränen und noch mehr Schnaps um sie. Dem Herrn Pfarrer war das widerlich; Hans Bürger war es auch widerlich; aber er hatte ja Zeit, zu dem Alten hinzusitzen; er hatte ja keine Predigt zu machen und keinen Unterricht zu halten – er war ein freier Mann. Und solange Veit-Adam mit Hans Bürger sprach, trank er nicht, und einmal war auf diese Weise der Bauer einen ganzen Tag nüchtern geblieben.

Von der toten Kätter lenkte der Pfarrer a. D. die Rede auf des Säufers Pflegetochter, auf des Heiligenpflegers Weib, die Madel. Sechs Jahre war sie alt gewesen, als ihr Vater, ein Bruderssohn der Kätter, im Wald von einer stürzenden Tanne erschlagen worden war. Der Veit-Adam, der keine Kinder hatte, nahm die Halbwaise ins Haus, er zog sie auf, schlecht und recht, er ließ ihre Mutter begraben auf seine Kosten; er schaffte ihr zwei zwilchene und zwei flanellene Gewänder an und tat wackere Vaterpflicht an ihr, so daß er nach der Kätter Tod und der Madel Heirat dieser sogar »sein Sach'« gab und zu ihr zog ins Ausgeding.

Wieder liefen aus den kleinen, verschwommenen Augen die Tränen. Aber diesmal war es Hans Bürger nicht widerlich; er ballte unwillkürlich die große Rechte zur Faust.

Vierhundertundfünfzig Mark jährlich waren geschrieben, daß der Veit-Adam bekommen mußte im Ausgeding. Keine zweihundert bekam er zusammen, und wenn er Milch und Butter, Eier, Brot und Fleisch noch so hoch veranschlagte.

»Vierzig Grad soll die Milch wäge, und wenn i sie wäg', hot sie fünfundzwanzig, do sauf' i lieber Schnaps,« schluchzte der Bauer und strich mit der schwieligen Hand über sein spitzes Knie.

Und Hans Bürger sagte kein Wörtlein dawider.

»Mit ihrem Obst wisset se net wohin, so viel ist g'wachse. Se schüttet's auf Haufe, no fault's, und zu unterst 'raus krieg' i's.« Wieder ein stoßweises Schluchzen des Trinkers, und wieder blieb Hans Bürger stumm.

»Wenn d' Butter ebbes gilt, verkaufet sie s', und no wenn se abschlägt, krieg' i mein Teil.« Und jetzt beginnt der Trunkenbold plötzlich so zu schluchzen, daß sein hagerer, ausgemergelter Körper förmlich bebt, und der große Mann neben ihm versteht kaum, wie er stammelt: »'s Lisbethle, ihr Mädle, lasset se nemme zu mer, weil se saget, i häb' älleilwe en Rausch –«

Es flammt auf in den Augen des Pfarrers außer Diensten.

Schwer schlägt er mit der Faust auf den schmierigen Tisch: »Wenn mer's ei'm so macht, ist's kei Wunder, wenn mer sauft. Ich werd' für Euch die Bande beim Schultes, und wenn's not tut, beim Amtsg'richt verklage,« sagt er laut und empört, und er schreitet zur Tür, seine Drohung wahr zu machen. Der Zorn kocht in ihm, als er durch die Gassen eilt. Dann fällt ihm ein, daß sein Zuspruch und seine Drohung wenig priesterlich sind; eines Augenblickes Länge drückt ihn etwas im Innern, dann fliegt es wie Sonnenschein über sein mähnenumwalltes Gesicht – er ist ja Pfarrer a. D.

*

Im letzten Sommer war's. Der ganze Juni war regnerisch und kalt gewesen. Das gemähte Gras lag lang auf den Wiesen und war am Faulen. Dann kamen etliche helle Tage und ein ganz besonders heller Sonntag, an dem die Sonne vom frühen Morgen an so kräftig herniederstach, daß auf den Wiesen der letzte Halm trocken wurde, noch ehe die Glocken geläutet hatten. Aber im fernen Westen ballte es sich auf, das dunkle Gewölk, das die wackere Arbeit, die die Sonne an allem Heu auf H–linger Markung getan, in einer Stunde vielleicht zunichte machte.

Da zog der entlassene Pfarrherr einen alten Kittel an. Er ging »das Gäßle« entlang und klopfte an die sonntäglich blanken Scheiben, und wo eine Hand ihm auftat, hielt er eine seltsame Predigt: »Machet, daß er ins Heu kommet, Leut', heut g'wittert's no. Eure Küh' könnet den Winter net von der schönste Predigt lebe, und der Gerechte erbarmet sich seines Viehes.«

Da und dort waren die Leute schon fort, ohne die priesterliche Aufforderung abgewartet zu haben, mancher Bauer aber legte erst auf Hans Bürgers Klopfen hin den Kirchenrock wieder ab und griff zu Rechen und Gabel, und aller Gewissenszwang war behoben, denn der »alte Pfarrer« war doch immerhin ein G'studierter und mußte wissen, was »e Sünd'« ist.

Es war ein reges Leben draußen auf den Wiesen, und mitten unter den hastig arbeitenden Bauern stand Hans Bürger, die Gabel in den gewaltigen Händen, hemdärmelig, den Schweiß auf der Stirn. Der alten Bärbel, der buckligen Witfrau, half er das Heu laden, so schnell und gewandt, als hätte er darauf lange Jahre studiert und sämtliche Examina bestanden.

Aus Anlaß dieser Heu-Affäre hätte es beinahe ernstliche Differenzen mit dem aktiven Amtsbruder gegeben. Denn außer dem Heiligenpfleger und seiner Madel, die dem Hans Bürger spinnefeind waren, seit er sie mit Erfolg verklagt hatte, waren nur steinalte Weiblein, Kinder und Gebrechliche in der Kirche gesessen an jenem Sonntagvormittag.

Selbst, daß der Exkollege im besten Rock und im Zylinderhut beim Amtsbruder vorsprach und diesen mit eindringlichen Worten und den schönsten Gesten der großen Hände darlegte, wie der Sabbat um des Menschen willen, nicht der Mensch um des Sabbats willen da sei, selbst auf dies hin kam der Herr Pfarrer über seinen stillen Ingrimm nicht ganz hinweg, und auch Mutter und Schwester neigten zum erstenmal zu der Ansicht, daß in Hans Bürgers Oberstübchen nicht alles klappe.

Der riesenhafte Theologe aber schlief in jener Nacht den Schlaf eines Gerechten, der wacker Heu geladen hat.

*

Dann der Fall Ernstine! Brauchbar war sie ja, die Ernstine, und von Hans Bürgers Mutter so perfekt eingeweiht und eingeführt in alle Finessen einer wohlgeleiteten Haushaltung, daß in dieser Hinsicht nichts zu tadeln war. Aber sonst! – Ein Maultier, diese Verkörperung verbohrten Eigensinns, war ein fügsames Lamm gegenüber der Jungfer Ernstine. Daß sie den hünenhaften Pfarrer dereinst auf ihren Armen getragen, das war für sie Grund genug, diesen Pfarrer jetzt in unerhörter Weise zu tyrannisieren.

Welche Kämpfe hatte es gekostet, bis sich Ernstine herbeiließ, jederzeit den Brotlaib und Mostgläser auf dem Tisch bereit zu halten, jederzeit die Tür unverschlossen zu lassen, damit jeder Hungrige, jeder Heimatlose eintreten könne und bei Hans Bürger Brot und Heimat finde, auch wenn der Herr fort und die Jungfer schlechter Laune sei. Wieviel scharfen Spott hatte die Ernstine über ihren Pfarrer ergossen, als er sagte: »Ernstine, ich geh' vom Amt; ich bring's nicht fertig, es ist mir viel zu schwer.«

»Herr Pfarrer,« hatte sie gerufen, und ihre scharfen Augen hatten ihn förmlich angefunkelt: »Tun Sie Ihren Eltern unterm Boden die Schande nicht an! Wenn Sie einmal an einem Sonntag keine neue Predigt fertig bringen, so nehmen Sie halt eine alte, die Bauern merken's nicht, und die andern machen's auch so.«

Hans Bürger lachte laut auf: »Das wäre das wenigste, Ernstine, die Predigt wollte ich schon zusammenbringen; aber …«

»Was aber?« schrie die Alte erbost. »Was – aber? So eine lumpige Leiche alle vier Wochen, oder einmal eine Taufe, oder das bißchen Unterricht! Wenn ich das viele Geld verstudiert hätte, wie Sie, da wäre mir's nicht angst.«

»Ernstine, du bist eine alte Gans!« sagte trocken der Riese und streckte die langen Beine unter den Tisch.

In ihren höchsten Tönen keifte die Jungfer: »Schämen würde ich mich, wenn ich als solch ein junger, starker, gesunder Mann von dem leben würde, was mir mein Vater hinterlassen hat, und wenn ich ohne Amt und Geschäft sollte im Dorf herumlaufen, und schämen würd' ich mich, wenn ich gegen die, die mich auf ihren Armen getragen hat, gleich so grob wäre und sie eine alte Gans schimpfte.«

Die Stimme schnappte jählings in ein schluchzendes Weinen über, und Jungfer Ernstine wankte zur Küchentür.

Der Pfarrer sprang empor und faßte die Alte am Arm: »Siehst du,« begann er ernsthaft, »daß ich kein Pfarrer bleiben kann! Ich bin nicht sanft und nicht geduldig, ich muß schimpfen können und dich eine Gans nennen. Und weil ich mich nicht in der Gewalt habe, darum gehe ich vom Amt, denn ein ungeduldiger und grober Pfarrer ist nicht das Wahre.«

Die Alte schüttelte ihres Herrn Hand ungeduldig ab. »Schimpfen darf ein Pfarrer,« behauptete sie erbost, »aber hinter die Rechten soll er kommen, nicht hinter alte, treue Dienstboten. Der Pfarrer von N., der kann schimpfen wie ein Rohrspatz, der hat mit seinem Schultheiß und mit seinem Schulmeister die schönsten Händel und ist nicht zimperlich; darum bleibt er aber doch im Amt und ist ein rechter Mann!«

Damit schlug die Jungfer die Küchentür zu, daß es schmetterte.

Hans Bürger aber schrieb mit Feuereifer sein Entlassungsgesuch. Als er bald danach richtig außer Dienst war, da pfiff es aus einem andern Loch. Wenn Ernstine grob ward, dann ward ihr Herr ohne Umschweife noch viel gröber, und was ihr von jeher in innerster Seele zuwider gewesen war: der Freitisch für alles Gesindel, der Zulauf vom ganzen Dorf, das »Sich-gemein-machen« mit Gott und der Welt, das nahm jetzt so überhand, daß die Alte mehrfach ernstlich erwog, ob sie den »verrückten Menschen« nicht verlassen wolle. Aber sie hatte ihn ja auf ihren Armen getragen!

*

Und dann das Heiraten! Nach Hans Bürgers felsenfester Überzeugung gehörte zu dem evangelischen Pfarrherrn und in jedes evangelische Pfarrhaus eine Pfarrfrau.

Schon als Vikar, ja schon als »Stiftler« hatte er diese Überzeugung gehabt, und in der breiten Brust schuf er sich das Bild von einer Pfarrersehe. Da war alles Frieden, Liebe und vor allem rastlose, gemeinsame Arbeit.

Sonderbar! Wenn sich Hans Bürger auch eine Pfarrfrau mit allen nötigen Eigenschaften sehr wohl denken konnte, ja, wenn das erträumte Idealgeschöpf schon greifbare Umrisse gewann, wenn blonde Zöpfe und blaue Augen hereinspielten … er selbst konnte sich niemals als den Idealehemann daneben denken.

Er kannte viel Pfarrfrauen der Umgegend. Wackere Frauen, vor denen er im Geiste den Hut abnahm; aber wenn sie so ruhig, so sittig, so christlich beieinander saßen und von ihren lieben Kindern und auch von andern Dingen sprachen, dann hatte er immer eine Art Ungeduld in sich, und diese Ungeduld legte er sich als »Abneigung gegen das Weibliche« zurecht.

Er lernte auch Pfarrehen kennen, in denen es weniger zart zuging. Mit eigenen Augen hatte er gesehen, wie ein Kollege wegen einer Bagatelle den Kartoffelhafen durchs Küchenfenster warf. Und – o Schrecken – damals hatte ihn, Hans Bürger, nur eine äußerst oberflächliche und konventionelle Entrüstung überkommen; im tiefen Innern gestand er sich, daß er es bei ähnlichem Anlaß und nach ähnlichen Vorkommnissen ganz ähnlich machen würde, als Ehemann einer ähnlichen Pfarrfrau. Da faßte ihn ein förmlicher Horror vor sich selber. Nicht daß er sich von da ab die Qualifikation zum Heiraten überhaupt abgesprochen hätte; aber seine Idealpfarrersehe zu führen, fühlte er sich unfähig. Daß ein profaner Ehemann einmal ungebärdig wird und etwas robust mit Kartoffeltöpfen umgeht, das war dem temperamentvollen Riesen denkbar; aber ein Pfarrer …

Dem Amtsbruder von M., einem fähigen Mann von guter Lebensart und ohne Engherzigkeit, teilte in einer vertrauten Stunde Hans Bürger seine Bedenken mit. Und der Amtsbruder klopfte ihm lachend auf die Schulter: »Sie nehmen die Sache zu ideal, mein Lieber! Nur immer hübsch mit den Füßen auf dem Erdboden bleiben!«

Das war der ganze Bescheid. Noch lange auf dem dämmerigen Heimweg durch das Föhrengehölz schüttelte Hans Bürger dann und wann den Kopf. Eine Pfarrersehe konnte man gar nicht ideal genug nehmen, das stand ihm fest. Und darum mußte er ledig bleiben. Und weil ein lediger, evangelischer Pfarrer nach seiner Überzeugung ein Unding war, mußte er aus dem Amte. So weit war alles logisch richtig.

Dann aber ließ der Riese einen unlogischen Jodler durch den Wald erklingen, und weiter folgernd ging's ihm durchs Hirn: Weil du dann kein Pfarrer mehr bist, darfst du heiraten, und wenn auch nicht alles der reine Friede und die vollste Glückseligkeit und Christlichkeit ist, wenn »sie« auch nicht so ausnehmend sanft und mild und tugendreich ist, und wenn mit dir auch bisweilen dein Temperament durchgeht – du bist ja außer Diensten, und deine Ehe ist keine Pfarrersehe.

Ganz verliebt wurde auf jenem Heimweg der große Mann in den Gedanken an seine Profanehe, wo alles so ohne Salbung, ohne Verantwortung für jedes ungeschickte Wort vor sich gehen sollte, und mit einem Schlag wich jetzt auch das sonderbare Gefühl der »Abneigung gegen das Weibliche«.

*

Noch immer putzte Hans Bürger an den Pilzen für des Frieders kranken Christian. Es war keine ganz leichte oder vielmehr eine allzu leichte Arbeit für die mächtigen Hände, die zu ganz anderm Werk geschaffen schienen. Auch daß des Mannes Gedanken so sehr abseits von der Arbeit schweiften, förderte deren Fortgang nicht gerade besonders, denn sehr oft warf Hans Bürger Schalen und Häute zu den gereinigten Pilzen oder einen gereinigten zum Abfall.

Es war beinahe Mittag, als er endlich aufstand. Arme und Beine reckte und sich heimwärts wandte.

Am Dorfeingang standen auf niedrigem, kalkigem Hügel, den seltsame, kümmerliche Pflanzen bedeckten, zwei weitverästete Apfelbäume, an denen die kleinen, roten Christtagsäpfel in der Sonne reisten.

Um den Stamm des größten Baumes lief eine einfache Bank. Die hatte Hans Bürger eigenhändig gezimmert für die Eve-Kätter, die kränkelnde Schwester der bissigen Bärbel, die oben am Berg Kartoffeln grub und vom Pfarrer »der größte Nickel von H–lingen« tituliert worden war.

Die Schwestern, zwei »Jungfern«, spielten eine hervorragende Rolle im Dorf, besonders die kränkliche Eve-Kätter, von der die Welt wußte, daß sie »mehr konnte als Brot essen«. Zwar hatte niemand sichere Beweise, noch war jemals ein bestimmter Fall bekannt geworden, der für die höheren Kräfte des kränklichen Weibes gesprochen hätte; aber schon, daß sie stundenlang in Büchern las, war höchst verdächtig, und daß sie aus jedem Pfund Flachs, das den langen Winter über durch ihre Finger lief, zwei ganze Schneller mehr herausspann als jedes andere Weib im Dorf, und daß dabei ihr Faden doch noch zäh und gleich und vom Weber als der beste gepriesen ward – das schlug dem Faß den Boden aus.

An der Bärbel waren es andere Eigenschaften, um derentwillen sie im Dorf in Ansehen stand. Die mehr als Sechzigjährige hatte Kräfte wie ein Mann, sie war ihrer Lebtage nie krank gewesen, sie wußte nicht, was Müdigkeit und Schwäche war, und hatte keine Ahnung, in welcher Gegend ihres robusten Körpers ihr Magen lag. Wo man im Dorf harte Arbeit hatte, um die sich die männlichen Tagelöhner scheu herumdrückten, da holte man die Bärbel, und sie war immer zur Hand, immer fleißig, immer mobil. Das allermobilste an ihr war aber ihr Mundwerk, und auch dieses hatte, wie ihre körperlichen Fähigkeiten, einen Stich ins Überlebensgroße, ins Unwahrscheinliche. Wenn die Bärbel anfing zu schimpfen, dann kratzte der derbste der Dorfbauern hilflos im Haar, und es war selten, daß ein menschliches Wesen Widerspruch erhob gegen das, was die Jungfrau zu verfechten für gut fand.

Der einzige, der zuerst Unerfahrenheit und danach Mut genug besaß, dies zu wagen, war Hans Bürger.

Es ging dem Pfarrherrn gegen den Strich, daß die Schwestern in vielfältigem Unfrieden dahinlebten. Nicht bei jedem seiner Gemeindeglieder fand er so viel tüchtige, wackere Eigenart als bei den beiden Alten, die so grundverschieden und doch wieder so ähnlich waren.

Was bei der Bärbel robust und derb gegen außen trieb, das trieb bei der Eve-Kätter ebenso robust und derb gegen innen, weil der kränkliche Körper den andern Weg von selbst verbot. Wie die gefürchtete Bärbel unerschrocken räsonierte, wenn ihr, und sei es vom Schulzen oder vom Pfarrer, etwas quer kam, so nahm die stille, kranke Eve-Kätter in ihrem »sinnierigen« Kopfe Stellung gegen alles, was ihr nicht in der Ordnung schien, und wenn es selbst in der Bibel stand. Und die unerreichte Feinheit des flächsernen Fadens, der zur Winterszeit unter Eve-Kätters Händen entstand, sie dankte ihren Ursprung demselben ehrgeizigen Willen, der die Bärbel die höchsten Garbenwagen laden, die schwersten Bündel tragen ließ.

Schon zahllose Male hatte Hans Bürger besänftigenden Einfluß auf die beiden Schwesterngemüter auszuüben versucht; jedesmal mit negativem Resultat. Es war nämlich jedesmal im Verlauf der Verhandlungen dahin gekommen, daß der hünenhafte Pfarrherr am meisten der Besänftigung bedurft hätte, und oben am Berghang war es nicht das erstemal, daß die temperamentvolle Bärbel den »Nickel« an den Kopf geworfen bekam.

Die kranke Eve-Kätter saß mit ihrem Strickstrumpf auf der Bank unterm Apfelbaum, als Hans Bürger des Wegs kam.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer,« rief sie von weitem schon, »hättet Se net a weng Zeit für mi?«

Hans Bürger aber hatte immer Zeit, wenn ihn jemand brauchte. Mit zwei Sprüngen, wie sie seinen Beinen angemessen waren, stand er auf dem Hügel und setzte sich neben das blasse Weib, das trotz der Wärme des sonnigen Tages in wollenen Tüchern steckte und die Schultern fröstelnd zusammenzog.

»Euer Bärbel ist mer begegnet,« sagte er kurz, »was hent ihr wieder g'het mitenander?«

Die Kranke schaute mit sonderbar kampfesfrohem Blick nach der Gegend, wo sie die Schwester beim Kartoffelgraben wußte, und sie entgegnete hart: »Daß der Abraham net recht dra g'we' sei, wia 'n er hot solle de Isaak opfere, sell sag' i. Und do derwege fangt d' Bärbel Händel a. Und wenn eine so schafft de ganze Tag, wie d' Bärbel, die verstoht doch nix von so Sache.«

Hans Bürger nickte kurz mit dem Kopf, er verstand vollkommen den Gedankengang der Alten und billigte ihn; aber dann trieb es den Theologen in ihm, den Erzvater in Schutz zu nehmen: »Eine Glaubensprobe sollte es sein für ihn, Eve-Kätter, und er hat sie glänzend bestanden,« sagte er fast streng, und er sprach im Kanzelton und hochdeutsch, was sonst seine Art mit den Bauern nicht war.

Das Weib aber hustete kurz auf und sah den Pfarrer an mit feindseligen Augen. Nicht die leiseste Spur von Scham oder Verlegenheit, wohl aber ein fast starrer, fast feierlicher Ernst breitete sich über das blutleere Gesicht der »Jungfer«, als sie entgegnete: »I hab' en Bube g'het, en kleine Bube von drei Johr. Und wenn aus em höchste Hemmel oder aus der tiefste Höll' e Stimm' zu mer komme wär', i soll mein' Bube opfere, no hett' i halt g'sagt: ›Nei und nei und nei!‹ Und i hett' zu dere Stimm' g'sagt: ›Du bist net der Herrgott, denn der Herrgott ka kei Scheußlichkeit von mir verlange, net emol em G'spaß und net emol zur Prob'.‹ Und der Erzvater ischt net recht dra g'we', daß er des net zum liebe Herrgott glei g'sagt hot, und de liebe Herrgott hätt's g'wiß bloß g'freut, wenn der Abraham so von der Leber weg g'schwätzt hätt', denn en Menschen fenda, der die recht' Liab' em Leib hot, des ist g'wiß unserm Herrgott liaber als drei mit em stärkste Glaube!«

Hans Bürger saß stumm, die großen Hände gefaltet, wie in der Kirche. Seine treuherzigen Augen hingen am leuchtenden Himmelsrand, und in seinem priesterlichen Herzen quoll es so warm, so stolz auf, und es klang in ihm: Hör' nur, lieber Ewiger dort oben, wie meine Bauern, meine H – linger Bauern von dir und über dich denken, und solchen Leuten hätte ich predigen sollen, ich, der lange Hans, der doch selber nicht halb so tiefe, nicht halb so wahrhaft fromme Gedanken hat.

Das ungleiche Paar schwieg lange. Die fröstelnde Kranke ließ sich die Sonne auf die Füße scheinen, die in unförmlichen Filzschuhen steckten, der große Mann aber dachte nach, ob er jemals in einer seiner ehemaligen Predigten gleich würdig von Gott gedacht und gesprochen habe. Und dann dachte er auch an den kleinen Buben der Jungfer, von dem er soeben zum erstenmal gehört hatte.

»Eve-Kätter,« fragte er leise, »was ist dann aus Eurem Bube worde?«

Das Weib legte die gedunsene, gichtentstellte Hand vor die Augen, als tue ihr das Licht weh, das durch die Blätter brach.

»Unser Herrgott hot mer'n g'nomme, o'g'frogt und ohne älles. Am Samstig ist er no' g'sund g'we', am Sonntig tot, beim Kircheläute. E Büeble wia Milch und Bluat, und drei Johr alt. Würm' häb' er g'hätt, Hot der Doktor nocher g'sait, sonst nix. E reng's Mittel hätt' helfe kenne, wenn mer's g'wißt hätt'. Mein Glaube han i des'tweg' net verlore, der Herrgott weiß, worom er's so g'macht hot. 's ischt e Opfer g'we'; aber i selber han net müesse 's Messer führe, der Glaub' ischt dabei grad' so guat auf d' Prob' g'stellt worde; und i han net brauche derweg' an Unmensch werde.«

Herb, fast hart brachte das Weib ihre Argumente vor, der Extheologe machte keinen Versuch, dawider zu reden.

Langsam stand er auf von der niedrigen Bank, auf der ihm alle Knochen weh taten. »Saget Eurer Bärbel, i häb g'sagt, Ihr häbet recht, und sie versteh' nix von solche Sache,« sagte er ernst und reichte dem Weibe die Hand. Dann eilte er davon mit langen Schritten, als habe er Angst, der Theologe in ihm könne widerrufen.

*

Des Frieders kranker Christian, für den die Pilze bestimmt waren, wohnte am entgegengesetzten Dorfende, ganz nahe bei Hans Bürgers eigner Wohnung.

Er war das Schmerzenskind des Expfarrers, ja er war derjenige, der zuerst und am öftesten dem Hünen den Gedanken an Austritt aus dem Amte nahegelegt hatte.

Wie die Eve-Kätter durch langjährige körperliche Leiden vom Getriebe des Alltags ferngehalten, hatte der dreißigjährige Mensch, wie jenes Weib, Zeit, über so vieles grübelnd nachzusinnen, was einem Bauern, der tüchtig in Feld und Stall zugreift, niemals in den Kopf kommt.

Aber während die »sinnierige« Schwester der Bärbel von sich aus kühn ihre Schlüsse zog, während sie mit beneidenswerter innerlicher Sicherheit entschied und von keinerlei Autoritätsglauben sich beengen ließ, tastete der junge, kranke Bauer voll ewiger Angst an den Rätseln des Lebens und der Welt herum. Er hatte nicht die Fähigkeit, zu glauben, und nicht den Mut, zu verwerfen; er war einer von den Menschen, die mit ihren grübelnden Fragen nie gefährlich, aber unaufhörlich unbequem werden.

Und der große Hans Bürger, der in seinen sämtlichen Examinas selbst rein theologische Fragen mit spielender Leichtigkeit beantwortet hatte, er saß oft an Christians Bett in betrüblicher Hilflosigkeit, und ihm war, als verstünden alle Theologieprofessoren der Welt nicht halb so schwierige Fragen zu stellen, als dieser kranke H–linger Bauer, der erst nicht ein einziges Mal ins rein Abstrakte sich verstieg, sondern allem, was er fragte, einen Bezug gab auf die einfache, schlichte H–linger Welt.

Mehr als ein dutzendmal hatte der Pfarrer, dem jede Art von beschönigendem Geflunker ein Greuel war, ehrlich und offen gestehen müssen: »Christian, das weiß ich nicht.«

Und Christian hatte mit der unerbittlichen Schärfe eines leberkranken Menschen, dazu eines leberkranken H–linger Bauern, darauf geantwortet: »Des mueß e rechter Pfarrer aber wisse.«

Hans Bürgers Nachfolger war ein Pfarrer nach Christians Sinn. Er gab dem Kranken Bescheid, und weil der Kranke nur der Christian war und nicht die Eve-Kätter, so gab er sich zumeist mit dem Bescheid zufrieden, und der neue Pfarrherr war vorsichtig genug, dem Christian nicht allzu oft zu nahe zu kommen.

Hans Bürger aber kam unentwegt. Er hatte ein ungewöhnlich dickes Fell, und was ihm leberkranke Bauern sagten, war dem gutherzigen Riesen von keiner weiteren Bedeutung. Verstand er mit des grübelnden Christian Seele nicht angemessen umzugehen, so verstand er um so besser, für die kranke Leber, den renitenten Magen, die mangelhafte Verdauung zu sorgen. Und was er in dieser Hinsicht leistete, das fand Anerkennung und Dank bei dem schwer zu befriedigenden Kranken.

»Sie hättet solle a barmherzige Schwester werde, Herr Pfarrer,« pflegte anerkennend der Christian zu sagen, und Hans Bürger gab es dann mit Lachen zu.

Heute hatte der junge Bauer seinen schlimmen Tag. Er saß in der niedrigen Stube am offenen Fenster und sah über die Gasse, wo glitzernde Spinnfäden in der Herbstsonne flogen.

Hunderte von Fliegen summten in dem Raum, und eine auf dem Tisch liegen gebliebene Brotrinde bedeckten sie in schwärzlichen Massen.

In dem schmutzigen Rinnsal, das unter den Fenstern hart am Hause vorübersickerte, wühlten die Enten nach Würmern und Schnecken, und mitten auf der staubigen Dorfgasse stritten etliche Gänse laut schnatternd um einen halben Apfel. Hans Bürger trat mit kurzem Gruß zu dem Kranken, dessen gelbes, galliges Gesicht von galliger Laune sprach.

»Wie geht's, Christian?« fragte er freundlich und nahm sich einen Stuhl her. »Tut Euch die neu' Arznei net gut?«

Der Bauer winkte wegwerfend mit der Hand. »Was wird denn mi a Arznei kuriere, wo i doch mei Leide mit uf d' Welt brocht han als a Erbteil von Mutter und Ahne,« sagte er kurz und bitter und schaute am Pfarrer vorüber.

Hans Bürger legte ihm derb die Hand aufs Knie:

»Sag' ich Euch net immer, Ihr sollet net do dra 'rumstudiere, sondern endlich emol tun, was der Doktor sagt! Ist denn dees Christenart, daß nur glei gar kei Courage hot und d' Waffe scho streckt, eh' nur überhaupt kämpft hot?«

»Kämpft hot? Gege wen? – Kämpft hot? Gege was?« gab der junge Bauer zurück. »Derf nur oder kann nur vielleicht gege unsern Herrgott kämpfe, wenn er sait: ›Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied‹.«

In des Kranken Stimme, im Ausdruck seiner flackernden Augen lag eine solche Fülle von dumpfer, bitterer Verzweiflung, daß es dem Pfarrer wie mit Krallen ans Herz griff. Wie oft hatte er diese Kette schon klirren hören, seit er der Herr Pfarrer hieß! Bald klirrte sie lauter, bald leiser, bald hörte nur er sie, bald hörten sie die blödesten Bauernohren. Und hier war einer, der hörte nicht nur das Klirren, dem schnitt die Kette tief ins Fleisch. Wie oft hatte er, Hans Bürger, an der Kette gerüttelt mit priesterlichem Wort, mit priesterlicher Tat, wenn die Gefesselten kamen, bei ihrem Pfarrer Trost zu suchen für das, was sie nach göttlichem Gesetz erdulden mußten. Auf die Zähne hatte er gebissen, jedesmal, denn er kam sich vor wie einer, der wider Gott streitet.

Heute aber fiel ihm plötzlich die Eve-Kätter ein. Die riß sich das Herz nicht wund in marternden Gedanken, die baute ruhig über jeden Abgrund eine Brücke und räumte festerhand die schwersten Steine aus dem Weg.

Hans Bürger zog die Hand von des Bauern Knie. Frei ward ihm ums Herz und priesterlich, wie nie zuvor, und er sagte ruhig: »Christian, du bist kei Jud' und bist kei Heid' und bist kei Türk'. Du bist a Christ, und dich geht gar nix ebbes a, als was der Herr Christus g'sagt und g'lehrt hot. Lies vom Blinde, lies vom Gichtbrüchige, und was die alte Jude angeht, das laß beiseit' und kümmer di nix drum!«

Der Bauer schaute auf, als traue er den Ohren nicht. »Ja, schwätzt denn so a Pfarrer?« sagte er mürrisch nach einer Pause.

»A Pfarrer bin i nemme; aber i sag' deswege kei Wörtle, des gege mei G'wisse ging', Christian,« entgegnete Hans Bürger, und es lag in seinen ehrlichen Augen ein zwingender Ernst, der nicht ohne Eindruck auf den verbitterten Mann blieb.

Langsam fuhr sich der junge Bauer über das spärliche, schlichte Haar; er konnte so schnell nicht in sich verarbeiten, was er eben gehört. Dann seufzte er tief auf. Der hoffnungslos gallige Ausdruck in dem gelben Gesicht minderte sich, und er meinte, auf die schlürfenden Enten, die gierigen Mückenschwärme weisend: »Gucket Se no des Ziefer a, wie do älles Leben hot, wie do älles frißt und druf nei ist! Wenn i no au a einzigs Mol wieder an Hunger hätt', und no a einzigs Mol wieder nach ebbes an G'lust. Aber jede Ent' und jede Muck ist besser dra als i!«

Es war eine Klage voll ergreifender Schlichtheit. Dieser junge Bauer, der die Enten und Mücken in ihrer gierigen Gefräßigkeit beneidete, er rief in Hans Bürger ein heißes Mitleid wach.

Und dann huschte über das bärtige Gesicht ein frohes Leuchten, und mit einem kurzen: »I komm' glei wieder!« verschwand der große Mann hinter der niedrigen Tür. Den Weg zur verräucherten Küche, wo das Kaminschoß tief über den Herd hing, kannte Hans Bürger ganz genau, und ebenso genau die schmutzige Magd, die da handierte.

»Dorle, gib Butter her und a saubere Pfann',« kommandierte er, und mit tiefgebeugtem Rücken, geschäftigen Händen und strahlendem Antlitz bereitete der Theologe ein Gericht Pilze, das ihm geeignet schien, dem Neid des Kranken auf Enten und Mücken den Boden zu entziehen.

Die Magd sah zu, stumpfsinnig und wortlos. Nur als sie den großen Koch eine irdene Platte eigenhändig ausspülen sah, da schüttelte sie den dicken Kopf und murmelte verächtlich: »Dees will a Pfarrer sei, a G'studierter, und spült selber!«

Die kleine Schüssel in seinen großen Händen, trug Hans Bürger das Machwerk hinein. Er ging so behutsam, als trüge er einen großen Schatz, und mit einem fast kindlichen Ausdruck von Stolz und Freude hielt er dem Kranken das kräftig und appetitlich duftende Gericht unter die Nase.

Und des Pfarrers Mühe wurde reich belohnt. Immer wieder füllte Christian den Löffel. Er sprach gar nichts – der richtige Bauer spricht nicht beim Essen – er langte nur immer zu, langsam, fast feierlich. Auch gebetet hatte er nicht; aber Hans Bürger saß daneben, und er hatte die Hände gefaltet. Vielleicht machte er's im stillen gut, des Bauern Versäumnis.

Eine Mücke fiel dem Christian ins Essen. Er fischte sie heraus mit kurzem Lachen: »Friß du Brot,« meinte er, »dees do ischt für mi!«

»Gelt,« sagte der Pfarrer, »jetzt hent Ihr kein Neid meh auf d' Mucke?«

»Daß mer's Gott verzeih, 's ist a sündhaft's G'schwätz g'we!« gab Christian kurz zu und aß weiter.

Es war lang über Mittag, als Hans Bürger seiner Haustür und seinem rosenfarbenen Plakat nahe kam. Die Ernstine würde sicher schimpfen; aber er, Hans Bürger, noch viel sicherer. Er war ein freier Mann, ein Herr seiner Zeit, ein Herr auch seines Mundwerks. Und wenn's heute zehnmal Samstag war – er hatte ja keine Predigt zu machen.

Ein kleines Mädchen mit frischem, schmutzbesudeltem Gesichtchen hielt ihn noch an: »Herr Pfarrer, leimet Se mer doch bald mein Dockekopf na!«

»Heut' Obed derfst se hole, Lisebethle!«

Über die Gasse schrie ein Weib: »Ist mei Tee bald g'richtet?«

»Nächste Woch', Nachbare!«

»Herr Pfarrer, hent Se mei Gerste anguckt?« fragte aus dem Scheunentor ein Alter mit der Pfeife im Mund.

»Be no net dazukomme, aber morge g'wiß.«

»Hent Se doch au mei Uhr net vergesse?«

»Nei, Frieder, nächste Woch' mach' i se sicher, i han no zwei andere daheim.«

Hans Bürger eilte davon mit langen Schritten. Kein Mensch auf Gottes Erdboden hatte mehr Ämter als er, der ohne Amt war, und kein Mensch fühlte sich mehr am rechten Platze, als er, der seinen Beruf verfehlt hatte.


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